Die Pocken 1962

Steffen Kopetzky erzählt in seinem Roman „Monschau“ von einem Jahr der Katastrophen und der Übergänge

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum zweiten Mal lässt Steffen Kopetzky einen Roman in der Nordeifel spielen. War es im Kriegsroman Propaganda die Schlacht im Hürtgenwald, die in die deutsch-belgische Grenzregion führte, ist es diesmal der Kampf gegen einen Pocken-Ausbruch im idyllischen Städtchen Monschau im Jahr 1962.

Kopetzky-Leser:innen begegnen einer Figur wieder, die bereits im Vorgänger-Roman als positiver Held auftauchte und die eine reale Person zum Vorbild hat: den Arzt Günter Stüttgen. Im Hürtgenwald hatte Stüttgen als junger Sanitätsarzt während eines Waffenstillstands sowohl deutsche als auch amerikanische verwundete Soldaten behandelt. Nach Monschau wird der Dermatologe siebzehn Jahre nach Kriegsende gerufen, weil er als Experte für eine Infektionskrankheit gilt, die durch das Variola-Virus hervorgerufen wird: die Pocken.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren die Pocken die gefährlichste Infektionskrankheit Europas, hochansteckend, mit hoher Todesrate. 10 Prozent der Kleinkinder starben daran. Die es überlebten, blieben häufig ihr Leben lang durch die Narben gezeichnet. Im Roman wird mehrfach auf den Dichter Goethe verwiesen, der als Kind ebenfalls erkrankte. Als um 1800 eine Impfung entwickelt wurde, wurden die Ausbrüche zwar schwächer, konnten aber wegen der zunächst geringen Impfbereitschaft erst im 20. Jahrhundert wirklich eingedämmt werden. Seit 1980 gelten die Pocken weltweit als ausgerottet.

Als Günter Stüttgen im Januar 1962 nach Monschau gerufen wird, sind die Kenntnisse unter deutschen Ärzten bereits verblasst und gefährlich spät wird die Erkrankung eines Mädchens, später “Patientin 2” genannt, diagnostiziert. Sie ist die Tochter eines aus Indien zurückgekehrten Monteurs der bei Monschau ansässigen Firma Junker (im Roman Rither-Werke genannt). Der Vater hatte sich offensichtlich in Indien infiziert, wo es zu dieser Zeit noch vereinzelte Pockenherde gab. Die im Roman geschilderten Ereignisse sind weitgehend historisch. Dank des tatkräftigen und restriktiven Vorgehens von Dr. Stüttgen und seinem Team, strenger Isolation von Krankenhaus und Landkreis, penibler Nachverfolgung von Infektionen und Kontakten plus einer massiven Impfkampagne waren am Ende nur zwei Tote zu beklagen.

Wahrscheinlich ist dieser Pocken-Ausbruch heute selbst in der Eifel kaum bekannt, weil die Opferzahl so niedrig blieb. Wahrscheinlicher noch ist, dass dieses Ereignis von anderen, katastrophaleren Ereignissen überdeckt wurde. Etwa zur selben Zeit, im Februar 1962, erreichte eine Sturmflut Norddeutschland, die in Hamburg mehr als 300 Tote forderte. Im Jahr zuvor hatte der Contergan-Skandal Deutschland in Schrecken versetzt. Obwohl 1961 der Zusammenhang zwischen dem Medikament einer Stolberger Firma und den Missbildungen bei Neugeborenen entdeckt worden war, wurde dasselbe Medikament unter anderem Namen noch 1962 in Großbritannien vertrieben. Die Gesundheitsämter der Länder waren noch kaum vernetzt.

Das Jahr 1962 gerät als Katastrophenjahr in den Blick. Im Laufe dieses Jahres wird sich noch zeigen, wie berechtigt die Angst vor dem atomaren Wettrüsten ist. Nur knapp wird ein Dritter Weltkrieg verhindert. Wie immer fördern Kopetzkys Recherchen wenig bekannte Fakten und ungewohnte Blickwinkel zutage. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, wie die Katastrophen verhindert bzw. bewältigt werden. Analytisch denkende und mutig handelnde Personen spielen in seinen Romanen stets eine herausragende Rolle. Wer weiß heute schon, was in Hamburg alles schief lief, bevor der entschlossene Innensenator Helmut Schmidt die rettenden Entscheidungen traf? Dass zum Beispiel der verantwortliche Redakteur des Ersten Deutschen Fernsehens die beliebte Fernsehserie Die Hesselbachs nicht für eine Sturmwarnung unterbrechen wollte. Auch als die Pocken wenige Wochen zuvor in der Eifel ankommen, sind die Phantasien der meisten Deutschen mit einem Fernsehkrimi beschäftigt. Das Halstuch verschafft dem WDR einen Marktanteil von 89 Prozent.

Der Roman wirft Schlaglichter auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre. Es wird eine Übergangszeit sichtbar, zwischen Fortschrittsglauben einerseits und Untergangsszenarien andererseits, voller Aufbruchsstimmung in eine neue Zukunft, während ehemalige Nationalsozialisten wieder in verantwortlichen Positionen sitzen. Nicht nur die lokalen Fabrikherren, auch alte Wehrmachtsverbindungen agieren als Gegenspieler von Günter Stüttgen im Roman.

Das Städtchen Monschau wird als globales Dorf vorgestellt, trotz oder gerade wegen seiner Rand-/Grenzlage von Internationalität geprägt. Mons loci nannten die Römer die Siedlung. Zur Zeit Napoleons gehörte die Stadt zu Frankreich und hieß Montjoie. Aus diesem Namen wurde germanisiert Monschau. Einzelne prächtige Bauten erinnern an den europaweiten Ruhm als Tuchmacherstadt, deren Stoffe einst bis nach St. Petersburg an den Hof des Zaren gehandelt wurden. Da ist es nicht erstaunlich, dass sich der Assistent von Stüttgen, ein junger aus Griechenland stammender Mediziner hier wohlzufühlen beginnt. Gleichzeitig sind in ihm noch die Erzählungen über den kretischen Widerstand gegen die deutsche Wehrmacht lebendig. 

Ein besonders gelungenes Kapitel lässt den jungen Migranten zum rheinischen Karneval nach Düren fahren, wo sich das Virus – eine der zahlreichen Parallelen zur heutigen Corona-Epidemie – auszubreiten droht. Der Karneval wird in seiner janusköpfigen Gestalt dargestellt: anziehend mit all seiner ausgelassenen Sinnlichkeit und Anarchie, abstoßend mit seiner untergründigen Aggression, die jederzeit in Übergriffen oder Prügeleien ausbrechen kann. Fasziniert und alarmiert zugleich denkt Nikos über den Zusammenhang von Zerstörung und eruptiver Energie nach. Düren war nach dem Zweiten Weltkrieg die am stärksten zerstörte Stadt Deutschlands.

Anders als in den Vorgänger-Romanen verzichtet Kopetzky trotz der vielfältigen Blickwinkel auf das Einziehen allzu vieler zusätzlicher Erzählebenen. Das führt zu leichter Lesbarkeit und ist wohl auch ein Tribut an den Markt, der diesen Stoff noch zur rechten Zeit bekommen sollte. Vergleichsweise kurz und komprimiert sind die Kapitel und eher kaleidoskopartig aneinandergereiht. Verbindungslinien werden durch die Handlung um die Pockenbekämpfung und – nicht zuletzt – über eine Liebesgeschichte geschaffen.

Der Autor beherrscht bekanntermaßen viele Genres, vom Abenteuer- über den Historien- bis zum Gesellschaftsroman. Der Liebesroman gelingt ihm noch nicht so recht. Nikos verliebt sich in Vera, die Fabrikantentochter. Vera ist am materiellen Erbe wenig interessiert, dafür mehr am Studium in Paris, an Jazz und an den Schriften Simone de Beauvoirs. Die emanzipierte Erbin und der aufstrebende Migrant stehen beispielhaft für die gesellschaftliche Aufbruchsstimmung in der Nachkriegsgeneration. Die Liebe der beiden könnte überzeugender entwickelt werden. Eine geteilte Passion für Miles Davis oder Nikos´ Sorge um Veras makellose Haut angesichts der drohenden Pocken machen nicht wirklich plausibel, warum Nikos bereits nach der ersten Begegnung von gemeinsamen Enkelkindern träumt. Der Liebesgeschichte haftet etwas Kolportageartiges an.

Insgesamt aber ist dies wieder ein kurzweiliger und anregender Roman von Steffen Kopetzky, voller überraschender historischer Details und klug vernetzter Recherchen. Das Buch dürfte dank seines überaus aktuellen Themas nicht nur in der Region um Monschau ein breites Publikum finden.

Titelbild

Steffen Kopetzky: Monschau.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737101124

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