Epochenbruch oder Atempause?

Michel Friedman und Harald Welzer philosophieren in „Zeitenwende“ über die Zukunft der Demokratie

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Buches lässt Antworten auf einige dringende Fragen unserer Zeit erwarten. Diese werden zwar von den beiden Universitätsprofessoren Michel Friedman und Harald Welzer aufgegriffen, aber nur selten entsteht eine echte Diskussion. Denn an den meisten Stellen sind sich die beiden Autoren in ihrer Argumentation einig, sodass der Stil des Buches  Besprechungscharakter hat.

Das Buch, das zu Beginn der Corona-Krise verfasst wurde und neben den virologischen Fragen der Pandemie ihre sozialen, politischen und kulturellen Folgen aufgreifen will, verbleibt somit trotz aller Fachlichkeit und Expertise der Autoren des Öfteren an der Oberfläche. Zum Beispiel wird die gestörte Kommunikation zwischen den Generationen infolge des mangelnden Aufarbeitungsprozesses der nationalsozialistischen Geschichte zwar gut analysiert, aber in seinen Auswirkungen auf die heutige Zeit dann doch nur andiskutiert. Eine Lösung zu allen Fragen der Zeit wäre auch nicht zu erwarten gewesen, wohl aber eine größere Idee dessen, wie unsere Gesellschaft den aktuellen Herausforderungen besser gerecht werden könnte.

Doch anstatt Gedanken auszudiskutieren, erfolgt ein zeitweise etwas wild anmutender Ritt durch Themen wie Rechtsextremismus, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, Terrorismus, soziale Ungleichheit, Klimawandel und schließlich die Corona-Pandemie. Den Autoren kann zugutegehalten werden, dass sie früher als die meisten erkannt haben und auch analysieren, dass Corona nicht nur eine Pandemie ist, sondern langfristige gesellschaftliche Auswirkungen nach sich ziehen wird. Aber die Aufgabe, die sich die beiden hier gestellt haben, scheint ein wenig zu groß für das, was das Buch tatsächlich zu leisten vermag.

Somit können die Autoren zwar einige wertvolle Ansätze aufzeigen, aber es gelingt Friedman und Welzer ebenso wenig wie der politischen Ebene, Konzepte und Lösungen für die anstehenden Herausforderungen anzubieten. Sie versuchen, Ursachen zu benennen und zu analysieren, doch der Leser hat zu oft das Gefühl, dass er all das schon gehört hätte. Sie versäumen es, die Dinge lesergerecht zu formulieren und bringen sie selten auf den Punkt.

An einigen Stellen, an denen sie ihre eigene Biografie mit einbauen und diese ernsthaft sowie authentisch besprechen, springt der Funke zum Leser doch über. Wenn Michel Friedman über seine Kindheitserfahrungen berichtet und die Auswirkungen des Antisemitismus im täglichen Leben darstellt, kann der Leser erfassen, welches Ansinnen mit dem Buch verfolgt wurde. Wenn die beiden ihren Diskurs über die Ereignisse von Hanau führen, macht dies nicht nur nachdenklich, sondern auch betroffen. Friedman stellt den Fußball an den Pranger, da in den Stadien der Judenhass nach wie vor verbal ausgelebt wird und klagt zugleich die Zuschauer an, die in dessen Schatten „taub, blind, stumm“ verbleiben. Hingegen äußern sich beide zu den Auswirkungen unserer Twitter-geprägten Ein-Wort-Welt nur am Rande, auch wenn sie die Zeitenwende, wie wir sie durchleben, in extremistischen Kommunikationskonzepten zu erkennen glauben.

Während Friedman die individualpsychologische Perspektive verfolgt und dabei – abgesehen von den erwähnten Themen – meist abstrakt bleibt, nähert sich Welzer den Dingen aus sozialpsychologischer Sicht. Er findet hierzu einige passende Beispiele, die vielen noch in Erinnerung sein dürften, wie David Hasselhoffs legendärer Auftritt bei Markus Lanz. Der Schlagersänger brachte seinerzeit Christian Lindner in eine missliche Lage, indem er dem Politiker – von diesem scheinbar unerwartet – als informierter und intelligenter Mitdiskutant begegnete. Diese Rolle befand sich so weit abseits eines vordefinierten Rahmens, dass der sonst rhetorisch meist geschickt agierende Politiker in der Talkshow „plötzlich völlig hilflos ist und überhaupt nicht mehr agieren kann“. Das stellt keine Kritik an Christian Lindner dar, sondern vielleicht die Analyse der heutigen Politikergeneration, die innerhalb ihres bekannten Framings souverän auftreten kann, aber außerhalb dessen – wie die Corona-Politik belegt – ohne Handlungsideen allzu oft im Nebel zu stochern scheint.

Die gegen Ende des Buches getroffene Einordnung, dass wir eigentlich „eine Ausgangsbasis zur weiteren Zivilisierung haben, die absolut großartig ist“, könnte Hoffnung machen, aber auch als Schönmalerei eingeordnet werden. An dieser Stelle wirkt der Satz heilsam und zeigt, dass die beiden Autoren durchaus auch eine Perspektive in der Entwicklung unseres Landes sehen.

Das Buch richtet sich vor allem an politisch Interessierte, die hier auch eine Reihe weiterer Literaturempfehlungen erhalten und die Theorien der beiden Intellektuellen einzuordnen wissen. Für eine breitere Masse mangelt es jedoch an einer präziseren Formulierung der identifizierten Probleme und echten Handlungsempfehlungen.   

 

Titelbild

Harald Welzer / Michel Friedman: Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462000894

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