Ein disharmonisches Sextett

Max Küng schildert in „Fremde Freunde“ mit giftiger Ironie, wie Fremde im Urlaub nicht zu Freunden werden

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Saint-Jacques-aux-Bois im Nordosten Frankreichs ist laut Wikipedia ein schönes Dorf zwischen den Städten Pierre und Compiègne. Vor 50 Jahren hatte es über 1.000 Einwohner, heute nicht einmal 500. In dieses Kaff zieht, wie uns der Roman verrät, kein Mensch, weil es hier kaum Arbeit gibt. 

Jean und Jacqueline aus der Schweiz haben hier ein sehr altes Ferienhaus gekauft, das von einem Bekannten nach Ehescheidung günstig zu haben war. Nun können sie spontan ins Auto steigen und in die Ferien fahren. Die beiden, knapp vor oder nach dem 50. Lebensjahr, sind stolz auf ihr „Second-Haus“. Diesmal haben sie Gäste eingeladen, zwei Paare, die sie nur von Elternabenden kennen. Bernhard und Veronika plus Sohn kommen früher als erwartet, Filipp und Salome plus Sohn später, weil zu Hause etwas vergessen wurde.

Attraktiv findet man einander nicht, sodass mit Seitensprüngen kaum zu rechnen ist. Mit einer Ausnahme: Jean ist von Veronikas knackigem Hintern fasziniert. Er heißt eigentlich Hans und ärgert sich, dass die frankophilen Eltern ihm einen Vornamen gaben, den die Franzosen nicht aussprechen können. Als Teenager machte er aus dem Hans den Jean.

Schon bald ist von einem Tellereisen die Rede, das wie ein gewaltiges rostiges Haifischgebiss im Salon über dem Kamin hängt. Man denkt sogleich an Anton Tschechows Ausspruch, dass ein am Anfang erwähntes Gewehr am Ende abgefeuert werden muss.

Weil die sechs Erwachsenen einander noch nicht gut kennen, macht sich der massiv gebaute Jean in der Küche zu schaffen und hofft, dass Geschmortes die Menschen eint. Tatsächlich wird die Konversation beim Essen und Trinken lebhafter. Insgesamt bilden die Protagonisten ein disharmonisches Sextett; lediglich beim Paar Jean und Jacqueline herrscht zuweilen Gleichklang.

Von Hintergedanken der Gastgeber erfährt man, weil Jacqueline sich freut, dass die Gäste „den Köder geschluckt“ haben. Später wird klar, worum es geht: Die Werbeagentur der beiden läuft nicht gut, das Geld wird knapp – es wäre eine Hilfe, wenn sich die Gäste am Haus beteiligten.

Diese Hoffnung ist auf Sand gebaut. Der Sängerin Salome, die den anderen mit vehementen Stimmübungen auf die Nerven geht, gefällt das Haus in einer Gegend, die „nur eine leichte Verschiebung des Gewohnten“ ist. Doch beteiligen könnte sich das unverheiratete Paar nur dank einer Geldspritze von Salomes reichen Eltern. Kein gutes Thema für ein Gespräch mit dem attraktiven Schauspieler Filipp. Er darf deren Anwesen in der Toskana nicht mehr betreten, seitdem er im Suff ein Hakenkreuz in einen Tisch geritzt hat. Übrigens hält er Salome, was die nicht ahnt, für eine blöde Kuh. In der Nähe eines Supermarkts starrt ein ungepflegter Mann zu den beiden herüber. Muss man sich ihn merken wie das Tellereisen?

Um die Beziehung des anderen Paars steht es nicht besser. Die Grafikerin Veronika und der Zahnarzt Bernhard haben ihre Ehe verbockt, und Bernhard bringt seine Frau mit konsequenter Anti-Haltung zur Weißglut. Das wird zunächst verschwiegen – so wie Veronikas Abscheu vor dem Ferienhaus.

Am vorletzten Abend geschieht Gegensätzliches: Filipp macht Salome einen Heiratsantrag, freilich ohne zu erwähnen, dass ihm sein Anwalt dazu geraten hat, damit er nicht leer ausgeht, sobald Salome erbt. Bernhard und Veronika aber verkünden, dass sie sich trennen werden.

All dies verblasst am letzten Ferientag. Es hat vorher schon allerlei Ärgernisse gegeben: ein zerkratztes Auto, eine tote Ratte, zwei verschwundene Hasen. Der Leser überlegte hin und her, wer hier wem schlimme Streiche spielt.

Nun erklingt mitten in der Nacht laute Musik vom Plattenspieler. Dann fliegen Steine durch splitternde Fenster und poltern gegen Fensterläden. Hilfe kann nicht telefonisch herbeigerufen werden, denn alle Handys, die man in einer Aktion mit der hochtrabenden Bezeichnung „Digital Detoxing“ in einem Schrank verstaut hat, sind verschwunden. Nun kommt das Tellereisen ins Spiel; es wird im Keller als Falle aufgebaut.

Das ist zwar aufregend, aber eine Antiklimax: Alle Protagonisten haben einander im Blick, also muss der Störenfried jemand von außen sein. Tatsächlich präsentiert der Autor einen „Diabolus ex Machina“, als literarische Konstruktion so gewollt wie der „Deus ex Machina“ anderswo. Alle spannungsfördernden Vermutungen des Lesers werden konterkariert, und dass es der Alte vom Supermarkt ist, dessen Unterschenkel verdreht im Tellereisen steckt, macht die Sache nicht besser. Über sein Motiv für die Attacken sei der Mantel des Schweigens gebreitet.

Zwischendurch war man beeindruckt von der giftigen Ironie und der unerbittlichen Genauigkeit, mit der Max Küng die lieblosen Gäste und die sich verplanenden Gastgeber schildert. Das Lachen blieb einem im Halse stecken, wenn die Leute ihren armseligen Egoismus hinter großen Worten versteckten. Die drei Söhne waren nur Beiwerk.

Den Titel Fremde Freunde gab es schon mindestens zweimal auf dem deutschen Büchermarkt: Wulf Schmiese befasste sich 2000 mit dem Verhältnis zwischen Deutschland und den USA, Katja Gloger 2017 mit dem zwischen Deutschen und Russen.

Titelbild

Max Küng: Fremde Freunde.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
500 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958385

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