Fakt und Form

Alexander Honold und Grit Schwarzkopf setzen in „Medizin“ Schlaglichter auf das weite Feld medizinischer Nonfiktion

Von Katharina FürholzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Fürholzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der Vielfalt medizinischer Genres wie auch des Umfangs, fast schon Ausmaßes, des hierbei beständig wachsenden Materials ist eine sowohl in die Tiefe als auch Breite gehende Analyse und Interpretation medizinischer Nonfiktion als eine zentrale Aufgabe für die inzwischen auch im deutschsprachigen Raum etablierte Forschung zu Literatur und Medizin zu verstehen. Mit dem von Alexander Honold und Grit Schwarzkopf edierten Sammelband Medizin (2019) wird diese Herkulesaufgabe ein Stück weit in Angriff genommen. Das Buch umfasst zentrale Stimmen des Forschungsfelds, sowohl – wenn man eine, die Realität ja nie ganz abbildende, disziplinäre Einordnung vornehmen möchte – aus der Literaturwissenschaft (Horst-Jürgen Gerigk, Alexander Honold, Katrin Max, Karin Tebben, Liliane Weissberg), der Medizin und Medizingeschichte (Brigitte Boothe, Wolfgang U. Eckart) sowie dezidierten Schnittstellenbereichen (Martina King, Grit Schwarzkopf).

Unterteilt in zwei Abschnitte ist der Sammelband zunächst Unterformen der Krankengeschichte vom 18. bis 21. Jahrhundert gewidmet. Mal aus geistesgeschichtlicher, mal aus anthropologischer, mal aus methodologisch orientierter Perspektive liegt der Fokus dabei auf Selbstzeugnissen Betroffener, wobei neben Erzählungen von Patient*innen auch Schriften von Ärzt*innen und Pflegenden mitzudenken sind. Im zweiten Abschnitt steht sodann die Medizinpublizistik vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart im Vordergrund, und damit Textformen, die vorrangig der Repräsentation medizinischen Wissens und Denkens dienen; der Blick der Autor*innen gilt hier medizinischen Zeitschriften, populärwissenschaftlicher Sachbuchliteratur, filmischen Dokufiktionen sowie Schmähschriften.

Obgleich alle Beiträge auf je eigene Weise aufschlussreiche Einblicke in das Feld der medizinischen Nonfiktion geben, seien im Folgenden zumindest schlaglichtartig drei Aufsätze herausgestellt, deren Auswahl schlicht persönlicher Faszination geschuldet ist. Brigitte Boothes Historiographie der Krankengeschichte ist einer jener Beiträge des Bandes, die scharf zu Bewusstsein führen, weshalb es nicht (länger) reicht, Literatur und Medizin auf klassische textuelle Formen zu beschränken: So macht Boothe unter anderem deutlich, in welcher Weise illness narratives auch als – medizinisch wie soziokulturell verortete – Diskursnarrative zu denken sind:

Da ist das – aktuell nicht modische – Narrativ der Hysterikerin mit ihren verdrängten Liebeswünschen, der infantilen Bindung an begehrte Elternobjekte. Da ist das Narzissmus-Narrativ mit der notorischen Bindungsunfähigkeit einer Person, die kalt und kalkulierend nach Erfolg, Anerkennung und Souveränität verlangt, im Gefolge emotionaler Vernachlässigung im Kindesalter. Da ist das Borderline-Narrativ, das Individuen darstellt, die in destruktiven und sexualisierten familiären Milieus aufwachsen und als Jugendliche und Erwachsene nur über unzureichende Spannungs-, Impuls- und Emotionsregulierungen verfügen. Da ist das Depressionsnarrativ mit der unbewältigten Verlusterfahrung, der inneren Bindung ans Verlorene und dem systematischen Schwinden von Zuversicht und Lebensbejahung.

Wie Boothe hervorhebt, bringen solche Diskursnarrative des Kranken nicht zuletzt die Herausforderung mit sich, in ihnen verborgene, potenziell klischierende und schematisierende Implikationen zu reflektierten.

Wie auch bei Liliane Weissberg deutlich wird, vermag die Auseinandersetzung mit Formen medizinischer Nonfiktion so nicht zuletzt zu Bewusstsein führen, weshalb ein auf klassische Textkonzeptionen reduzierter Blick schnell zu enggestellt sein kann. Verweisend auf das Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und medizinischer Wissensgenese zeichnet Weissberg in diesem Zusammenhang nach, welche Rolle Körperlichkeit nicht nur in Bezug auf Patient*innen, sondern auch für die beobachtende Ärzt*innen- und Forschungsgemeinde spielt. Gegenstand ihrer Argumentation ist die Entwicklung der psychoanalytisch-kasuistischen Arbeit Sigmund Freuds: Beeinflusst durch Charcot war Freuds Arbeit zunächst, so Weissberg, durch visuelle Medien und Betrachtungen bestimmt. „Kranke Körper wurden durch die Hypnose beruhigt und durch die Fotografie stillgestellt. Bei Charcot siegte das Auge über die Zeit. Blickte Freud während seiner neurologischen Übungen in Wien ins Mikroskop, so konnte er bei Charcot Gesichter und Körper lesen lernen, sowohl bei der Betrachtung von Körpern wie auch fotografischer Bilder.“ Durch die mit Josef Breuer verantwortete Behandlung der Anna O. (Bertha Pappenheim) und die dabei festgestellten therapeutischen Effekte frei assoziierenden Ab-Erzählens („talking cure“) verloren Fragen des Blicks für Freud jedoch zunehmend an Bedeutung – nun war es die Sprache beziehungsweise genauer: das Hören, das zum physischen Kern seiner psychoanalytischen Arbeit wurde. Auge und Ohr werden so zu Symbolen der Spaltung Freuds von Charcot: „Der Paradigmenwechsel vom Bild zur Sprache war grundlegend. Charcot berief sich klassifizierend auf das zu betrachtende Bild; Freud berief sich nun therapierend auf die Sprache und den Prozess der freien Assoziation.“ Mit dieser Neuorientierung auf die Sprache wurde zugleich eine neue Sensibilität für Zeitlichkeit im Krankheitsraum gestärkt. Denn wurden die Hysterikerinnen bei Charcot durch die Fotografie „stillgelegt“, wird Krankheit durch die Übertragung in Text als zeitlicher Prozess verstehbar. Am Ende, konstatiert Weissberg, kann Freud dem Bild jedoch nie gänzlich entkommen: „Die Fotografie des Körpers der Kranken wird letztendlich durch das schriftliche Zitat des Traumes ersetzt, das sich in die Fallstudie einschiebt, gedeutet werden will, aber dem Auge immer noch fremd erscheint und erscheinen muss.“

Dass nicht nur fiktionale Literatur, sondern auch der Kommunikationsbereich medizinischer Nonfiktion nicht frei ist von mehr oder weniger stark ausgeprägter Empfindsamkeit, verdeutlicht Martina Kings umfangreiche Studie ärztlicher Selbstbeschreibungen um 1800, eine Zeit, für welche King eine „Emotionalisierung der ärztlichen Praxis“ diagnostiziert. So geraten „[d]ie Repräsentationsformen der praktischen Heilkunde um 1800 […] mit Blick auf Rollenentwürfe und Arzt-Patienten-Konstellationen ganz offensichtlich in den Sog eines populären, literarischen Subjektivitätskultes. Ärztliche Selbstinszenierungen reichen vom topischen Vokabular der Gefühle bis hin zur Ästhetisierung und Genialisierung einer kontingenten Praxis, die ohne verbindliche Regeln und Wissensfundamente auskommen muss.“ Wie King in einer eingehenden Analyse narrativer Strukturen des von ihr untersuchten Materials darlegt, sind medizinische Fallgeschichte und Romanstruktur dabei enger verbunden, als man vielleicht meinen würde: So scheinen sich

klinische Kasuistiken um 1800 viel eher an literarischen Mustern zu orientieren anstatt stringent einer etwaigen medikalen Darstellungslogik zu folgen; und zwar an solchen Mustern zwischen Faktualität und Fiktionalität, die in der zeitgenössischen Romantheorie höchste Aufmerksamkeit genießen. […] Entwickelt sich also der Roman in Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Anthropologie und Psychopathologie, so ist umgekehrt und erstmalig zu konstatieren, dass sich auch die zeitgenössische medizinische Aufzeichnungspraxis, vor allem die literaturwissenschaftlich notorisch unterprivilegierte Fallgeschichte des kranken Körpers offensichtlich in enger Auseinandersetzung mit der Erzählprosa der Epoche entwickelt.

Nicht minder, jedoch unkommentiert zur Lektüre empfohlen seien die restlichen Beiträge des Bandes: Horst-Jürgen Gerigks Gegenüberstellung von Pathographie und Poetologie am Beispiel August Strindbergs; Wolfgang U. Eckarts Studie medizinischer Zeitschrifteneditorials Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, die als Kommunikation wissenschaftlicher klinischer Medizin in die Praxis zugleich einem zunehmenden professionellen und gesellschaftlichen Aufstieg von Ärzten (mit Blick auf die damalige Zeit sei an dieser Stelle auf ein Gendersternchen verzichtet) Ausdruck verleihen; Alexander Honolds anhand von Giulia Enders‘ Bestseller Darm mit Charme (2014) skizzierte Architextur des gegenwärtigen medizinischen Sachbuchs; Katrin Max‘ diachrone Aufflechtung der in filmischen Dokufiktionen – Robert Koch, der Bekämpfer des Todes (1939), Berühmte Ärzte der Charité (1981-1983), Charité (2017) – feststellbaren Engführung von historischen Fakten und fiktiven Elementen und einer damit verbundenen Hinterfragung „des Wahrheitswerts von Fakten und Dokumenten in ihrem Wirklichkeitsbezug für die Kunst“ und Katrin Tebbens kulturkritischer Kommentar zu Max Nordaus Streitschrift Entartung (1892/93; 2013 von Tebben in neuer Ausgabe herausgegeben), in welchem die Autorin begründet, weshalb Nordaus „Begriff der Entartung […] definitiv weder rassentheoretisch begründet noch national ausgerichtet“ ist.

In Honolds und Schwarzkopfs Sammelband finden sich so zum einen neu orientierte Tiefenbohrungen zu Genres, zu welchen, wie etwa im Falle der Kasuistik, bereits ein umfassender Forschungsstand vorhanden ist, zum anderen wird auch für Formen sensibilisiert, welche bislang eher in der Peripherie des wissenschaftlichen Blicks lagen (man denke hier etwa an medizinische Zeitschrifteneditorials, wodurch zugleich die Notwendigkeit grundlegender Anschlussforschung bewusst gemacht wird. Den großen Gewinn, den der Sammelband für die an Korrelationen zwischen medizinischen und literarischen bzw. textuellen Formen interessierte Forschungsgemeinschaft mit sich bringt, ist somit sicherlich nicht zuletzt darin zu sehen, dass die Beiträge sowohl die enorme Bandbreite nonfiktionaler medizinischer Schriften als auch, damit einhergehend, das Gefälle ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Erschließung verdeutlichen. Der Band lässt sich somit als ein grundlegender Spatenstich in das noch in zu weiten Teilen brach liegende Feld nonfiktionaler Medizin verstehen.

Titelbild

Alexander Honold / Grit Schwarzkopf (Hg.): Medizin.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2019.
184 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783865257239

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