Sterben lernen auf Probe

Fabian Neidhardt gelingt mit „Immer noch wach“ ein achtbares Romandebüt.

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hypochondrisch veranlagten Leuten oder solchen, deren Achillesverse der Magen ist, sei von der Lektüre von Immer noch wach abgeraten. Dies in dem Bewusstsein, sie damit, so sie denn dieser Empfehlung folgen, um das Kennenlernen eines talentierten, sprachbewussten jungen Autors zu bringen, der nicht nur etwas zu erzählen hat, sondern auch zu erzählen vermag.

Stichwort „Empfehlung“: Denen mag der Alex genannte Ich-Erzähler Alexander Fink nicht folgen, solchen zumindest nicht, die von seinem Arzt Doktor Münchenberg und weiteren Ärzten wiederholt und mit Nachdruck ausgesprochen werden: Er solle sich helfen lassen, solle die – palliativen – Möglichkeiten wahrnehmen, die die Medizin bereithalte.

Alexander Fink, 30 Jahre alt, ist nämlich quasi über Nacht an einer unheilbaren Form von Magenkrebs erkrankt, und seine Lebenserwartung beträgt nur noch wenige Monate. Dabei hat er erst vor einem Jahr eine Lebenszäsur gesetzt, indem er seinen Job als BWLer aufgegeben und zusammen mit seinem mindestens ebenso mutigen Freund Bene aus Sandkastentagen – „Ich habe keine Erinnerung an ein Leben ohne Bene“ – und seiner Lebensliebe Lisa ein Szene-Café mit Namen „Türrahmen“ eröffnet hat. Und nun dies! Inständig, d.h. sachlich, einfühlsam, traurig, zornig, verzweifelt und dergleichen mehr, bitten auch die ebenfalls tief miteinander verbandelten Bene und Lisa Alex darum, auf die ärztlichen Empfehlungen zu hören und auch darum, ihn in seinen letzten Lebensmonaten begleiten zu dürfen.

Doch vergeblich: Alex hat nicht nur beschlossen, sich keinerlei Behandlung zu unterziehen, er hat auch entschieden, diese letzten Monate ohne sein vertrautes Umfeld zu durchleben und sich in ein hunderte Kilometer entferntes, weder der Gefährtin noch dem Freund noch sonst wem bekanntes Hospiz zu begeben und dort quasi alleine dahinzusiechen und zu sterben – selbst sein Handy lässt er zurück. Diese ungewöhnliche Entscheidung liegt in Alex‘ Familienbiographie begründet. Als gerade einmal Siebenjähriger hat er seinen Vater elendig und auf entwürdigende Art und Weise an Magenkrebs sterben sehen, gut zehn Jahre später ist dann auch seine darob untröstliche Mutter aufgrund eines weiteren existentiellen Dramas plötzlich an einem Herzinfarkt, an „gebrochenem Herzen“, verstorben.

Hat ihm in diesen Situationen auch immer der insgesamt deutlich lebenstüchtigere, optimistischere und entscheidungsfreudigere Bene herzensbrüderlich zur Seite gestanden, hat dies doch nicht verhindern können, dass Alex gewisse Schäden davongetragen hat. Die Familiengeschichte hat sich in ihm als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung eingenistet, was u.a. dazu führt, dass er sich letztendlich nicht ‚fallen lassen‘ kann. So ist er denn ein Mensch geworden, „der es selbst nicht leicht hatte, aber es anderen leicht machen wollte.“ Aus seiner Perspektive: Er will Lisa und Bene den Anblick seines Siechtums und seines Sterbens ersparen, will sie, gegen deren entschiedenen doch vergeblichen Widerstand, schonen.

Nach anfangs deprimiert dahingelebten, bald aber am Motto des Hospiz‘ „Den letzten Tagen Leben geben“ orientierten Monaten im Hospiz mit einer ganzen Reihe von prägenden Begegnungen folgt dann kurz nach der Romanmitte jene „unerhörte Begebenheit“, die aus dem Roman, vielleicht zum Vorteil des Textes (s.u.), eine dann auch knapper ausfallende Novelle hätte werden lassen können: Bei einer weiteren Untersuchung wird festgestellt, dass, vermutlich infolge einer „Verwechslung der Gewebeproben“, eine falsche Diagnose gestellt worden ist – man denkt motivlich beispielsweise an den kürzlich ausgestrahlten Fernsehfilm Ruhe! Hier stirbt Lothar oder an Pascal Merciers letzten Roman Das Gewicht der Worte.

Alex hat zwar einen Magentumor, doch ist der gutartig, so dass er „in absehbarere Zeit nicht an diesem Tumor sterben“ wird. Alex muss also das Hospiz verlassen. Doch was und wohin nun, nachdem für ihn zu Hause vor seinem Abschied, sogar noch glaubwürdiger Weise und in seinem Beisein, eine richtige Beerdigungsfeier in einer Friedhofskapelle mit anschließendem ‚Leichenschmaus‘ stattgefunden hat?

Hier sei um der Spannung willen nur so viel verraten: Es ist die sich zu tief empfundener Verbundenheit, ja Freundschaft entwickelnde Hospiz-Bekanntschaft mit dem älteren Kasper Haron, die es dem, aufgrund vorab getätigter Verfügungen, mittellosen Alex – „Sterben ist [auch] bürokratische Scheiße“ – zumindest materiell ermöglicht, ins Leben zurückzukehren.

In diesem Leben sollen nach Alex Bene und Lisa zwar gleich wieder die zentrale Rolle spielen, doch wird daraus aufgrund eines vertrackten Geschehens und heikler Umstände – Stichworte: Tod und Eros, Trauer, Trost und Sehnsucht – zunächst einmal nichts, vielleicht sogar dauerhaft. Doch lässt der Roman das offen. So entschließt sich Alex, eine „Liste“ jener „letzten Dinge“ abzuarbeiten, die die verstorbenen Hospiz-Bewohner Peter, Lilia, Wilhelm und Khalil so gerne noch gemacht hätten. Mit den „letzten Dingen“ der drei Erstgenannten ist Alex sogar erfolgreich. Hinsichtlich Khalils Wunsch, einen Achttausender zu besteigen, wird ihm von einem erfahrenen Reiseanbieter bei einem Abendessen dann doch der ‚Zahn gezogen‘. Doch damit nicht genug des Übels: Plötzlich steht Bene vor Alex! Und wenig später erfährt er, dass Kasper im Sterben liegt …

Zwar sucht Fabian Neidhardt mit der dem Roman vorangestellten Widmung „Für die, denen du wichtig bist“ und mit dem „Abspann“ genannten Report über die Entstehung des Romans und dessen authentische Hintergründe in leicht aufdringlicher, ‚seelsorgerisch‘ anmutender Manier die Nähe zum Leser – „Wenn du jemand bist […]“, „Schön, dass du da bist“ –, die Sprache des Textes selbst aber hat nichts ‚Menschelnd-Anbiederndes‘ dieser Art.

Erzählt und gesprochen wird vielmehr meist, zumindest bis zur „unerhörten Begebenheit“, in schnörkellosem, parataktischem Stil, sachlich, lapidar, sarkastisch, schnoddrig, je nachdem. Dabei geht der Bericht, der der Text des Ich-Erzählers eigentlich ist, an keiner Stelle Drastik aus dem Wege, sei diese nun situativer oder sprachlicher Art. Das überzeugt grundsätzlich, wenn auch, mit ‚abstumpfendem‘ Effekt, viel zu oft von „Tränen“ und „Gänsehaut“ die Rede ist und auf das eine oder andere „Arschloch“, „Idiot“, „Wichser“ oder „Rotz“ als Authentizitätssignal hätte verzichtet werden können. Zudem passt die Rede von einer „Gästin“ nicht zum Stil von Alex, dem man allerdings die ungewöhnliche Formulierung „er […] schscht mich“ sofort abnimmt.

Überzeugen kann auch die Anordnung des Wiedergegebenen in 75 nummerierte, zuweilen an Anweisungen für eine subjektive Kamera erinnernde Abschnitte im Umfang von einer Drittelseite bis hin zu zehn Seiten; dabei sind mehrseitige Kapitel in der Regel durch eine zentriert gesetzte Tilde weiter untergliedert. Diese Anordnung folgt allerdings keineswegs der Chronologie des Geschehens. Vielmehr wechseln die Abschnitte beständig zwischen der Gegenwart des Ich-Erzählers und der Vergangenheit, wobei die sich weiter auffächert: von jüngst Geschehenem über Adoleszenzzeiten bis hin zu Kindheitserlebnissen. So entsteht Stück für Stück ein kleinteiliges Mosaik von Bezüglichkeiten und Wechselseitigkeiten, das das nachvollziehende Verstehen des Lesers maßgeblich befördert. Erschlossen hat sich mir freilich nicht, warum so spät (Abschnitt 62) von der Beerdigungsfeier für Alex erzählt wird.

Das leitet zu der abschließenden Frage über, ob es dem Text nicht besser getan hätte, nach der „unerhörten Begebenheit“ mit Namen Fehldiagnose auf die Addition weiterer schicksalsgesättigter Geschichten und Episoden um die genannten Peter, Lilia, Wilhelm und Khalil zu verzichten und nach Alex‘ ‚Auferstehung‘ gleich – und dafür so überzeugend intensiv wie in der ersten Romanhälfte – auf das ‚Dreieck‘ Bene, Lisa und Alex abzustellen.

Diese Frage stellt sich mir aus zwei Gründen: Zum einen kommt dieses ‚Dreieck‘, das Alex ja willentlich wieder zu komplettieren versucht, zu kurz, zumal das einem offenen Ende für dieses ‚Dreieck‘ alles andere als widerspricht. Zum anderen ruft die Addition von Schicksalen die Gefahr eines Gewöhnungseffektes herauf. Wer, wie vermutlich der Autor um Sensibilisierung und Empathie willen, das Schicksal und die Tragödie der vielen Ungenannten, früh tödlich Erkrankten oder Hospizbewohner erzählen will, erzählt vermutlich am besten die bewegende Geschichte eines Einzelnen bzw. Weniger. Das hat Fabian Neidhardt über weite Strecken des Textes überzeugend gemacht. Von daher darf man gespannt sein, womit der Autor als nächstes aufwarten wird.

Titelbild

Fabian Neidhardt: Immer noch wach. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2021.
268 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783709981184

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