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Sabine Seifert untersucht die Ursprünge der Berliner Forschungsuniversität im Seminar von August Boeckh

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ursprungserzählungen haben ihren Reiz, zumal wenn sie mit neuen Quellen aufwarten können. Sabine Seifert erzählt den Ursprung von August Boeckhs Seminar, der Keimzelle der deutschen Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts. Die Untersuchung ist im Forschungskontext der DFG-Nachwuchsgruppe „Berliner Intellektuelle um 1800“ (http://www.anne-baillot.eu/home-deutsch/forschung-de/intellektuellen) entstanden; diese hatte die Zirkulation und Kommunikation wissenschaftlicher und belletristischer Texte in der Berliner Gesellschaft um 1800 verfolgt, die sich in den dynamischen Netzwerken zwischen Universität, Vereinen und Salons abspielte. Seit 2010 hat die Verfasserin über August Boeckh geforscht und publiziert. Ihre Untersuchung des maßstabsetzenden philologischen Seminars in Berlin leitet sie mit informativen Skizzen zu Boeckhs Leben (1785-1867), zum deutschen Universitätssystem um 1800 und zur Position Boeckhs in der Geschichte der klassischen Philologie ein.

An neuen Quellen konnte die Verfasserin den im Kontext des philologischen Seminars bislang nicht berücksichtigten Nachlass Boeckhs sowie dessen gesamte Korrespondenz mit dem preußischen Innen- bzw. Kultusministerium auswerten.

Konzeptionell ging Boeckhs Seminar auf philologische, theologische und pädagogische Vorläufereinrichtungen im 18. Jahrhundert zurück. Institutionalisiert wurde die neue Lehrveranstaltungsform 1812 in Berlin auf Beschluss des preußischen Innenministeriums, dessen Statuten auf Boeckhs „Plan zur Errichtung des philologischen Seminars“ beruhten. Boeckh praktizierte sein erfolgreiches Seminarkonzept bis zu seinem Tod 1867; die Untersuchung beschränkt sich auf die vermutlich kreativste Phase von 1812 bis 1826. In dieser Zeit gewann die für andere Seminare beispielgebende Konzeption der Lehrveranstaltung feste Züge; Boeckhs Seminare lieferten die philologische Orientierung für zahlreiche Studenten, die später als Professoren die Geschichte der klassischen Philologie im 19. Jahrhundert maßgeblich prägten.

Da zur Geschichte, zur Institutionalisierung und zu den Statuten des Seminars bereits einige Untersuchungen vorlagen, machte die Verfasserin es sich zum Ziel, ihre Untersuchung auf die „innere Geschichte“ des Seminars zu konzentrieren, nämlich auf „die Bedingungen für das Arbeiten und Forschen im Seminar, die tatsächliche Seminarpraxis“. Wie aber lässt sich die „tatsächliche Seminarpraxis“ rekonstruieren?

Da die Seminararbeiten der Studenten in aller Regel nicht erhalten sind, muss man im 19. Jahrhundert im Wesentlichen auf zwei administrative Quellensorten zurückgreifen, aus denen auf Inhalt und Ablauf der Seminare und Seminarsitzungen geschlossen werden kann: das Reglement (die Statuten) und die jährlichen Berichte des Seminardirektors. Die Statuten regelten die Organisation des Seminars und die Rechte des Direktors und der Teilnehmer. Der Direktor wurde vom Kultusministerium bestellt und für das Seminar eigens entlohnt. Er leitete das Seminar allein und musste über dessen Inhalt und Ablauf dem Kultusministerium regelmäßig berichten. Diese Regelungen bargen erhebliches Konfliktpotenzial: Die staatliche Aufsicht widersprach dem Prinzip der akademischen Freiheit und das uneingeschränkte persönliche Regime des Direktors konnte unerwünschte Meinungen unterdrücken und die Fachentwicklung behindern – Folgen, die zu Boeckhs Zeiten kaum vorhersehbar waren, im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch eintraten. Der Direktor entschied auch allein über die Aufnahme der Studenten, die zuvor eine Probearbeit einzureichen und eine mündliche Prüfung zu absolvieren hatten. Die Seminarteilnehmer konnten zu einem von ihnen selbst gewählten Thema eine schriftliche Hausarbeit einreichen, die im Seminar zirkulierte und anschließend diskutiert wurde, bei welcher Gelegenheit die Studenten, wie Boeckh anmerkte, „sich im Disputieren und Lateinsprechen übten“. Der Direktor verfügte über einen Etat, aus dem er erfolgreiche schriftliche Arbeiten der Studenten prämieren lassen konnte, wozu er allerdings die – in aller Regel erfolgte – Genehmigung des Kultusministeriums einholen musste. Diese Prämien konnten damals zeitweise einen erklecklichen Beitrag zu den Lebensunterhaltskosten der Studenten leisten. Laut Statuten konnten die Studenten überdies eine Vorzugsbehandlung bei der Königlichen Bibliothek in Anspruch nehmen und Zuschüsse für den Druck ihrer Arbeiten erhalten. Insgesamt fanden sie in den Seminaren mit beschränkter Teilnehmerzahl eine recht privilegierte Arbeitsumgebung vor.

Die wichtigste Quellensorte zur Rekonstruktion der „inneren Geschichte“ des Seminars stellen die Berichte des Direktors dar; Boeckh nahm seine Berichtspflicht ernst und schilderte den jeweiligen Seminarverlauf detailliert. Seinen Berichten sind die für das Seminar konstitutiven Gegenstände zu entnehmen: erstens die Interpretation und Kritik griechischer und lateinischer Texte (bzw. Textstellen), zweitens die vom Direktor und den Studenten gemeinsam vorgenommene Diskussion und Beurteilung von Seminararbeiten sowie drittens die eingehende Diskussion von Fragen der Seminarteilnehmer, die sich aus dem Verlauf des Seminars ergaben oder schriftlich eingereicht werden konnten.

Was die Vorlesungen nicht vermochten, das sollten nach Boeckhs Auffassung die Seminare bewirken: die Studenten aus der Reproduktion fremder Erkenntnisse zu lösen und sie zu eigenständiger Urteilsbildung und Forschung anzuregen. Im Mittelpunkt der Seminare standen jedoch die praktischen Übungen in Hermeneutik und Kritik; sie wurden so trainiert, „dass die dazu erforderlichen geistigen Operationen in Fleisch und Blut übergehen und mit Leichtigkeit und Geläufigkeit gehandhabt werden“ (F. Ritschl). Die eingehende Besprechung der studentischen Hausarbeiten galt nicht allein deren Inhalt und Argumentation: an ihr sollten die Unterschiede zwischen der mündlichen und der schriftlichen Darlegung verdeutlicht werden, auf deren Stil Boeckh großen Wert legte. Als Beurteilungskriterien für die Seminararbeiten tauchen in seinen Berichten Begriffe wie ‚individueller Zugang zum Thema, Genauigkeit, Gründlichkeit, Tiefe und Detailwissen‘ immer wieder auf.

Worin liegt nun das Erfolgsgeheimnis von Boeckhs Seminaren? Vergleicht man sein Seminarkonzept mit zeitgenössischen oder späteren Seminaren, so fallen vor allem Aufwand, Frequenz und Intensität ins Auge, die Boeckh dieser Veranstaltungsform als „Mittelpunkt seines ganzen Unterrichts“ widmete. Sein Seminar fand im Semester allwöchentlich fünf Mal statt; hinzu kamen noch vierzehntägige Sitzungen zur Behandlung besonderer Fragen. Dass die Interaktionshäufigkeit zu einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Boeckh und den Studenten beitrug, registrierten schon Zeitgenossen: „Böckh konnte sich mit jedem näher einlassen, und in der That fand gegen jeden, der sich dem Fach mit Entschiedenheit widmete, ein individuelles Verhältnis statt“ (R. H. Klausen, 1837). Die hohe Frequenz der Seminarübungen diente dem Training und der Habitualisierung hermeneutischer Verfahren und Darstellungsweisen, die sich nicht vollständig in Regeln explizieren lassen; die Berücksichtigung der Individualität der Teilnehmer sollte an deren Anlagen und Fähigkeiten anknüpfen und sie zu der Selbsttätigkeit motivieren, die bekanntlich das proklamierte Ziel des deutschen Forschungsseminars im 19. Jahrhundert war.

An Detailliertheit und Tiefenschärfe wird Sabine Seiferts wissenschaftshistori­sche Untersuchung der Boeckh’schen Seminarkonzeption kaum zu überbieten sein; die Aussagemöglichkeiten der herbeigezogenen Quellen scheinen ausgeschöpft. Eine hilfreiche Dokumentation aller Seminarthemen, Seminarmitglieder und der Titel aller Seminararbeiten sowie der aus ihnen hervorgegangenen Dissertationen beschließt die Arbeit. Alle Rekonstruktionsanstrengungen haben jedoch eine Grenze: Was sich im legendären Seminar von Boeckh tatsächlich ereignete, umschließt nach wie vor eine black box; sichtbar sind allein die Leistungen. Und genau das gehört zum Reiz von Ursprungserzählungen.

Titelbild

Sabine Seifert: Die Ursprünge der Berliner Forschungsuniversität. August Boeckhs philologisches Seminar in Konzeption und Praxis (1812-1826).
(Berliner Intellektuelle um 1800, Band 7).
Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2020.
462 Seiten , 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783830539506

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