Aufklärung und Angst

Ein Beitrag aus dem Jahr 1987 über Erich Frieds Gedicht „Angst und Zweifel“ – mit aktualisierenden Ergänzungen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erich Fried

Angst und Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel

Gefunden habe ich das Gedicht 1975 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich habe es gelesen, aufgehoben, mir zu eigen gemacht. Es enthielt in einleuchtender und einprägsamer Kürze eine Maxime, die sich als intellektuelle Richtschnur gebrauchen ließ. Auch waren mir die Zeilen als Motto zu dem willkommen, was mich gerade beschäftigte: die Ängste in der Moderne, wie sie Kafka und seine Zeitgenossen in den Anfängen unseres schreckensreichen Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht hatten. Zu ihrer Rechtfertigung war Fried die dichteste Formulierung gelungen.

Die Lektüre der Wochenzeitung Die Zeit wiederum war unlängst der Anlass, das Gedicht erneut in Erinnerung zu rufen, maßloser Ärger nämlich über einen Artikel, in dem Odo Marquard, ein angesehener Berufsphilosoph, der sich den heute vielgeschmähten Traditionen aufgeklärter Modernität verpflichtet sieht, sich mit rhetorischer Raffinesse und schlichter Psychologie daranmachte, der Öffentlichkeit all die Bedrohungen eines aus der Kontrolle geratenen Fortschritts auszureden, die zur Angst vielfältige Veranlassungen geben.

An Traditionen der Aufklärung knüpft auch Frieds Gedicht an, schon mit dem gewitzten, pointierten Wortspiel und der knappen, klaren Sprache, die vor allem das Denken in Bewegung setzt. Doch erst recht mit dem Begriff, der eine fundamentale Tugend aufgeklärten Geistes bezeichnet: „Zweifel“. De omnibus dubitandum est. Descartes war es bekanntlich, der den Zweifel zum Grundprinzip rationaler Philosophie erhob.

Anders schätzte man die Angst ein, die das Gedicht dem Zweifel so nahe rückt. Sie lähmt den Verstand, so hieß es, und sie hat ihre Quellen zumeist in jenen abergläubischen Vorstellungen, die den unaufgeklärten Mangel an Wissen und Erfahrung verraten. Die aufklärerische Kampagne gegen den Aberglauben war auch eine gegen unnötiges Leiden an Angst, die Kampagne gegen die Angst eine gegen falsches, irrationales Bewusstsein. Mut (sich seines eigenen Verstandes zu bedienen) und Überwindung von Furcht galten als Voraussetzungen moralischer und intellektueller Mündigkeit. – Bekommt Frieds Gedicht also mit seinem Lob der Angst gegenaufklärerische Tendenzen? Die Gespenster hat das Zeitalter der Vernunft mit einigem Erfolg vertrieben, doch an die Stelle alter Ängste sind neue getreten. Und nur eine blind, borniert und selbstüberheblich gewordene Aufklärung, die keinen Zweifel kennt gegenüber den Gefahren, die ihre technische Vernunft (neben vielen Annehmlichkeiten) produziert hat, kann übersehen, dass die Missachtung und die Austreibung dieser neuen Ängste tödliche Konsequenzen haben könnten.

„Zweifle nicht/ an dem/ der dir sagt/ er hat Angst“. In den zwölf Jahren seit dem Erscheinen dieses Gedichts ist das Reden über die Angst vielfach zum Gerede verkommen und, zugegeben, rhetorisch vielfach missbraucht worden: Auch Zweifel an dem, der von seiner Angst redet, scheinen durchaus angebracht. Dennoch behält Erich Frieds Gedicht seine Wahrheit: In einer veränderten Welt, so lese ich es heute, kann die Angst dazu geeignet sein, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären.

Anmerkung und aktualisierende Ergänzungen

Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.3.1987 (Frankfurter Anthologie), das Gedicht zuerst in Erich Fried: Gegengift. Gedichte. Berlin 1974.

Meiner 1977 im Metzler Verlag erschienenen Dissertation Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexepressionismus hatte ich das Gedicht als eine Art Motto vorangestellt. Ängste können zwar durchaus auch ein pathologisches Phänomen sein und ihre Stimulation kann missbraucht werden, aber ohne sie wären wir nicht fähig, lebensbedrohliche Gefahren zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren. In der seit dem 21. Jahrhundert forcierten Emotionsforschung hat die Angst einen zentralen Stellenwert. Ute Freverts 2020 erschienenes umfangreiches Buch Mächtige Gefühle beginnt nach der Einleitung mit dem Kapitel „Angst“. Und dieses endet mit differenzierten Beobachtungen und Reflexionen über „Corona-Ängste und Angst-Konkurrenzen“. Erich Frieds Gedicht ist als eine Art Motto gegenwärtig auch wieder angesichts der Corona-Krise und der Klimakrise hoch aktuell.

Titelbild

Ute Frevert: Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung – Deutsche Geschichte seit 1900.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
496 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970524

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