Die letzte Maske?

Bob Dylans Trennungsalbum „Blood On The Tracks“

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1.

Das Trennungsalbum nimmt in der Geschichte der Rockmusik einen besonderen Platz ein. Das liegt in erster Linie an dem hohen emotionalen Gehalt der Songs, die sich auf einem solchen Werk befinden, sowie an deren mutmaßlich autobiographischen Aufräumarbeit. Der Hörer möchte mitgenommen werden in Herz, Seele und Gedanken des Sängers, er möchte ihm folgen in eine Welt voll von Melancholie und Selbstkritik, er möchte eine Analyse darüber angeboten bekommen, was alles falsch gelaufen ist, um zu jenem Punkt zu gelangen, an dem sich der Sänger in seinen traurigen Liedern befindet.

Dabei gibt es die unterschiedlichsten Arten von Trennungsalben: Peter Hammills 1977 erschienene Platte Over ist ein brutales, selbstzerstörerisches Werk, das ganz am Ende jedoch erstaunlicherweise das Licht ins Dunkel lässt. Björks Vulnurica verarbeitet ihre Trennung vom Künstler Matthew Barney eher mit abstrakt-avantgardistischen Klängen. Beck schlüpft für SeaChange ins ihm eigentlich fremde Kostüm des Singer-Songwriters, um anhand dieses Bruchs mit den Erwartungshaltungen seines Publikums einen größeren Effekt zu erzielen – mit gemischtem Erfolg. Richard und Linda Thompson wiederum nahmen ihr Trennungsalbum Shoot Out The Lights gleich zusammen auf, auch wenn sie bis heute bewusst Zweifel daran hervorrufen, ob es denn tatsächlich eines ist. Und auch Joan Baez hat mit Diamonds And Rust ein sehr bewegendes Trennungsalbum aufgenommen, das sich vornehmlich aus intimen, teils umgedichteten Interpretationen der Songs anderer Interpreten speist.

Doch es ist der Mann, dem Baez in mehreren Songs auf Diamonds And Rust hinterhertrauert und der die Mutter aller Trennungsalben aufgenommen hat, das Werk, an dem sich jeder verzweifelte Troubadour messen muss, wenn ihm mal einfallen sollte, einer verlorenen Liebe auf musikalische Art nachzutrauern. Bob Dylans 1974 erschienenes Werk Blood On The Tracks steht in seinem reichhaltigen Katalog wie ein thematischer Monolith, ein Konzeptalbum über eine verlorene Liebe, von dem zahlreiche Kritiker seit Jahrzehnten behaupten, es zeige den echten, den wahren Dylan. Jenen Dylan ohne die bewährte Maske, der dem Hörer endlich mal sein Herz ausschüttet.

Wie so vieles in der Popgeschichte ist die bis heute gültige Wahrnehmung von Blood On The Tracks natürlich ein Mythos; sogar einer, der bis ins schier Unendliche überhöht wurde. Der Wahrheit entspricht, dies ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Platte tatsächlich ausschließlich aus meist traurigen Liebesliedern besteht. Aber beschreiben sie tatsächlich das Scheitern von Dylans Ehe mit Sara Lowndes? Oder stellt das Album vielmehr ein gewieftes intellektuelles Spiel mit dem Genre des Love Songs dar?

Blood On The Tracks beinhaltet zehn inzwischen klassische Songs, fünf auf der einen, fünf auf der anderen Plattenseite, auf jeder Seite findet sich dabei ein längeres Stück, respektive „Idiot Wind“ und „Lily, Rosemary And The Jack Of Hearts“. Beide Songs sind jedoch trotz ihrer Spielzeit von rund acht bzw. neun Minuten wenig abwechslungsreich. Vor allem „Lily, Rosemary And The Jack Of Hearts“ reiht sich eher in die von Dylan in den 60ern gern adaptierte Spielart des Talkin’ Blues ein; die zu erzählende Geschichte steht im Mittelpunkt, die bisweilen etwas hilflos holpernde Musik dient primär dem Zweck, den Text zu untermalen. In „Idiot Wind“ wiederum wird auch die Länge bewusst als Stilmittel verwendet, das lyrische Ich bekommt dadurch mehr Raum, um sich in seine Wut hineinzusteigern und ihr durch zahlreiche Variationen einzelner Phrasen Ausdruck zu verleihen. Um diese beiden ‚Big Songs‘ reihen sich nun mehrere kleinere akustische Stücke mit teils äußerst sparsamen Arrangements: „You’re A Big Girl Now“, „If You See Her Say Hello“, „You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go“, „Shelter From The Storm“. Am Ende von Seite eins ist außerdem das bluesige, aber ebenso reduzierte „Meet Me In The Morning“ zu hören, am Ende das noch reduziertere Kinderreimlied „Buckets Of Rain“. Die größten, erhabensten und aus heutiger Sicht auch berühmtesten Songs der Platte jedoch stehen am Anfang: „Tangled Up In Blue“ und „Simple Twist Of Fate“. Blood On The Tracks ist also, anders als andere Alben Dylans wie Highway 61 Revisited, New Morning oder Desire (um nur einige zu nennen) ein klassischer Vertreter dessen, was man in den 60er und 70er Jahren als „Front-Loaded Album“ bezeichnete, also dass Künstler ihre besten Songs an den Anfang ihrer Platte packten, um ihr mehr Gewicht zu verleihen, als sie es letztlich hatte. Diese Vorgehensweise stammt noch aus einer Zeit, als Singles die maßgeblichen Tonträger waren und auf Alben diese in der Regel einfach nur mit Füllmaterial ergänzt wurden. Aber vielleicht ist gerade dieser Umstand durchaus bedeutend für den Flow der Platte, für die Geschichte, die Dylan seinen Hörern erzählen will. Die letzte Maske?

Denn Blood On The Tracks wird als Konzeptalbum wahrgenommen, vielleicht sogar als das einzige in Dylans langer Karriere; nicht nur, weil es vom Ende der Liebe erzählt, sondern Geschichten konstruiert werden, die immer wieder als Allegorien auf das Scheitern der eigenen Liebesbeziehung des Künstlers gedeutet wurden. Denn natürlich ist es verdächtig, wenn ein thematisch so vielseitiger Singer-Songwriter wie Bob Dylan plötzlich ein so monothematisches Album veröffentlicht. Dies zeigt sich etwa im Vergleich zum Nachfolger Desire, das aufgrund seines Sounds und seiner Wirkung oft als Schwesteralbum von Blood On The Tracks angesehen wird, was letztlich nicht nachvollziehbar ist, lebt doch Desire von seinen üppigen, manchmal ausufernden Arrangements und einem von der Violine Scarlett Riveras dominierten Sound. Vor allem aber finden sich auf Desire unter anderem ein Protestsong über den Boxer Rubin Carter („Hurricane“), eine Gangsterballade („Joey“) und eine mysteriöse Räuberpistole („Isis“, das von Dylan jedoch gerne als „a song about marriage“ angekündigt wurde). Allerdings auch das unmittelbarste Liebeslied, das der Musiker jemals verfasst hat, das den Titel „Sara“ trägt und sich, das sollte zu denken geben, gerade nicht auf Blood On The Tracks befindet.

 

2.

„Das sind persönliche Stücke“, vertraute Bob Dylan vor den Aufnahmen seinem alten und neuen Produzenten John Hammond an. Kurz zuvor war der Musiker seinem Stammlabel Columbia untreu geworden und veröffentlichte sowohl das mediokre Album Planet Waves (auf dem sich aber immerhin der spätere Klassiker „Forever Young“ befand) als auch ein zumindest umstrittenes Livealbum, das er mit The Band aufnahm, Before The Flood. Doch nachdem es Unstimmigkeiten mit dem Label gegeben hatte, kehrte er nach diesem kurzen Ausflug zu Columbia zurück und begab sich alsbald ins Studio; die neu komponierten Songs schienen ihm auf der Seele zu brennen.

In den vorangegangenen Jahren war Dylan durch seine Karriere traumgewandelt; nach seinem Motorradunfall schien nichts mehr zu sein, wie es war. Dem bibelfesten Folk-Album John Wesley Harding folgten der damals umstrittene (und heute zumindest partiell revidierte) Country-Ausflug Nashville Skyline, das sagenhaft schlechte Self Portrait – „What is this shit?“, fragte der Starkritiker Greil Marcus seinerzeit entrüstet –, das unspektakuläre, aber durchaus solide (und bis heute unterschätzte) New Morning und ein paar Nebenwerke, etwa der Sound­­track zu Pat Garrett & Billy The Kid, immerhin mit dem späteren Welthit „Knockin’ On Heaven’s Door“.

Um seine Ehe mit Sara ist es zu dieser Zeit immer schlechter bestellt, die Tournee mit The Band, aus der Before The Flood hervorging, lässt ihn in alte Gewohnheiten – Alkohol, Affären und Ähnliches – zurückfallen. Nach den Konzerten zieht er sich auf seine Farm in Minnesota zurück und schreibt dort vermutlich auch diese neuen Lieder, die seinen Seelenzustand widerspiegeln. „Das neue Album war die spirituelle Autobiographie einer verwundeten Empfindsamkeit“, schreibt später sein Biograph Robert Shelton. Ein anderer renommierter Dylanologe, Greil Marcus, sieht ihn als „besessen von einer Beziehung, die er aber niemals auflösen kann“. Dylan selbst lehnte diese seiner Meinung nach zu einfache Sichtweise auf sein Album ab; er selbst sah die Lieder vielmehr als ein Gemälde an, mit dem der Versuch  unternommen wird, eine bestimmte Situation aus verschiedenen Blickwinkeln darzustellen. Der Musiker hatte nämlich kurz zuvor begonnen, beim amerikanischen Maler Norman Raeben Kunststunden zu nehmen, und zeigte sich inspiriert von dessen freiem Umgang mit der Zeit in seinem Werk. Dylan wollte, wie er 1985 dem Journalisten Bill Flanagan erklärte, Songs komponieren, in denen die Zeitebenen sich überlagern und nicht klar zuzuordnen sei, ob die Protagonisten nun aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft sprechen. Daher sei das Album auch nicht zwingend autobiographisch, sondern eher konzeptionell anzusehen, als eine Sammlung von Songs zu einem bestimmten Thema, dem sich anhand verschiedener Stimmungen genähert wird. Dies erklärt sicherlich etwa die komplexe Struktur in Bezug auf die Erzählperspektive, die den ersten Song auf dem Album, „Tangled Up In Blue“, aber auch andere Einzelstücke wie „Idiot Wind“ auszeichnet, aber es erklärt vor allem die Struktur des Albums als Ganzes, das weniger eine Reise durch eine langsam scheiternde Beziehung darstellt, sondern vielmehr eine Sammlung von Momentaufnahmen aus verschiedenen Phasen und möglicherweise auch Perspektiven.

Angeblich hatte zudem ein Foto von Anton Chekhov über Dylans Schreibtisch gethront und er mochte die Vorstellung, dass es sich bei den zehn Songs um Erzählungen im Stile des russischen Schriftstellers handelte – und keineswegs um autobiographische Reminiszenzen eines leidenden Poeten. Ob das Ganze jedoch tatsächlich nicht autobiographisch ist?

Nun ist Rockmusik ja seit jeher ein unmittelbares Medium. Songs dienen den Musikern oft als Mittel zur Aufarbeitung persönlicher Probleme oder Traumata. Dies liegt in der Natur der populären Musik begründet, deren primäre Aufgabe es ist, Affekte zu evozieren, das Publikum mit Nähe zu berühren, es zum Tanzen, Träumen oder eben auch Trauern zu animieren. Das Freisetzen von Emotionen geschieht in einem kollektiven Akt der emotionalen Hingabe, die ein entscheidendes Moment des Kommunikationsprozesses zwischen Sender und Empfänger, also zwischen Performer und Publikum, ist. Aus diesem Grund spielen in der Geschichte der Rockmusik auch Live-Darbietungen eine so zentrale Rolle; aus demselben Grund aber neigt das Publikum zur Überidentifikation der Botschaft mit demjenigen, der sie aussendet. Und wie man dieses ambivalente Feld produktiv nutzt, war schon immer die große Stärke Bob Dylans. Spricht man über seine Masken, so fallen einem zunächst die des Folksängers (Anfang bis Mitte der 60er Jahre) sowie die des religiösen Predigers (Ende der 70er Jahre ein), aber es gibt selbstredend noch andere: die des postmodernen Zitatsammlers (im Spätwerk) oder eben die des verzweifelten, an der Liebe verzweifelnden Poeten Mitte der 70er Jahre. Nur die Popstar-Maske, die er Mitte der 80er kurzzeitig anprobierte, konnte die mangelnde Substanz, die sich dahinter verbarg, nicht kaschieren. Kein Wunder also, dass dieser Mann sich in seiner berühmtesten Filmrolle ‚Alias‘ nennt und der deutsche Singer-Songwriter Tom Liwa 2016 einen vielsagenden Abgesang auf sein einstiges Idol mit dem Titel „Jahre des Verrats“ schrieb, in dem er insinuiert, hinter all diesen Masken würde sich letztlich nur ein großes Nichts verbergen. Aber verrät Dylan die affektgesteuerten Hörer auch mit seinem Trennungsalbum Blood On The Tracks? Oder anders gefragt: Warum sollte er angesichts einer scheiternden Ehe ein Album voller bitterer Liebeslieder aufnehmen, die dann gar nichts mit dieser persönliche Krise zu tun haben?

 

3.

Kaum jemand wird bestreiten, dass die beiden Songs, die Blood On The Tracks eröffnen, zu den besten Anfangssequenzen der Popgeschichte gehören. „Tangled Up In Blue“ und „Simple Twist Of Fate“ sind Songmonolithen, die zwei Seiten einer Medaille zeigen: das Beschwingte und das Melancholische, den hoffnungsvollen, wenn auch von zahlreichen Komplikationen überschatteten Anfang und das verzweifelte Ende. Eine Fanfare für ein Album voller Liebesleid und Traurigkeit, aber auch voller Schönheit und Hoffnung. Tatsächlich ist, auch wenn dies eine seltsame Kategorie ist, Blood On The Tracks Bob Dylans schönstes Album.

„Tangled Up In Blue“ erzählt eine Geschichte vom Finden und Verlieren, der Song an sich ist eine einzige Suche, die Protagonisten umkreisen sich ein ums andere Mal, finden aber nie so recht zueinander, sie sind, wie der Titel sagt, in Traurigkeit ineinander verheddert, ohne dass sie sich voneinander lösen könnten, aber auch ohne dass sie eine innige, dauerhafte Beziehung zueinander aufbauen können. Das Lied funktioniert nach einem bewährten Dylan-Schema: mit Hilfe einfacher Worte und Bilder einen komplexen Sachverhalt zu konstruieren. Das stete Einprasseln neuer Strophen und Eindrücke auf den Hörer sorgt, wie eben bei einem Gemälde, dafür, dass ein Gesamteindruck entsteht, der jedoch mitunter schwer zusammenzufügen ist. Dylan änderte den Text des Songs bei späteren Live-Darbietungen immer wieder, am besten ist dieses Vorgehen nachzuvollziehen auf der großartigen Aufnahme, die er auf das ansonsten vernachlässigungswürdige 84er Live-Album Real Live packte, in der er einfach in einigen Strophen die Perspektive wechselt, was den Text plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lässt.

„Simple Twist Of Fate“ ist hingegen die melancholische Kehrseite des beschwingten Openers. Das lyrische Ich schiebt die Schuld am Scheitern seiner Beziehung auf eine „einfache Wendung des Schicksals“, nichts also, was er irgendwie hätte beeinflussen können. Da die ganze Beziehung sich als vom Schicksal getrieben offenbart hat, scheint dies für den Erzähler auch in Ordnung zu sein, auch wenn er sich in Selbstmitleid getränkt eben diesem Schicksal ergibt.

Auch in „Simple Twist Of Fate“ verwirrt das Spiel mit Identitäten. Vordergründig wird die Geschichte um ein sich entzweiendes Liebespaar in der dritten Person erzählt, die Figuren werden ausschließlich als ‚he‘, ‚she‘ und ‚they‘ bezeichnet. Die letzte Strophe wechselt in die erste Person Singular; dies ginge noch als nachvollziehbarer Kunstgriff durch, etwa, um die Geschichte zunächst distanziert zu erzählen, um am Ende zu signalisieren: ‚Es ging doch um mich.‘ Wäre da nicht diese eine Zeile in Strophe zwei, wo es heißt:

They walked alone by the old canal
A little confused, I remember well

Handelt es sich also doch um einen Erzähler, der das beschriebene Paar kannte und uns nun ihr Schicksal schildert, um dieses in der letzten Strophe möglicherweise als Lektion für sein eigenes Leben anzunehmen oder gar die Geschichte als Parabel darzubieten?

Gerade in Bezug auf diese letzte Strophe gibt es noch eine interessante Geschichte, die zeigt, wie diese Lieder nicht nur im metaphorischen Sinn weiterleben, sondern tatsächlich auch weiter geschrieben werden, und nicht immer nur, wie im Fall von „Tangled Up In Blue“, von Dylan selbst. Auf ihrem nur ein Jahr später erschienenen Album Diamonds And Rust, covert Dylans Ex-Geliebte Joan Baez das Stück, was zunächst wenig überrascht, weil die Sängerin in der Vergangenheit bereits oft Lieder des Künstlers neu eingespielt hatte. Doch ihre Interpretation von „Simple Twist Of Fate“ besticht aus zweierlei Grund. Zum einen imitiert Baez (zugegebenermaßen etwas ungelenk) in einer Strophe den typischen Duktus von Dylans Gesang, was zunächst als etwas plumper Gag erscheint. Dann aber kommt die letzte Strophe, die Baez umgedichtet hat. Heißt es ursprünglich:

People tell me it’s a sin
To know and feel too much within
I still believe she was my twin, but I lost the ring
She was born in spring, but I was born too late
Blame it on a simple twist of fate

singt Baez stattdessen:

People tell me it’s a crime to feel too much at any one time
All it cost me was a dime but the bells refuse to ring
He was born in the spring but I was born too late to blame
It on a simple twist of fate

Die Vermutung liegt nahe, dass die Sängerin auf ihre gescheiterte Beziehung zu Dylan anspielt, zumal der Titeltrack ihres Albums eine sehr plastische Nacherzählung der Liebesbeziehung der beiden ist, und das ganze Album, wie eingangs erwähnt, ebenfalls als (verspätetes) Trennungsalbum angesehen werden kann.

 

4.

Der Schlüssel zum Album liegt jedoch nicht in der literarischen Finesse von „Tangled Up In Blue“, auch nicht in der scheinbaren Offenheit von „Simple Twist Of Fate“ oder gar in der (bewusst) simplen Metaphorik von „Shelter From The Storm“, sondern tatsächlich in der wilden Wut, die der Musiker in „Idiot Wind“ entfacht – trotz Punk, Death Metal und dem, was sonst noch so folgen sollte, eines der aggressivsten, bösartigsten Stücke der Popgeschichte. Auch besagter Tom Liwa ehrte es wenige Jahre vor seinem ‚Bruch‘ mit Dylan mit einer sehr schönen, nur auf einer akustischen Gitarre gespielten Coverversion, die den Text vom Arrangement entblößt und das Stück regelrecht nackt in seiner manischen Wut erscheinen lässt, diese aber gleichfalls als artifiziell bloßstellt. Vielleicht ist es nur die Interpretation Liwas, vielleicht steckt aber auch mehr dahinter.

Es ist ein seltsames Lied. Der Text beginnt in der ersten Strophe als Räuberpistole. Das offenbar von Paranoia getriebene lyrische Ich sieht sich von bewusst lancierten Presseberichten verunglimpft: Er habe einen ‚Mann namens Grey‘ erschossen und sei mit dessen Frau nach Italien durchgebrannt. Diese habe daraufhin eine Million Dollar geerbt, sei dann aber auch gestorben, so dass der Erzähler das ganze Geld geerbt habe. Er weist diese Geschichte jedoch nicht von sich, sondern stellt lapidar fest, er könne ja auch nichts für sein Glück. Diese erste Strophe führt den Hörer sofort weg von einer autobiographischen Lesart, es ist ja nichts darüber bekannt, dass Dylan des Mordes angeklagt wurde und daraufhin von der mittlerweile verstorbenen Witwe viel Geld erbte.

Doch das Lied erinnert an den Maelström Edgar Allan Poes: Gnadenlos zieht es den Hörer in die Wut des Sängers hinein, der sehr bald schon die Maske des Geschichtenerzählers fallen lässt und sich nur noch in Verachtung und Selbstmitleid übt. Die Wut kulminiert in den le­gendär gewordenen Zeilen

You’re an idiot, babe
It’s a wonder that you still know how to breathe

Und doch fällt noch eine weitere Maske, nämlich die der Contenance; der Sänger verliert sich in Widersprüchen, er beginnt, sich auch selbst nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter zu sehen, und greift das Motiv des Umkreisens wieder auf, das dem Hörer aus dem kunstvoll gestrickten „Tangled Up In Blue“ bereits bekannt ist. So kehrt verstärkt Selbstkritik in den Song ein. In der vorletzten Strophe singt er die bereits doppeldeutigen Zeilen

I can’t feel you anymore
I can’t even touch the books you’ve read
Every time I crawl past your door
I been wishin’ I was somebody else instead
Down the highway, down the tracks
Down the road to ecstasy
I followed you beneath the stars
Hounded by your memory
And all your ragin’ glory

Und in der letzten Strophe schließt er sich in die Beleidigungen mit ein und beginnt somit das Scheitern der Beziehung auch bei sich zu suchen. Die Wut richtet sich damit gegen die eigene Ignoranz gegenüber dem geliebten Menschen und die Unfähigkeit, trotz starker Gefühle ein Miteinander zu gestalten. Das Lied endet mit einer letzten Variation des Refrains, der auch allgemeingültig für Liebende verstanden werden könnte:

Idiot wind
Blowing through the buttons of our coats
Blowing through the letters that we wrote
Idiot wind
Blowing through the dust upon our shelves
We’re idiots, babe
It’s a wonder we can even feed ourselves

5.

Ein weiterer Schlüssel zum Gesamterlebnis von Blood On The Tracks als Konzeptalbum sind, wie fast immer bei dieser Art in sich geschlossener Kunstwerke, die kleinen, unscheinbaren Stücke. „If You See Her Say Hello“ ist hoffnungslos romantisch und wirkt nach dem Sturm der großen langen Stücke wie ein Runterbringer, die Wogen glätten sich, die schmerzhafte Tour de Force ist vorbei. Übrigens funktionieren zahlreiche Trennungsalben genau so: Dem Hineinsteigern in ein emotionales Crescendo folgt ein versöhnliches Ende. So endet etwa Peter Hammills Over nach der schmerzhaften, hysterischen Anklageschrift „Betrayed“ und dem fast unerträglich selbstmitleidigen „(On Tuesdays She Used To Do) Yoga“ mit „Lost And Found“ auf einer beschwingt-positiven Note.

Bei Blood On The Tracks folgen auf das versöhnliche „If You See Her Say Hello“ das Friedensangebot von „Shelter From The Storm“ und der naiv wirkende Kinderreim von „Buckets Of Rain“; ein langer, friedlicher Ausklang nach hoffnungsvoller Romantik und wildem Sturm.

In „If You See Her Say Hello“ ringt das lyrische Ich mit sich im Versuch, die große Liebe hinter sich zu lassen, doch wie er dem Freund, dem er das Lied mutmaßlich singt, berichtet, will ihm dies nicht gelingen:

We had a falling-out
Like lovers often will
And to think of how she left that night
It still brings me a chill

And though our separation
It pierced me to the heart
She still lives inside of me
We’ve never been apart

„You’re A Big Girl Now“ wirkt zunächst beliebig bis schmalzig, fängt den Zuhörer mit seiner roh wirkenden Emotionalität irgendwann aber doch ein. Auch hier kämpft das lyrische Ich mit Selbstzweifeln und adressiert die verlorene Liebe mit der Versicherung, aus seinen Fehlern gelernt zu haben. Sie sei schon viel weiter, immerhin ist sie ja schon ein ‚großes Mädchen‘, während er noch der kleine Junge geblieben ist, der naiv seiner Intuition folgend an einer erwachsenen Beziehung gescheitert ist:

Love is so simple, to quote a phrase
Youve known it all the time, Im learnin’ it these days
Oh, I know where I can find you, oh
In somebody’s room
It’s a price I have to pay
You’re a big girl all the way

Umso erstaunlicher auf den ersten Blick ist, dass auf diese selbstkritische Erkenntnis der wütende Sturm von „Idiot Wind“ folgt. Doch tatsächlich bildet Dylan nichts weiter ab als die verschiedenen emotionalen Facetten, die ein Mensch nach dem Ende einer großen Liebe durchlebt. So funktioniert letztlich auch das Bild des Gemäldes, das Dylan selbst bemüht hat, um das Album zu beschreiben: Man muss Blood On The Tracks als Ganzes, aus einer gewissen Distanz betrachten, um es in all seinen Farben und Schattierungen zu erfassen.

 

6.

Doch ist Blood On The Tracks bei weitem keine perfekte Platte, im Gegenteil, sie krankt erheblich daran, dass mit „Lily, Rosemary And The Jack Of Hearts“ einer ihrer beiden ‚Big Songs‘ äußerst schwach ist. Diese Ballade wirkt, als habe er die Talkin-Blues-Variationen seiner frühen Jahre in neue Richtungen weitergedacht, ohne aber irgendwo anzukommen. Dies gelingt ihm jedoch ein Jahr später, als er auf dem Nachfolgealbum Desire mit „Hurricane“ den politischen Song wiederentdeckt und tatsächlich nochmal einen atemberaubenden Talkin’ Blues hinlegt, der vielleicht ohne das ungare „Lily, Rosemary And The Jack Of Hearts“ wiederum wohl gar nicht möglich gewesen wäre. Hier jedoch wird die Geschichte leider so umständlich erzählt, dass der Hörer bei dem überlangen Stück nach nur wenigen Minuten abschaltet – auch wenn es mit Textblatt in der Hand dann doch ein wenig besser wird.

Trotzdem ist auch dieser Story-Song ein wichtiger Aspekt, um das Gemälde zu erfassen, das der Künstler mit Blood On The Tracks erschaffen hat. Er verwarf diese Technik bald wieder. Desire wurde sein aus musikalischer Sicht wohl reichstes, experimentellstes Album, mit dem 1978 erschienenem Street Legal scheiterte er jedoch an seinen eigenen Ansprüchen. Es folgten die religiöse Phase und – noch schlimmer – die 80er Jahre. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Dieser Beitrag wurde dem von Dieter Lamping und Sascha Seiler herausgegebenen Sammelband May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben entnommen:

Titelbild

Dieter Lamping / Sascha Seiler (Hg.): May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2021.
160 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783936134803

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