Von der jugendlichen Rebellion zum Protest einer Generation

Mit „The Freewheelin’ Bob Dylan“ gelang Bob Dylan der künstlerische Durchbruch

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Januar 1961 entschied sich der knapp 20-jährige Robert Zimmermann, nach New York zu gehen, um sich einen Namen in der dortigen Musikszene zu machen. Außerdem war es sein Wunsch, Woody Guthrie zu treffen, der sterbenskrank in einem Krankenhaus in New Jersey lag. Der Singer-Songwriter, der in den 1930er und 1940er Jahren mit seiner Gitarre kreuz und quer durch die USA gereist war, war sein großes Vorbild. Mit Gitarre und Mundharmonika fand der Neuankömmling Unterschlupf in Greenwich Village, wo sich eine Künstlerszene etabliert hatte. Der junge Sänger nahm den Künstlernamen Bob Dylan an. Bald trat er in Folkclubs auf und hatte am 11. April 1961 im Gerde’s Folk City im Vorprogramm der Blues-Legende John Lee Hooker seinen ersten offiziellen Auftritt. Am 29. September 1961 erschien in der New York Times der legendäre Artikel des Musikkritikers Robert Shelton. Bemerkungen wie „Er ähnelt einer Kreuzung aus Chorknabe und Beatnik“ oder „Er platzt vor lauter Talent aus allen Nähten“ beschleunigten wahrscheinlich Dylans Weg nach oben. Der Columbia-Records-Plattenproduzent John Hammond wurde auf Dylan aufmerksam und bot ihm noch am selben Tag einen Vertrag an. Bei zwei Sessions im November 1961 wurden die ersten Songs aufgenommen.

Am 19. März 1962 erschien Bob Dylans erstes Album mit dem schlichten Titel Bob Dylan. Es enthielt im Wesentlichen noch traditionelle Lieder aus den Bereichen Blues, Gospel, Country und Folk. Eigenkompositionen waren lediglich „Talkin’ New York“, ein gesprochener Blues, in dem Dylan seine ersten Eindrücke von New York verarbeitete, und „Song To Woody“, eine Hommage an sein frühes Vorbild. Obwohl die Titel sich durch viel Charisma auszeichneten, fand das Album wenig Beachtung und stieß nur bei Folk-Liebhabern auf Interesse.

Erst Dylans nächstes Album The Freewheelin’ Bob Dylan, das mit Unterbrechungen vom April 1962 bis zum April 1963 entstand, brachte den künstlerischen Durchbruch. Es erreichte Platz 22 der US-Charts und wurde schließlich mit einem Platin-Album ausgezeichnet. 2003 listete der „Rolling Stone“ das Album auf Platz 162 seiner Liste der 500 besten Alben aller Zeiten.

Es gehört zu meinen Lieblingsalben von Bob Dylan. Zu den Gründen später. Nach dem Flop seines Debütalbums war es allerdings nur der Hartnäckigkeit seines Produzenten John Hammond und dem Interesse von Johnny Cash zu verdanken, dass The Freewheelin’ Bob Dylan am 27. Mai 1963 bei Columbia Records erscheinen konnte. Die bereits erfolgreiche Country-Legende spürte wohl instinktiv, was in dem jungen Folksänger steckte. (Erst 1964 trafen sich die beiden Künstler beim Newport Folk Festival und fünf Jahre später nahmen sie einige Duette auf.)

Elf der dreizehn Albumtitel seines Zweitlings stammten aus Dylans Feder – von der tragischen Liebesballade bis zu surrealistischen Themen. Mit ihnen drückte er das Verlangen einer ganzen Generation nach sozialen Veränderungen aus. In dieser Hinsicht kann das Album als sein Manifest gesehen werden. Vom musikalischen Gesichtspunkt waren die Titel zwischen Blues und Folk angesiedelt; in einigen Songs klangen auch keltische Einflüsse an. Ende 1962 hatte sich Dylan bei einem Aufenthalt in London mit irischen Volksweisen und Balladen vertraut gemacht. Auf dem Coverfoto des Fotografen Don Hunstein zieht er mit seiner damaligen (und 2011 verstorbenen) Freundin Suze Rotolo an einem kalten Wintertag Arm in Arm die verschneite Jones Street in Greenwich Village entlang. In ihrer Autobiographie A freewheelin’ time. A memoir of Greenwich Village in the Sixties (2008, dt. Als sich die Zeiten zu ändern begannen) erinnerte sich Rotolo: „Um uns warmzuhalten, fingen wir an, herumzualbern. […] Bob fror erbärmlich in seiner dünnen Jacke. Was tut man nicht alles für sein Image?“ Der Titel des Albums, so vermutete Rotolo, war wohl eine Idee von John Hammond und des Musikmanagers Albert Grossmann, während die Schreibweise „freewheelin“ (ohne „g“) bestimmt auf Bob zurückging.

„Blowin’ In The Wind“ ist der Auftakt und zugleich der bekannteste Titel des Albums. Geschrieben hat Dylan den Song bereits am 16. April 1962 in etwa zehn Minuten in dem New Yorker Folk-Café The Commons. Musikalisch ließ er sich von dem traditionellen Gospel „No More Auction Block“ inspirieren. Sparsam instrumentiert (Gesang, Gitarre, Mundharmonika) und mit einer eher flapsigen Stimme stellt Dylan rhetorische Fragen über Freiheit, Krieg und Frieden, auf die lediglich der Wind eine Antwort geben kann. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Lied zu einer Hymne der amerikanischen Bürgerbewegung. Gesteigert wurde seine Bekanntheit durch zahlreiche Coverversionen von vielen KünstlerInnen – u.a. von Joan Baez, The Hollies, Elvis Presley oder Stevie Wonder. Bereits im Juli 1963 hatte das Folk-Trio Peter, Paul & Mary einen internationalen Hit mit ihrer Version von „Blowin’ In The Wind“. Sie trugen es 1963 bei einer Demonstration in Washington vor und bahnten damit Bob Dylans Weg als Vorreiter der amerikanischen Protestbewegung. 2004 wurde der Song von der Musikzeitschrift „Rolling Stone“ auf Platz 14 der „500 besten Songs aller Zeiten“ gewählt.

Der zweite Song „Girl From The North Country“ des Albums ist eine sehnsuchtsvolle Erinnerung an ein Mädchen im hohen Norden. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, welcher Freundin Dylan diesen Song gewidmet hat. In dem Klagelied „Down The Highway“ drückte Dylan sein Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit aus, nachdem sein „Baby“ Suze zu einem halbjährigen Studium nach Italien gegangen war. „Well, I’m walkin’ down the highway/ With my suitcase in my hand.“ Zwischen den Zeilen spürt man die innere Zerrissenheit, die ihn gewissermaßen nach draußen, auf den Highway, treibt.

Als politisch engagierter Songwriter trat Dylan mit dem Song „Masters Of War“ hervor, der eine düstere Anklage gegen die Kriegsgewinnler ist. In geradezu wütend-eindringlichem Ton verglich er diese Hintermänner mit Judas („Like Judas of old/ You Lie and deceive“) und bezichtigte sie, den Abzugshahn zu spannen, den dann ein anderer abdrücken soll. Dylan klagte hier die nukleare Aufrüstung, den militärisch-industriellen Komplex in Amerika sowie die skrupellosen Politiker an, die glaubten, einen Weltkrieg zu gewinnen. Obwohl „Masters Of War“ keine eindeutige Ode an den Pazifismus ist, wurde der Song zur Hymne gegen den Vietnamkrieg.

Der Song „Bob Dylan’s Blues“ ist eine Mischung aus Countrymusik und Blues mit viel Mundharmonika-Untermalung. Der Titel sollte anfänglich auch der Arbeitstitel für das ganze Album sein. Dylan wollte damit wohl auf die große Anzahl der Bluesstücke hindeuten, die er in diesen Monaten auf genommen hatte. Der apokalyptisch-epische Song „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“, mit 6:51 Minuten der längste Titel des Albums, ist ein Zwiegespräch zwischen einem Vater und seinem Sohn. Auf die zweizeiligen Fragen des Vaters („Oh, where have you been, my blue-eyed son?“) antwortet der Sohn mit apokalyptischen Visionen. Themen wie menschliches Leiden, Krieg und Umweltzerstörung werden mit einer virtuosen Bildhaftigkeit angesprochen. Dylanologen sind der Ansicht, dass mit „schwerer Regen“ die Anfang der Sechziger verbreitete Angst vor radioaktiven Wolken nach den Atombombentests in der Atmosphäre gemeint ist, was Dylan aber verneinte. Er wollte von allen Untergängen sprechen, die die Menschheit treffen könnten. Dylan äußerte sich später zur Entstehung des ungewöhnlichen Textes: „I wanted to get the most down that I knew about into one song, the most that I possibly could, and I wrote it like that.“

In dem illusionslosen Song „Don’t Think Twice, Its All Right“ geht es um Liebe und Abschied. Dylan verarbeitete hier seine Enttäuschung nach der Trennung von Suze Rotolo, seiner ersten großen Liebe: „It ain’t no use in calling out my name, gal/ I can’t hear you any more […] I give her my heart but she wanted my soul/ But don’t think twice, it’s all right.“ Als Rotolo nach ihrem Italien-Aufenthalt nach New York zurückgekehrt war, kühlte die Beziehung der beiden jedoch ab. Dylan war inzwischen berühmt und hatte eine Affäre mit Joan Baez, die den unsentimentalen Song wenig später coverte. Die folgenden zwei Jahre waren die beiden die ungekrönten Häupter der Protestbewegung des Folks.

Wehmütig fügt Dylan in dem nostalgischen Song „Bob Dylan’s Dream“ Bilder mit biographischem Hintergrund aneinander. Er denkt an alte Freunde zurück, mit denen er früher zusammen war. Eine verschworene Runde, die gelacht und gesungen hat bis in den frühen Morgen. Sie dachten kaum daran, einmal alt zu werden, doch ihre Wege trennten sich. Zehntausend Dollar gäbe er sofort her, „if our lives could be like that.“ Das Motiv des Traums taucht bei Dylan zwar schon früh auf; erstaunlich jedoch ist, dass sich der 22-Jährige, scheinbar seiner momentanen Situation überdrüssig, hier bereits in seine Jugendzeit zurücksehnt. Der Song „Oxford Town“, mit 1:50 Minuten der kürzeste Titel des Albums, bezieht sich auf die Rassenunruhen im Jahr 1962 an der University of Mississippi, als der erste afroamerikanische Student James Meredith nur unter Schutz der Bundespolizei, die Präsident John F. Kennedy entsandt hatte, in die Universität aufgenommen werden konnte. Drei Tage dauerten die Unruhen, bei den zwei Zivilisten ums Leben kamen.

Eine erneute Hommage an Woody Guthrie ist der Song „Talkin’ World War III Blues“, der ebenfalls in die Reihe von Dylans Protestliedern gehört. Der Song entstand während der Kuba-Krise, die die Welt an den Rand eines Dritten Weltkriegs führte. In einem Alptraum hat er einen Atomkrieg unten in der Kanalisation überlebt und irrt dann durch die fast menschenleere Stadt. Am nächsten Tag landet er auf der Psychiater-Couch eines Docs, dem er von seinen irren Erlebnissen berichtet. Diese Konstellation erlaubt es Dylan, das ernste Thema mit Selbstironie und Satire zu behandeln. Am etwas versöhnlichen Ende des Songs zitiert Dylan dann noch Abraham Lincoln: „I’ll let you be in my dreams if I can be in yours.“

Die beiden folgenden Titel „Corrina, Corrina“ und „Honey, Just Allow Me One More Chance“ sind Songs, in denen Dylan sein Liebesleid beklagt („I’m a-thinkin’ ’bout you, baby/ I just can’t keep from crying“ bzw. „I’m lookin’ for a woman/ Needs a worried man“). „Corrina, Corrina“ ist übrigens der einzige Titel des Albums mit einer Bandbegleitung. Im letzten Song „Shall Be Free“ beschreibt Dylan in absurden Bildern den desolaten Zustand der amerikanischen Gesellschaft der 1960er Jahre: Der Spießbürger sitzt vor dem Fernseher, die Hausfrau kreischt und krakeelt herum und vor der Kirche wirbt ein Wahlkampfredner für sein öffentliches Amt. Selbst US-Präsident Kennedy weiß keinen Weg aus diesem muffigen Schlamassel und ruft bei Songwriter Bob an („My friend, Bob, what do we need to make the country grow?“), der ihm den spöttischen Rat gibt, die Sexsymbole Brigitte Bardot, Anita Ekberg und Sophia Loren zu importieren.

Obwohl The Freewheelin’ Bob Dylan das zweite Album von Bob Dylan ist, könnte man es mit seinen elf Eigenproduktionen durchaus als sein eigentliches Debütalbum bezeichnen, in dem er die sozialen und kulturellen Bewegungen seiner Zeit reflektierte und gesellschaftliche Missstände anprangerte. Es ist jedoch kein ausschließlich politisches Album, auch Liebes- und Anti-Liebeslieder machen den Reiz der Plattenveröffentlichung aus. In den mit Metaphern, Anspielungen und neuen Wortschöpfungen durchsetzten Songs blitzt das ungeheure Erzähltalent des jungen Songwriters durch, der vor allem wegen seiner Texte wahrgenommen wurde, die allerdings erst in der gesungenen Form zur vollen Entfaltung kommen. Dylans Geschichten werden erst erzählbar durch ihre musikalische Performanz. Ebenfalls sichtbar sind erste poetische Spuren amerikanischer (Beat Poets, Whitman) und europäischer (Rimbaud, Lorca, Apollinaire) Autoren, mit denen sich Dylan in diesen frühen Jahren intensiv auseinandersetzte. Suze Rotolo hatte ihn außerdem auf Bertolt Brecht aufmerksam gemacht. Im Frühjahr 1963 arbeitete sie als Assistentin an dem Brecht on Brecht-Stück von George Tabori mit. Überhaupt hatte die Tochter italo-amerikanischer Kommunisten mit ihrem Interesse fürs Theater und ihrer politischen Arbeit bei einer Bürgerrechtsorganisation eine enorme Wirkung auf den jungen Dylan. „Suze hatte sich schon viel eher als ich mit den Themen Gleichberechtigung und Freiheit auseinandergesetzt. Ich habe mit ihr über meine Songs gesprochen“, bekannte Dylan später in einem Interview.

Bei den Sessions für sein Zweitalbum hatte Dylan nicht weniger als 36 Songs aufgenommen, von denen es jedoch nur 13 auf das offizielle Album schafften. Von den „vergessenen“ Songs (Outtakes) erschienen später neun Titel in der legendären Bootleg Series, Vol. 1-3. Darunter einige Songs, in denen sich Dylan u.a. mit dem Rassenproblem im Süden der USA auseinandersetzte und die der Zensur seiner Schallplattenfirma zum Opfer gefallen waren. So erschien das Album auch ohne den Song „Talkin’ John Birch Paranoid Blues“, ein satirischer Blues über die rechtsgerichtete John Birch Society, was Dylan zunächst äußerst wütend machte. Zähneknirschend stimmte er schließlich zu … die politische Zensur der McCarthy-Ära hatte immer noch lange Arme.

Neben seinem dritten Album The Times They Are A-Changin’ (1964) gehört The Freewheelin’ Bob Dylan zu Dylans stärksten Alben seiner frühen Phase und für mich zum Besten, was Bob Dylan je gemacht hat. Ein Urteil, das auch persönlichen Erinnerungen geschuldet ist. In den frühen 1960ern begann meine Begeisterung für Literatur und Musik. Shakespeare, Brecht, Novalis, Büchner, Kleist, Hesse verschlang ich querbeet und teilweise parallel. Reclam sei Dank. Waren die Reclam-Bändchen mein Literatur-Türöffner, so war es bei der „Hottentottenmusik“ (wie die Erwachsenen sie nannten) ein alter Volksempfänger, den mir Verwandte geschenkt hatten. Im Rückblick mutet es wie ein Witz an, dass ich ausgerechnet mit der „Goebbels-Schnauze“ The Beatles, Bob Dylan, The Troggs, The Animals oder Manfred Mann für mich entdeckt habe.

In den DDR-Medien war diese Musik allerdings nicht vertreten. („Mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen“ – Walter Ulbricht 1965). So gab es auch keine Schallplatten mit westlicher Beatmusic oder Rock’n’Roll. Erst mit dem Gesetz über die „Staatsbürgerschaft der DDR“ 1967 und der damit verbundenen staatlichen Souveränität kam es auch zu einer gewissen Lockerung auf kulturellem Gebiet. So erschienen mit Pete Seeger (1967) und Joan Baez (1970) die ersten Folk-LPs. Von den Kulturverantwortlichen wurde Bob Dylan nun ebenfalls als „Friedensheld“ anerkannt – mit der Veröffentlichung seines Albums The Freewheelin’ Bob Dylan (1967) unter dem schlichten Titel Bob Dylan. Die LP war allerdings nur für Phonoclub-Mitglieder erhältlich. Heute erzielt die Rarität auf Internet-Portalen mitunter horrende Preise. Der „normale“ DDR-Dylan-Fan musste allerdings noch bis 1980 (zweite Auflage 1989) warten: die LP Bob Dylan’s Greatest Hits (Label Amiga) versammelte zwölf Dylan-Songs aus den Jahren 1963 bis 1965. Die heiß begehrte Platte, eine Lizenzproduktion von CBS Records International, war jedoch „nur unter dem Ladentisch“ zu haben – eine sogenannte „Bückware“. Der erste musikalische Dylan-Fußabdruck in den DDR-Medien war allerdings Marlene Dietrich zu verdanken. Ihre deutschsprachige Coverversion „Die Antwort weiß ganz allein der Wind“ erschien 1964 auf einer Amiga-Single (B-Seite: „Sag Mir, Wo Die Blumen Sind?“, Original von Pete Seeger „Where Have All The Flowers Gone?“).

Am 17. September 1987 war es dann endlich soweit, Bob Dylan trat im Berliner Treptower Park vor ca. 80.000 Zuschauern auf. Zur 750-Jahr-Feier von Berlin hatte die DDR-Führung zahlreiche internationale Stars eingeladen – auch um dem Festprogramm im westlichen Teil der Stadt etwas entgegenzusetzen. Angetrieben von der west-östlichen Feier-Konkurrenz konnten neben Bob Dylan Udo Jürgens, Bruce Springsteen, Carlos Santana und andere in Ost-Berlin auftreten. Dylans Open-Air-Konzert (gemeinsam mit Roger McGuinn und Tom Petty and The Heartbreakers), das als großes Friedenskonzert der FDJ vereinnahmte wurde, war allerdings für viele glückliche Kartenbesitzer etwas enttäuschend, denn ihr großes Idol entfleuchte, ohne Zugabe, ohne ein einziges Wort oder eine politische Geste an seine Fans gerichtet zu haben, von der Bühne. Selbst Transparente wie „We love Bob!“ oder „The Times They Are A-Changin’“ (eine versteckte Anspielung auf die DDR-Verhältnisse) konnten den Meister nicht bewegen. Damit hatte Dylan, der nie Pseudokommunikation mit seinem Publikum betrieb, sicher ungewollt die Hoffnungen der Staatssicherheit der DDR erfüllt, die „provokatorisch-demonstrative Handlungen“ befürchtet hatte.

Nicht unerwähnt sollen die Dylan-Publikationen während der DDR-Zeit bleiben, auch wenn sie überaus spärlich waren. 1968 erschien im Ost-Berliner Eulenspiegel-Verlag die Anthologie internationaler Protestsongs, in der u.a. Texte von Bob Dylan (Übersetzungen von Masters Of  War und With God On Our Side), Phil Ochs, Franz-Josef Degenhardt oder Dieter Süverkrüp abgedruckt waren. Die DDR-Führung verfolgte 1968 die internationale Entwicklung, hervorgerufen durch die Studentenunruhen und vor allem durch den „Prager Frühling“, mit großer Sorge. So fühlte sich der Herausgeber der Anthologie befleißigt, in seinem Vorwort zu betonen, dass „Protestsongs natürlich in erster Linie in Ländern entstehen, deren Verhältnisse den Protest provozieren.“

Die beliebte Lyrikreihe Poesiealbum, die seit 1967 monatlich im Verlag Neues Leben erschien und auf 32 Seiten immer einen deutschen oder internationalen Dichter vorstellte, widmete im Januar 1983 Bob Dylan das Heft 189. Die Übertragungen stammten von verschiedenen DDR-Schriftstellern bzw. von dem Bukowski-Übersetzer Carl Weissner.

Die spartanischen Möglichkeiten an Konzerten, Platten und Publikationen waren den Dylan-Fans in der DDR einfach zu wenig, viel zu wenig – ihnen blieben nur Radio, Fernsehen und West-Verwandtschaft. Einige von ihnen waren bereits in die Jahre gekommen, als sich dann mit der politischen Wende 1989/90 und der deutschen Einheit völlig neue Möglichkeiten ergaben. In den frühen 1990er Jahren erwarb ich – inzwischen ein Mittvierziger – dann zahlreiche CDs von Bob Dylan – vor allem seine frühen Alben, in denen das Rebellische seiner Songs für mich besonders spürbar war. Meine persönlichen Erinnerungen waren aber die Erfahrungen einer ganzen Generation in 1960er Jahren.

 

Dieser Beitrag wurde dem von Dieter Lamping und Sascha Seiler herausgegebenen Sammelband May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben entnommen:

Titelbild

Dieter Lamping / Sascha Seiler (Hg.): May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2021.
160 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783936134803

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