Vom Spielen mit der Krankheit

In ihrem Sammelband „Krankheit in Digitalen Spielen“ laden Arno Görgen und Stefan Heinrich Simond zum interdisziplinären Blick auf Krankheiten in Computerspielen ein

Von Martin JandaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Janda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Krankheit – verstanden als Abweichung von einem körperlichen Idealzustand – ist ein Konzept, das nicht wenigen Computerspielen zumindest als Spielmechanik inhärent ist: Die Spieler/innen sollten ihre Spielfigur nach Möglichkeit vor Krankheit bewahren, damit das Spiel nicht erschwert wird oder durch den Tod der Figur sogar ein Ende findet.

Die digitalspielerische Krankheit ist jedoch mehr als nur Antagonist von Verwaltung und Erhaltung eines möglichst prall gefüllten Lebensbalkens und damit eines dem erfolgreichen Spielen zuträglichen Körperzustands der Spielfigur. Denn Krankheit kann als Konzept nur bestehen und als Begriff ge- und missbraucht werden, wenn es ein anderes Konzept gibt, zu dem sie in Relation steht: Gesundheit.

Zugleich können diese beiden Antagonisten nur interpretiert werden, wenn es eine Institution gibt, die sich der Auslegung dessen annimmt, was unter krank und gesund zu verstehen sei: Medizin. Medizin ist damit nicht allein als unschuldiges Zwischeneinander einer Patient-Arzt-Beziehung, sondern als Instrument sozialer Strukturierung und Kontrolle zu verstehen, dessen Einfluss durch die Vermittlung medizinischen Wissens – und damit auch die Medizin einbettende und medizinisches Wissen zu erzeugen gestattende Ideologie – auch in Computerspiele eindringt. Die scheinbaren Antipoden Gesundheit und Krankheit sind keine Wissensmonolithen, vielmehr haben sich beide über die Medizinhistorie hinweg als den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten anpassbare Kategorien erwiesen.

Die Brenzligkeit der Medikalisierung, also besagte – man möge das Wortspiel verzeihen – Durchseuchung sozialer Bereiche durch Medizin, um bio- und psychologische Deutungshoheit und Handlungsmacht über eigentlich nicht-medizinische Bereiche zu erlangen, wird in den Beiträgen des hervorragenden, wenngleich sehr theorielastigen ersten Kapitels offengelegt. Zugleich wird deutlich, dass nicht allein ‚die Medizin‘ verantwortlich ist, wenn es um die Grenzziehung von Normalität und pathologischer Normabweichung geht.

Mediale Artefakte tragen ihren Teil ebenfalls dazu bei, dass Vorstellungen und Wissen von Krankheit und deren Betroffenen beim Publikum zirkulieren, neu verhandelt oder zementiert werden. Mediale Artefakte befinden sich dabei in einem Spannungsfeld von ästhetischen Konventionen, einer realistischen Darstellung von Krankheiten und produktionsseitiger Marktorientierung. Wenn letztere auf Publikumserwartungen abzielt, wird deutlich, dass dominante Darstellungsweisen von Krankheiten – und seien sie noch so stereotypisch – nicht nur von Produktionsseite, sondern auch von Rezeptionsseite zu verantworten sind. Die mediale Handhabe von Medizin und medizinischen Wissens lässt sich also nur als sozialpolitischer Akt verstehen, wobei Medikalisierung die Rolle als potenziell politisch nutzbares Mittel zukommt, um Menschen anhand von Physis und Psyche im Sinne von Foucaults Biopolitiken greif-, form- und lenkbar zu machen.

Nach dieser Legung des theoretischen Fundaments und der Hervorhebung der damit unbestreitbaren Relevanz des Forschungsthemas widmen sich die Beiträge des zweiten Kapitels der Analyse der Repräsentation psychischer Krankheit in Computerspielen. Über Untersuchungen von technischen Dispositiven, Ästhetiken und Inszenierungsstrategien kommen etliche Autor/innen voneinander unabhängig, aber doch nahezu einhellig zum Fazit, dass Computerspiele das Potenzial haben, das pathologische Fremdpsychische erleb- und erfahrbar zu machen.

Die These des Erleb- und Erfahrbarwerdens psychischer Erkrankungen ist jedoch aus zweierlei Gründen ein ärgerlicher Trugschluss. Erstens scheint diese These aufgrund eines falschen Verständnisses des Mediums Computerspiel aufzukommen. Offensichtlich muss es noch immer für nötig gehalten werden, die Möglichkeiten von Computerspielen zu überschätzen, um die Forschung am Spiel überhaupt zu rechtfertigen. Zwar haben Computerspiele in der Tat das Potenzial, durch entsprechende Darstellungs- und Inszenierungsweisen Verständnis und Empathie für die dargestellten Figuren und deren realweltliche Pendants zu erzeugen und zu fördern. Doch letztendlich können Computerspiele aus ihrem medienspezifischen Inventar an Symbolen bloß eine komplexitätsreduzierte Repräsentation realweltlicher Gegebenheiten anbieten. Dieses semiotische Grundlagenwissen lässt sich folglich für den betreffenden Kontext dergestalt zuspitzen: Die Repräsentation einer Depression ist keine Depression.

Dass zweitens diese Überschätzung der Möglichkeiten von Computerspielen schließlich in den Fehlschluss eines Erlebbarwerdens psychischer Krankheit mündet, ist schlicht fahrlässig. Denn sie setzt die symbolische Repräsentation des (pathologischen) Fremdpsychischen und die daraus gegebenenfalls beeinflussten Handlungsmöglichkeiten in einem Computerspiel mit einem Bündel an Symptomen gleich, die mitunter nicht ansatzweise repräsentierbar sind. Nach den Autor/innen ist die Repräsentation einer Depression offensichtlich mit einer Depression deckungsgleich. Derartige Fehlinterpretationen müssen unbedingt vermieden werden, um nicht Gefahr zu laufen, die teils langanhaltenden Erfahrungen von psychisch Erkrankten durch die temporäre und freiwillig gewählte Erfahrung mit dem Computerspiel zu verharmlosen und damit neuen Stigmatisierungen Vorschub zu leisten.

Nach dem Pathologischen im Psychischen folgen mit dem dritten Kapitel Betrachtungen von körperlichen Krankheiten in Computerspielen. Vanessa Platz und das Autor/innen-Duo Elsa Romfeld und Torben Quasdorf zeigen neben den Unterschieden in Ästhetik und narrativer Rahmung der Spiele Re-Mission und Pandemie deren deutliche Gemeinsamkeit im Verständnis von Krankheit. In beiden Spielen sind die Spieler/innen die Antagonist/innen von Krankheit. In Re-Mission müssen die Spieler/innen als Nano-Roboter innerhalb eines menschlichen Körpers Krebszellen durch gezielten Beschuss vernichten, sich also in vorderster – oder treffender: innerster – Front von Angesicht zu Angesicht dem Feind gegenübertreten.

In Pandemie hingegen erfolgt die Schlacht gegen weltumspannende Viruserkrankungen vom Feldherrenhügel aus, da die Verbreitung von pandemischen Seuchen in Form von Viren selbst nicht darstellbar oder relevant ist, sondern in der symbolischen Repräsentation von Gefahrenlagen, die sich durch statistische Kennwerte aufgrund der quantitativen Überwachung der viralen Ballung in menschlichen Populationen ergeben. Analog zu Kriegsspielen wie Risiko oder Axis & Allies geht es unter Rückgriff von militärischem Vokabular um die Planung der Befreiung und Kontrolle von vormals vom gegnerischen Virus besetzten Landflächen. Diese Landflächenkontrolle ist dabei auf Techniken der Überwachung ausgerichtet: Es muss stets das Wissen um das Infektionsgeschehen vorhanden sein und aktualisiert werden, damit entsprechend reagiert werden kann. Dass hierbei durch die Unterwerfung unter das Diktum der Genesung der Population Überwachung und soziale Kontrolle legitimiert und eingeübt wird, lässt sich als kritisch erachten.

Im Verbund gelesen erlauben Platz als auch Romfeld und Quasdorf die These, dass ein rein auf biomedizinischem Wissen beruhendes Verständnis von Krankheit dazu neigt, sich einer Kriegsrhetorik zu bedienen: Krankheit ist ein Feind, von Krankheit befallenes Gebiet – sei es Körper oder Landflächen – muss bereinigt werden. Krankheit erweist sich damit nicht als rein deskriptiver, sondern als ein gegen sich selbst gerichteter appellativer Begriff. Damit zeigen die Autor/innen, welche Macht Institutionen zufällt, die über die Definition von Krankheit und Gesundheit bestimmen und welche (krankhaften) Auswüchse aus dem Paradigma des zwanghaften Vermeidens von Krankheit entstehen (können).

Im vierten, auf Health Games ausgerichteten Kapitel beleuchten Martin Thiel-Schwez und Anne Sauer die Hintergründe und Herausforderungen bei der Entwicklung von gesundheitsförderlichen Spielen. In ihrem Beitrag legen die beiden Autor/innen die demotivierenden Rahmenbedingungen dar, um von Krankenkassen akzeptierte Health Games zu produzieren. Dass an erster Stelle die hohen Qualitätskriterien als Hindernis für einen massentauglichen Gesundheitsmarkt stehen, mag zunächst durchaus positiv erscheinen, da ein Gesundheitssystem nach Möglichkeit die medizinisch tauglichsten Produkte bieten sollte. Dass dabei aber Spiele-Entwickler/innen bislang noch weitgehend jegliche – und vor allem finanzielle – Unterstützung von Institutionen des Gesundheitssystems vermissen müssen, beschränkt das Angebot an Produkten mit zertifizierter medizinischer Expertise auf sehr wenige unabhängig produzierte Spiele – und diese werden bislang zu selten von den Krankenkassen bezahlt.

Nach den vorangegangenen hermeneutisch orientierten Texten ist die die Lektüre dieser lehrreichen Mischung aus Thesenpapier und Erfahrungsbericht zweier Spiele-Entwickler/innen ausgesprochen erfrischend, lässt aber ein ernüchterndes Bild von Berichterstattung, Politik und Gesundheitswesen zurück, die sich einige Fragen gefallen lassen müssen. Gibt es eine Voreingenommenheit gegenüber den Wirkungen von Computerspiele? Wirkungen von Computerspielen scheinen in der Regel nur von breitem öffentlichen Interesse zu sein, wenn es im Rahmen neu aufkochender ‚Killerspiel-Debatten‘ um deren Potenzial geht, aus Spieler/innen schießwütige Terrorist/innen zu machen.

Positive Effekte scheinen in der breiten Öffentlichkeit nicht thematisiert werden zu wollen. Wie steht es um die Innovationsfreude eines Landes, wenn neue medizinische Lern- und Therapiekonzepte weitgehend privat finanziert werden müssen und das „Computerspiel auf Rezept“ ein kaum realisiertes Konzept ist? Hieran schließt sich unweigerlich die Frage an, ob es sich ein Gesundheitswesen erlauben kann, den Markt für medizinisch anwendbare Computerspiele kapitalstarken Unternehmen zu überlassen, die sicherlich vor allem hohe Verkaufszahlen im Auge haben? Und hieraus schließt sich wiederum an: Wie verhält es sich mit institutionellen Kontrollmechanismen und Qualitätssicherung dieser für den freien Markt produzierten Spiele, oder provokanter: Kann das psychische und physische Wohl der Spieler/innen gewährleistet werden, die auf Verkaufsfähigkeit hin entwickelte ‚Health Games‘ spielen?

Nach diesem Fragenkatalog verbleibt an dieser Stelle eine letzte: Wie ist der vorliegende Sammelband einzuordnen und zu bewerten? Es ist sehr erfreulich, dass mit diesem ersten dem Thema Krankheit in Computerspielen gewidmeten Sammelband neben dem multidisziplinären, akademischen Blick auch produktionsseitige Stimmen Gehör finden. Wie bei Sammelbänden üblich variiert die Qualität der insgesamt 19 Beiträge, jedoch ist diese Varianz hier recht beträchtlich: Dass in den Kapiteln 2-4 auf jeden sehr starken auch ein sehr schwacher Beitrag kommt, ist eher ungewöhnlich. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Herausgeber die Relevanz des Themas nicht durch Quantität, sondern durch konsequente Qualität untermauert hätten.

Bis sich dieses Thema im medienwissenschaftlichen/-pädagogischen Diskurs etabliert hat und weitere thematisch ähnliche Bücher erscheinen, wird dieser Band jedoch ohne Zweifel die erste Anlaufstelle für ein an Krankheit und/oder Gesundheit in Computerspielen interessiertes Publikum bleiben. Dennoch ist es nicht einleuchtend, dass die von den Herausgebern entwickelte Typologie der Konstruktion von psychischen Störungen in Computerspielen keinen eigenen Beitrag erhalten hat, sondern nur gelegentlich in den Beiträgen der Herausgeber selbst zitiert wird. Interessierte müssen sich folglich gezwungenermaßen an Martin Hennigs und Hans Krahs Spielzeichen III. Kulturen im Computerspiel / Kulturen des Computerspiels (2020) halten, wo Görgen und Simond diese Typologie erstmalig schriftlich vorgestellt haben. Überdies wird es eine zynische Fußnote der Veröffentlichungsgeschichte des Sammelbands bleiben, dass angesichts der hohen gesellschaftlichen Relevanz von Covid-19 lediglich ein einziger Beitrag dem Thema Pandemie gewidmet ist – und dieser ausgerechnet kein Computer-, sondern ein Brettspiel behandelt.

Titelbild

Arno Görgen / Stefan Heinrich Simond: Krankheit in Digitalen Spielen. Interdisziplinäre Betrachtungen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2020.
466 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837653281

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch