Erich Fried – Politischer Lyriker im Handgemenge

In „Gegen Entfremdung“ vollziehen Witt-Stahl und Zuckermann einen Gedankenaustausch über die zentralen Aspekte von Frieds Werk

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Idee zu diesem Buch ist fraglos originell: Statt Biographie oder literaturgeschichtlicher Untersuchung, statt Essay oder aktualisierendem Pamphlet publizieren die beiden Autoren ein – schriftlich geführtes – Gespräch, in dem sie die markante Rolle reflektieren, die Erich Fried als politischer Lyriker und öffentlich wirkender Intellektueller etwa dreißig Jahre lang, von Mitte der 50er Jahre bis zu seinem Tod 1988, gespielt hat.

Kein Streitgespräch, sondern ein Gedankenaustausch, der um die zentralen Aspekte von Frieds Werk kreist. Zumeist handelt es sich um Vorgaben der Hamburger Journalistin Susann Witt-Stahl, auf die der israelische Philosoph Moshe Zuckermann ergänzend, philosophisch und historisch präzisierend eingeht. Das Ganze ist in zwei Blöcke geteilt, die sich zum einem der Lyrik und zum anderen Frieds Rolle als Intellektueller in der alten Bundesrepublik widmen. Vorangestellt ist eine Einleitung, die die zentralen Punkte umreißt. 

Es stellt sich die Frage, inwieweit Frieds Werk auch heute noch wirken kann. Denn es ist zunächst einmal als Werk eines Autors zu verstehen, der – fast sein ganzes Leben im Londoner Exil lebend – auf die Zustände in der alten BRD einzuwirken suchte. Er hielt dabei am Deutschen als Sprache fest – dies scheint geradezu die Bedingung für sein kämpferisches und kritisches Schreiben überhaupt, wie Moshe Zuckermann hervorhebt. Zudem blieb er einem „jüdischen Humanismus“  verpflichtet, der dazu führte, dass Fried die Zustände in der BRD, deren politische Führung sich seit 1952 gegenüber dem jungen Staat Israel in einer Art Wiedergutmachungspose gefiel und jedes weitere „Eingedenken“ weit von sich wies, äußerst kritisch sah.

Denn für Fried – wie auch für die etwa gleichaltrigen Autoren Heinrich Böll und Peter Weiss – waren die „Bedingungen der Möglichkeit“ des Faschismus im Westen keineswegs grundsätzlich verändert. Umso hellhöriger war Fried für jede Form des Autoritarismus, Militarismus oder der Geschichtsvergessenheit. 

Vorrangiges Mittel seiner Lyrik ist die Sprach- und Ideologiekritik, das meist lakonische Zuspitzen von Widersprüchen, die sich an sprachlichen Verlautbarungen aller Art – von Redensarten (wie: „ach du liebe Zeit“) bis zu ideologischen Kampfformeln (wie etwa „Befriedung“) – nachweisen lassen. Das Ziel ist also das direkte Ansprechen von Zuhörern und Lesern. Frieds Lyrik ist vor allem in den 60er Jahren operativ, auf Anlässe und Ereignisse bezogen, zu denen Stellung zu beziehen er ermutigt. Entlarvt wird die öffentliche Heuchelei auf allen Ebenen. Fried betrachtet eine solche Entlarvung als weltverändernd, da sie die persönliche und politische Emanzpation befördert.

Die allgemeine „Entfremdung“ soll so überwunden werden. Inspiriert von den Marxschen Frühschriften und deren Emphase einer wahren Humanisierung, aber auch von Philosophen wie Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, soll der allgemeine Verblendungszusammenhang, der eine Wahrnehmung der eigenen Interessen wirksam verhindert, aufgehoben oder abgebaut werden. Doch anders als Adorno spricht Fried die Zustände direkt an und bezieht auch Stellung, etwa zum Vietnamkrieg, den er als antikolonialen Befreiungskrieg sieht. Die Gedichtsammlung zu diesem Thema – „und Vietnam und“ (1966) ist ein Meilenstein politischer Lyrik und zugleich ein Höhepunkt der Außerparlamentarischen Opposition in den sechziger Jahren.

Offene und öffentlich wirksame Stellungnahmen und Appelle dieser Art haben die Herrschenden regelmäßig zu entsprechenden Repressalien veranlasst, Repressalien, die bis heute – etwa in der Verunglimpfung seiner Lyrik durch staatliche Stellen, der Entfernung von Texten aus Schulbüchern usw. – anhalten. Ein Vorwand dafür liefert Frieds angebliche Sympathie für die Stadtguerillabewegungen sowie für die Aktionen der Baader-Meinhof-Gruppe Mitte der 70er Jahre, deren Mordaktionen er keinesfalls gebilligt hat. Charakteristisch für Fried ist der weltweite Blick, seine Unterstützung gilt den Befreiungsbewegungen der 80er Jahre sowie einer umfassenden, tief empfundenen Menschenfreundlichkeit, die sich bis auf eine Art „Feindesliebe“ erstrecken kann. Seine Kritik richtet sich schon früh gegen die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland, womit er seine eigene, auf jüdischer Leiderfahrung basierende Existenz in Frage gestellt sieht. Seine Solidarität gilt den Leidenden, den Opfern von Gewalt und Krieg, nicht den Tätern.

Der Ausblick auf ein Weiterwirken Erich Frieds erscheint beiden Autoren abschließend als höchst ungewiss, denn verglichen mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der 70er und 80er Jahre hat sich der Freiraum für eine operative Lyrik wie die Erich Frieds noch verringert. Das gleiche gilt für Intellektuelle, die öffentlich kritisch Stellung beziehen und den allgegenwärtigen, die Realität verzerrenden Sprachregelungen nicht folgen.

Die Breitenwirkung, die Fried als Autor und Vortragender, als politischer Aktivist in einer zeitweise in Bewegung geratenen Republik hatte, ist heute kaum noch denkbar. War früher – also in den Jahren von etwa 1965 bis 1988 – Protest, wenn auch in den Grenzen der „repressiven Toleranz“, möglich, ist dies heute angesichts des Vorherrschens eines neoliberalen Mainstreams kaum noch der Fall. Protest ist zwar immer noch erlaubt, wird aber sogleich ins Randständige, Radikale oder gar Antidemokratische abgedrängt. Kaum denkbar, dass heute ein Lyriker oder eine Lyrikerin ein kontroverses Thema aufgreifen oder die überall wirksamen Sprachregelungen angreifen kann. 

Doch gerade dies sollte nicht davon abhalten, die Werke Frieds, die in einer vierbändigen Werkausgabe vorliegen, zu lesen, um damit das durchaus mögliche Totschweigen zu umgehen. Das Gesprächsbuch von Susann Witt-Stahl und Moshe Zuckermann mag dazu als passable Einführung dienen. 

Titelbild

Moshe Zuckermann / Susann Witt-Stahl: Gegen Entfremdung. Lyriker der Emanzipation und streitbarer Intellektueller. Gespräche über Erich Fried.
Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783864893216

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