Weit entfernt von großer Literatur

Ulrike Kolb schreibt mit „Erinnerungen so nah“ ein sehr persönliches Buch über ihr an Erfahrung und Erlebnissen reiches Leben und ihren Blick auf die deutsche Geschichte – der literarische Anspruch wird indes auf der Strecke gelassen

Von Anna-Zoe MauelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Zoe Mauel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichtsbücher übermitteln vor allem Fakten, keine Erlebnisse, und genau das, was man als junger Mensch in Deutschland gerne von seinen Großeltern erzählt bekommen hätte, kann meist nicht ausreichend greifbar gemacht werden — Antworten auf Fragen wie: Wie war das damals eigentlich, direkt nach dem Krieg? Wie hast Du das alles erlebt?, die aber so oft unbeantwortet geblieben sind. Geschichtsbücher halten sich meist nicht mit dem Alltäglichen und manchmal fast Banalen auf, doch gerade solche Erzählungen sind es, die dem jungen Menschen ein Stück Vergangenheit nahebringen können.

Dies ist die Stärke der ersten Hälfte des Buches von Ulrike Kolb, denn die ersten 100 Seiten sind ein durchaus spannendes Zeitzeugnis, das einen Einblick gibt in Kolbs Kindheit und Jugend im Saarland als Spross einer mittelständischen Industriellenfamilie und ihrer Rotariereltern; sie erzählt von aus heutiger Sicht teilweise seltsam anmutenden, auch verstörenden Ereignissen: von den Folgen des Nazismus im Alltag, von der Art und Weise, wie man in den 40ern und 50ern mit Kindern umgegangen ist, von Kinderheim und Bestrafung und Missbrauch, von der Angst vor den Kommunisten, vom Rassismus der Gesellschaft, von sozialer Ungleichheit und auch von der komplizierten Beziehung zu ihrer Mutter, die sich immer mehr in ihrer Psychose verliert. „So war das Vergangene allgegenwärtig, auf sinnliche Weise“, schreibt Kolb einmal, und meint damit Erfahrungen, die wir heute nicht mehr machen können; sie meint die Ruinen, die Verstümmelungen, die von Leid gezeichneten Menschen.

Was den Leser besonders beschäftigt, ist dieses Nicht-Wissen-Wollen der Bevölkerung, das auch heute noch teilweise die deutsche Gesellschaft prägt – man denke an die Debatte um Heideggers Schwarze Hefte. Genau diese Probleme spricht Kolb an; so erzählt sie zum Beispiel von Chagall, von seinem Geburtsort Witebsk, der von den Nazis zerstört und dessen Bevölkerung vernichtet wurde. Einer der Organisatoren dieses Verbrechens war Walter Schellenberg, über den Kolb schreibt: „Beim Nürnberger Prozess waren viele Zusammenhänge noch nicht bekannt, und schlau, wie Schellenberg war, hatte er kurz vor Ende des Krieges ein paar Juden gerettet. Jemand aus meinem nahen Freundeskreis hat in diese Familie eingeheiratet. So nah.“

Kolb schafft es, die Komplexität dessen darzustellen, womit viele Deutsche konfrontiert waren: Entsetzen über das, was gerade erst geschehen war, Unverständnis und Grauen, Wut und Ablehnung, auch Nicht-Wissen-Wollen; auf der anderen Seite das Bewusstsein, dass man Teil genau dieser Gesellschaft ist, die es so weit hatte kommen lassen, das Bewusstsein der persönlichen und, für die folgenden Generationen, der historischen Schuld.

Interessant ist auch die Beschreibung der Suche nach einer neuen Sprache, denn der deutschen Bevölkerung fehlten die Worte, wie Kolb schreibt; man hatte damals kein Vokabular, sagt sie, über die eigenen Ängste zu sprechen; es fehlte „überhaupt das Bewusstsein von seelischen Dimensionen“ nach dem Krieg. Dieses Problem der Sprache dringt in die engsten Beziehungen ein: „Die qualvoll fehlende Sprache bildete eine riesige Leere zwischen uns. Ich blätterte in den Büchern auf seinem Nachttisch, um aus seinen Markierungen wichtiger Stellen Hinweise auf seinen Seelenzustand zu finden.“ So weit spricht das Buch den Leser durchaus an.

Der zweite Teil des Buches hingegen ist größtenteils kein anschauliches Zeitzeugnis mehr, sondern die Reise eines Ichs durch, wie die Autorin es selbst mehrmals ausdrückt, verschiedene „Ideologien“. Alles wird mitgenommen: die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, das Kommunenleben, die Ökologie-Bewegung, die antiautoritäre Kindererziehung, Gruppentherapien, die Stadtflucht, die Begeisterung für indische Spiritualität etc.

Aufschlussreich ist die intensive Auseinandersetzung mit den verwerflichen Ansichten einiger deutscher Linker über Israel und das Judentum, doch oftmals stört eine gewisse Naivität, die sich im Text äußert. Über Georg von Rauch zum Beispiel, der ihre Adresse hatte, da sie Mitglied einer „nette[n] Wohngemeinschaft, die immer helfen würde“, war, und dessen Gruppe den gescheiterten Anschlag auf die Berliner Synagoge in der Fasanenstraße am 9. November 1969 zu verantworten hat, schreibt sie: „Hätte ich damals dieses Flugblatt gesehen, ich hätte Georg nicht mehr als attraktiven Anarchisten bewundert.“

Störend ist nicht nur die Naivität, sondern auch die „weibliche“ Verhaltensweise, die Kolb sich hier selbst zuschreibt. Noch mehr irritiert es, wenn sie ihren weiteren Weg zusammenfasst in den Worten: „Neuer Mann, neue Wohnung, neue Ideen.“ Manchmal gleitet der Diskurs in die Banalität ab, wenn zum Beispiel die Autorin in der Reflexion über die Veränderung des eigenen Körpers feststellt: „Das Schönheitsideal ist im reichen Europa auf extreme Schlankheit fixiert.“

Das deutsche Bildungsbürgertum huldigt der eigenen Weltanschauung, wenn es nach Kreta fährt, dort ein Kloster besichtigen will und zu diesem Zwecke jemanden sucht, „der uns die Klosterkirche öffnen und etwas zu der Geschichte des Klosters erzählen konnte.“ Kurz darauf kommentiert Kolb: „Was wir jetzt erfuhren, löschte alle schönen Erlebnisse aus.“ Es geht um Ereignisse, die sich während des Zweiten Weltkrieges zugetragen haben. Man liest dann: „Diese Begebenheit überschattete die restlichen Tage unserer Zeit auf Kreta. Wir empfanden eine so tiefe Scham, Deutsche zu sein, dass wir uns fortan als Schweizer ausgaben.“ Im Anschluss an Frau Kolbs facettenreiche Analyse des Verhältnisses der Deutschen zu ihrer Vergangenheit kann eine solche Aussage den Leser nur verwundern.

Die Ideologieversessenheit und der Widerspruch zwischen dem bürgerlichen und dem linken Lebensentwurf werden zu wenig thematisiert: 

1968 war ein Aufbruch, eine unbeschreibliche Lust auf neues Wissen, auf neue Erfahrungen, eine tolle Neugier. Mein Vater finanzierte mir den Lebensunterhalt. Wir gründeten einen Kinderladen, wie es damals hieß.

Im Kontext der neuen Methode der Kindererziehung erwähnt Kolb die Frankfurter Schule. Im Folgenden stellt sich dem Leser jedoch die Frage, inwiefern Adorno präsent ist, wenn man in einem Abschnitt über Ulrike Meinhof liest: 

Auch wenn es ihr psychisch und physisch schlecht ging, weil sie in Isolationshaft saß – solche Ansichten sind dadurch nicht zu erklären. Oder doch? Ist es das deutsche Unterbewusstsein, das in der Situation des haftbedingten seelischen Zusammenbruchs durchschlägt?

Adorno hat doch im Gegenteil gezeigt, dass ein solcher Begriff, also die Annahme der Existenz eines deutschen, in gewisser Hinsicht kollektiven Unterbewusstseins, das Ergebnis eines eigentlich dem Faschismus in die Hände spielenden Gedankengangs ist und einer kritischen Analyse der Ideologie und der Reaktionsweise der Gesellschaft auf diese im Wege steht. Die Klassenfrage wird mit einer teilweise betroffen machenden Anmaßung diskutiert: 

So ganz ungefährlich ist es also nicht, in der Nachbarschaft eines Bordells zu wohnen. In unserer damaligen politischen Weltsicht betrachteten wir die Zuhälter und die Prostituierten als die Ärmsten der Armen, Lumpenproletariat, für dessen Befreiung wir kämpfen mussten. Wir diskutierten darüber, ob wir sie in unsere WG zum Essen einladen sollten, um ihnen zu verstehen zu geben, dass wir nicht auf sie herabsehen.

Am wohligsten lebt es sich eben nicht in der Auseinandersetzung mit den großen Fragen des Klassenkampfes und der Umgestaltung der Gesellschaft, sondern in der Beschäftigung mit durch und durch bürgerlichen Themen wie den Verkehrsproblemen der Frankfurter Bourgeoisie im Zusammenhang mit der Umgestaltung der Zeil, im Zuge derer Kolb eine Bürgerinitiative gegründet hat. Sie kommentiert: „Diesmal hatten wir – anders als in den Fabriken – die Mehrheit der Angesprochenen hinter uns.“ Freilich, die Bürger, die den Dreck und Gestank der Autos nicht vor der eigenen Haustür haben wollen, sind sich einig, wohingegen die Arbeiterinnen in der Fabrik, die Kolb für den Generalstreik agitieren sollte, nur den Kopf schütteln können.

Die zweite Hälfte des Buches enttäuscht auch in Bezug auf Kolbs Schreiben: „Und ein Federchen Trauer mir ums Herz.“ Die Verwendung des Diminutivs fasst den Schreibstil Ulrike Kolbs in dieser zweiten Hälfte recht gut zusammen. Während es ihr zu Anfang gelingt, sachlich und akkurat ihre Kindheit und Jugend darzustellen, und sie dem Leser durch den Verzicht auf einen gefühlsmäßigen Kommentar die Möglichkeit bietet, sich selbst eine Meinung zu bilden, so wirkt die zweite Hälfte oftmals sentimental, sogar geschmacklos.

Wenn sie nach Auschwitz fährt und feststellt, dass das Einzelne „wie die Babyflasche […] eine besonders traurige Wirkung“ auf sie habe, dann zuckt man als Leser unwillkürlich zusammen. Ebenso, jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen, wenn sie gegen Ende des Buches über eine komplizierte Beziehung urteilt: „Es war eine Zeit von himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Von Mordgelüsten und Liebesrausch. Eine Psychoanalyse half mir, diesmal zu bleiben.“ Lesenswert ist dieses Buch sicherlich für eingefleischte Kolb-Begeisterte. Für alle anderen erzeugt Freude am Lesen dennoch der erste Teil – mit dem sehr treffenden Titel.

Titelbild

Ulrike Kolb: Erinnerungen so nah.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338357

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