Süßsalziges Popcorn

Benedict Wells erfindet Coming-of-Age in „Hard Land“ nicht neu, nimmt das Thema aber mit großem Gespür ernst

Von Johanna ItterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Itter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benedict Wells liebt starke erste Sätze. Das kennt man bereits aus seinem Erfolgsroman Vom Ende der Einsamkeit, anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste und mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Und auch Hard Land startet gekonnt fesselnd: „In diesem Sommer verliebte ich mich und meine Mutter starb.“ Der Satz ist aber auch ein Spoiler und nimmt Schockmomente vorweg.

Die Handlung spielt in den 80er Jahren in einer erzkonservativen, verlassenen Kleinstadt in Missouri namens Grady. Hard Land ist ein klassischer Coming-of-Age-Roman. Dem ängstlichen und schüchternen Außenseiter Sam drohen Sommerferien bei den verhassten Verwandten, sein Ausweg ist ein Job im örtlichen Kino, dem Metropolis, welches zum Jahresende schließen soll, womit wieder eine Attraktion in Grady wegfällt – noch weniger Leben, noch mehr Langeweile. Doch einen Sommer lang ändert sich für Sam erstmal so einiges. Denn im Metropolis trifft er auf eine seit Jahren eingeschworene Clique, die ihn nach einiger Zeit in ihre Runde aufnimmt.

Alle drei sind älter als Sam und haben ihren Schulabschluss gerade hinter sich: der Schwarze Footballspieler Hightower, Cameron, der sowohl auf Frauen als auch auf Männer steht und die coole Kirstie, die mit ihrer Zahnspange und der kleinen Zahnlücke für Sam die Frau seiner Träume ist und – man ahnt es schon – seine erste große Liebe. Mit ihnen erlebt er jeden Tag Abenteuer, sie feiern, rauchen, hängen am See oder auf dem Dach des Kinos ab und machen Mutproben. Sam erfährt in dieser Zeit aber vor allem, was wahre Freundschaft bedeutet und wie schnell sich das Leben innerhalb weniger Wochen ändern kann.

All das erinnert an Filme wie Breakfast Club (1985) und Ferris macht blau (1986), Klassiker aus den 80er Jahren. Ganz bewusst hat sich Wells für eine Verlagerung der Handlung in diese Zeit entschieden – es ist eine Hommage an die Filme, Literatur und Musik dieser Ära. In dem Kino, in dem die vier Jugendlichen arbeiten, laufen immer wieder genau jene Filme, die die Handlung so spiegeln (American Graffiti, Zurück in die Zukunft). Das hinterlässt unweigerlich die Frage, ob Coming-of-Age-Geschichten dieser Art nicht längst auserzählt sind und unter der Last ihrer genialen Vorbilder schnell eingehen. Schafft es Benedict Wells, mehr als nur eine Hommage zu schreiben? Oder erscheint Hard Land einfach gerade zur rechten Zeit, in der sich so viele nach einer ereignisreichen, prägenden Phase wie der Jugend zurücksehnen, in der Glück und Leid so nah beieinander lagen? Ist es Eskapismus pur?

Die ersten der insgesamt 49 Kapitel (eine Referenz auf das Schild vor der Kleinstadt mit der Aufschrift: „Entdecke die 49 Geheimnisse von Grady“, die natürlich nie alle gelüftet werden, da es vielmehr um die Geheimnisse des eigenen Ichs geht) lesen sich so unterhaltsam und rasant wie auch der Beginn dieser Ferien für Sam sein muss. Mitreißend erzählt ist man besonders durch die Ich-Perspektive Sams sehr nah am Erlebten, auch wenn es ein Rückblick auf diesen Sommer ist. Trotzdem ist die Lektüre überschattet vom ersten Satz. Die Krankheit der Mutter, ihr naher Tod, das ewige Warten, das alles hängt wie ein Damoklesschwert über Sam und auch über der Lektüre. Jeder Augenblick ist für ihn wie „süßsalziges Popcorn“. Und wie Sam den Weg zum Kino oft mehr geliebt hat als die Treffen selbst, so findet auch die ausgelassene Stimmung, durch die immer wieder die harte Realität, Sorgen und Ängste in Bezug auf die kranke Mutter durchscheinen, mit ihrem plötzlichen Tod ein Ende.

Ausgerechnet am Folgetag der legendären Party zu Ehren von Sams 16. Geburtstag und kaum eine Stunde nach seinem ersten Kuss, natürlich von Kirstie, passiert das Unglück. Mehr Euphancholie („Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird.“), ein Neologismus von Kirstie, geht nicht.

Der plötzliche Tod lässt jedoch auch Raum für eine Handlung jenseits von Klischees. Die Gespräche zwischen den Jugendlichen werden ernster, und durch die Sorge umeinander werden die Freundschaften tiefer. Sie bringt jeden dazu, sich den Anderen mehr zu öffnen. Und eben genau an diesem Punkt endet der Roman nicht.

Sams gerade erst neu gewonnenen FreundInnen ziehen nach diesem Sommer zunächst alle aus Grady weg, beginnen ihr Studium in einer Großstadt oder gehen lange auf Reisen. Erneut bleibt nur Sam zurück, nun wieder der Außenseiter, der in der Cafeteria allein an einem Tisch sitzt. Die eigentliche Entwicklung des Protagonisten beginnt an dieser Stelle. Wie lebt man weiter nach so einem Ausnahme-Sommer? An Fragen der Schuld und der Fehler im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter sowie dem Umgang mit dem Schmerz reift er am meisten. Auch die Art, wie sich die Beziehung zu den drei FreundInnen entwickelt, zeichnet ein realistisches Bild des Erwachsenwerdens. Es ist ein Erwachsenwerden unter schweren Bedingungen, bei dem nicht das Ende des Sommers den Höhepunkt der Melancholie markiert, sondern der Winter danach.

Benedict Wells Romane werden vor allem durch die Figuren getragen, die so wunderbar vertraut und lebendig sind. In Hard Land gelingt dies in erster Linie bei den vier Jugendlichen, deren Charakter im Verlauf der Handlung sichtbar an Tiefe gewinnt. Probleme wie Rassismus und Homophobie, mit denen man in einer konservativen Kleinstadt konfrontiert wird, führen weg von einer archetypischen Figurenzeichnung, wie man sie aus Breakfast Club kennt. Nebenfiguren wie die Mutter sind zwar nahbar und erwecken gekonnt Empathie, werden jedoch immer wieder mit denselben Eigenschaften beschrieben, was etwas eintönig wirkt. Auch die Probleme mit dem Vater werden auf die klischeehafteste Weise gebrochen.

All das verzeiht man gerne, denn Benedict Wells Erzählton vermag es, manche inhaltlichen Unebenheiten gerade zu bügeln. Das Oszillieren zwischen extremen Emotionen gelingt ihm mühelos, wobei seine Sprache nie in Richtung Kitsch rutscht. Es sind Bilder und fantasievolle Vergleiche wie diese, die seine Sprache so lebendig machen, manchmal jedoch auch zu häufig eingesetzt werden: „Wenn die First Base Küssen war und der Home Run Sex, dann saß ich noch in der Umkleidekabine und band meine Schuhe.“

Um das Genre und den Aufbau, in bestimmter Hinsicht auch die Pointe des Romans, sich selbst erklären zu lassen, nutzt Wells den Trick des Buchs im Buch, welches ebenfalls Hard Land heißt: Es ist ein Gedichtzyklus des einzigen bekannten Schriftstellers von Grady, der jedes Jahr von allen Elftklässlern gelesen wird, also auch von Sam nach den Sommerferien. Nicht zufällig ist er wie das 5-Akt-Modell eines Dramas aufgebaut – auch Wells Hard Land ist in fünf Teile gegliedert. Und so kann die Katharsis eben erst im letzten Teil, „Die Pointe“ genannt, stattfinden, das Herauslösen aus der Jugend erst gelingen, wenn Sam sich seiner Trauer und seinem Schmerz stellt. So stellt das Ende diese Themen, trotz all der Leichtigkeit des Tons, ins Zentrum. Wells nimmt das Erwachsenwerden ernst.

An Wells Vorgänger kommt Hard Land in Sachen Vielschichtigkeit und präziser Ausarbeitung seines immer wiederkehrenden Themas – Einsamkeit von Außenseitern – nicht heran. Die zeitliche Situierung und die vielen Referenzen verhindern dies. Berührend und unterhaltsam ist Hard Land aber allemal. Es ist die perfekte Sommerlektüre, wenn man mal wieder ein Buch innerhalb weniger Tage verschlingen will. Passend dazu hat der Autor eine Spotify-Playlist mit 80s-Songs aus dem Buch erstellt, wodurch Hard Land auch zum akustischen Ereignis wird.

Titelbild

Benedict Wells: Hard Land.
Diogenes Verlag, Zürich 2021.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071481

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