Lidewine in der Wortlawine

Martin Mosebach brilliert in seinem Roman „Krass“ mit Liebe zum Detail

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Normalerweise fehlen den Menschen unserer informationsgeschwängerten Zeit viel zu oft die passenden Worte. Beim Büchner-Preisträger Martin Mosebach ist das genau umgekehrt: Er findet die richtigen und die auch noch in Hülle und Fülle. In seinem Roman Krass, in dem er die Leser*innen mit seiner gleichnamigen Hauptfigur in die mondäne Welt der Schönen und Reichen entführt, zu deren Glanz – typisch Mosebach – auch die Verlierer und die Hässlichen beitragen, geht es mal gepflegt, mal manieristisch zu.

Das fast schon surrealistisch anmutende Ensemble derer, die im Gefolge des superreichen Geschäftsmannes, Ralph Krass, als Dekoration, Bestätigung für sein Ego oder schlicht als abhängiges Fußvolk dienen, befindet sich im ersten Teil des Romans auf einer dekadenten Neapel-Reise. Die Szenerie wäre ebenso hundert Jahre vor dem November 1988, in dem der Roman beginnt, denkbar, vielleicht sogar zeitgemäßer. Die illustre Reisegruppe besteht aus einem südfranzösischen Chefarzt, einem italienischen Cavaliere und einem deutschen Geschäftsfreund, alle drei mit Partnerin. Krass beschäftigt – wie erwartet – einen promovierten Sekretär und leistet sich bald auch eine aufsehenerregende, weibliche Begleitung in der Person der kecken Lidewine:

Sie hatte die gleiche Gabe wie die Mutter, Sprachen weniger zu lernen, als sich von ihnen anfliegen zu lassen und in einem sehr melodischen Singsang mit flämischer Grundierung vom Französischen ins Italienische und von dort ins Deutsche zu wechseln, mit vielen, aber originellen Fehlern, die ihren Sätzen Farbigkeit verliehen.

„Wer Ralph Krass sieht, der versteht, auf wen es ankommt“, heißt es an einer Stelle des Romans. Er macht sich die Hände nicht an seinem Geld schmutzig, denn er lässt alles seinen Sekretär aus einem Geldkoffer in bar bezahlen, während er seinen unsympathischen Marotten frönt, wie niemanden zu grüßen, sich nie zu bücken, sich jede Art von Service und Dienstleistern zu kaufen und selbst für das Reden seinen Dr. Jüngel einzuspannen. Er feiert sich durch andere und seine Macht über andere. Woher sein verschwenderischer Reichtum kommt, warum er gerade mit diesen Menschen zu dieser Zeit in und um Neapel logiert und sich amüsiert, spielt keine Rolle.

Im zweiten Teil, der ein Jahr nach Neapel spielt, befindet sich der ich-erzählende Jüngel mittellos in der französischen Provinz, deren Einsamkeit und Tristesse ihm über die Unwegsamkeiten seines Lebens, seine Scheidung, hinweghelfen sollen. Er trifft Frau Krass, die in ihm den „Kuppler und Zuhälter“ in der „Parasitenblase“ um ihren Mann sieht. Mit dem düsteren Klosterschuster Desfosses unternimmt er eine „Excursion“ durch die Dorfkneipen der Umgebung und hört sich dessen traurige Lebensgeschichte an. Die Stelle im Kloster hat ihn nämlich vor der Verwahrlosung und dem Abgrund bewahrt. Ob nun Desfosses, Madame Lemoine und ihre Wellensittiche oder ein stummer Kuhhirte – die Gäste der Auberge de l’Abbaye führen Jüngel verschiedenste Lebenswege und Schicksale vor Augen.

Zwanzig Jahre später, im dritten Teil des Romans, rückt der Autor seine dekadente Hauptfigur in der Kulisse des pulsierenden Kairos wieder in den Mittelpunkt. Der alte Krass logiert im Kairoer Hotel Windsor mit dem nostalgischen Charme und dem „gesellschaftlichen Stil, der in der Zwischenkriegszeit in Europa üblich gewesen war“. Ein geschäftliches Treffen mit einem ägyptischen General – es ging wohl um Waffen – lief schief. Ganz allein und auf sich gestellt, was er gar nicht gewohnt ist, taumelt er durch das überhitzte „Downtown-Kairo“ und schläft erschöpft in einer Moschee ein. Sein Hotelzimmer kann er nicht mehr bezahlen und wird hinauskomplimentiert. In dieses zieht nach ihm Professor Jüngel von der Universität Wuppertal ein, der zufällig auf die Kunsthändlerin Lidewine Schoonemaker trifft. Dem geborenen Pechvogel, „ökonomisch und erotisch ein Verlierer“, gönnt der Autor schließlich noch ein sexuelles Erlebnis im Schnelldurchlauf. Krass gelingt es auch ohne Geld, körperliche Fitness und seine angeheuerte menschliche Staffage noch ein letztes Mal, den jungen Rechtsanwalt Mohammed für sich zu gewinnen. Menschen „erobern“ war schon immer eine seiner Stärken.

Der Roman bleibt bis zum Schluss auf wenige Handelnde und wenige Orte beschränkt. Die Geschichte wirkt dabei wie eine intensive, kunstvolle Träumerei: Beschreibungen und Sprachstil stehlen dem Romangeschehen die Schau. Vor allem Liebhaber verbaler fremdwortdurchsetzter Opulenz oder beschämender Histörchen kommen auf über 500 Seiten auf ihre Kosten. Mosebach schafft für seine Figuren unentwegt amüsante, aber auch peinliche Situationen. Wenn er den befehlsgewohnten, alle manipulierenden Lebemann plötzlich mittellos, mit gesperrter Kreditkarte vor einem Geldautomaten stehen und daran scheitern lässt, dass er die Maschine nicht einschüchtern kann, oder ihn beim Duschen beobachtet, werden alltägliche Banalitäten durch die ironisch überhöhte Sprache zum Mikro-Leseerlebnis.

So ausufernd und unrealistisch die Szenerien sind, so manipulativ wird man mitgerissen. Neben einem Ralph Krass, der sich das Leben hineinstopft und es ohne zu kauen verschlingt, ist der Leser doch nur ein staunendes Kind.

Titelbild

Martin Mosebach: Krass.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
528 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783498045418

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