Autoren und das Autoritäre

Ekaterina Vassilieva zeigt in ihrem Essay „Fantasie an der Macht“, wie der gegenwärtige russische Autoritarismus sich der Mittel der Postmoderne bedient

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon die kleine Verschiebung im titelgebenden Zitat, das auf den Slogan „Fantasie an die Macht“ des Künstlers Pierre Soulages verweist und zu einem Schlachtruf des Pariser Studentenaufstandes im Mai 1968 wurde, deutet an, worum es der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ekaterina Vassilieva in ihrem Essay geht. War Soulages Ausspruch Ausdruck des utopischen Glaubens, die freie, ungezügelte Fantasie sei ein Gegenentwurf zu restriktiven autoritären Systemen, zeigt Vassilieva, wie sich der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter Putin in Russland allmählich neu herausgebildete Autoritarismus die Fantasie gewissermaßen einverleibt hat. So schwer ist dieser neue Autoritarismus auch deswegen zu fassen, weil er es versteht, sich Gegnerschaft zu eigen zu machen, abweichende Meinungen nicht in erster Linie unterdrückt, sondern sie in seinem Sinne umdeutet und auf neue Situationen kreativ, fantasievoll eben, reagiert.

Vassilievas theoretisches Fundament bilden unter anderem Michel Foucault, Giorgio Agamben oder Boris Groys‘ Gesamtkunstwerk Stalin, allerdings, und das macht ihre Arbeit so ausgesprochen interessant, erschließt sie dem Leser zeitgenössische russische Künstler, Autoren und Theoretiker, sodass das Bild eines Diskurses entsteht, den man in der breiten Öffentlichkeit hierzulande kaum abgebildet findet – vielleicht mit der kleinen Ausnahme der Internetplattform dekoder.org, für die auch Vassilieva tätig war und auf der unter anderem tagesaktuelle Texte aus den unterschiedlichsten russischen Medien ins Deutsche übersetzt werden.

Schon früh stellt Vassilieva eine Verbindung her zwischen Autorschaft und Autoritarismus, nicht nur, indem sie darauf verweist, wie Despoten sich von jeher als Dichter versuchten, von Benito Mussolini bis Saddam Hussein, sondern auch indem sie zeigt, dass insbesondere der Politiker Putin gerade von Künstlern selbst als Künstler wahrgenommen wird, etwa wenn Putin mit seinem anfänglich kaum greifbaren, weil je nach Situation und Erfordernis wandelbaren Politikstil in dem Aufsatz Putin als Installation von 2001 des damaligen Duma-Abgeordneten und Dichters Evgenij Bunimovič als Konzeptkünstler, als „postmodernistische Führungsfigur“ gesehen wird, oder wenn Oleg Vorotnikov, Gründer des Künstlerkollektivs ‚Woina‘ (‚Der Krieg‘), die man aufgrund ihrer provokanten Aktionen vielleicht als systemkritisch wahrgenommen haben mag, die Annexion der Krim 2014 als einen der Street Art verwandten Akt feiert, bei dem Regeln, Konventionen und Gesetze schlicht ignoriert werden.

Was also diesen Stil und damit modernen Autoritarismus ausmache, sei, dass er sich selbst einem kritischen Zugriff immer wieder entzieht, indem er bewusst Paradoxien erzeugt und Widersprüche nebeneinander stehen lässt, wie Vassilieva anhand einer sehr detaillierten und aufschlussreichen Analyse des Klassik-Konzerts im Jahr 2016 in den Ruinen Palmyras, anlässlich der Vertreibung des IS, überzeugend darlegt.

Besonderes Augenmerk aber legt die Autorin auf das Verhältnis von Autoren zum Autoritären. Während es nicht überraschen mag, dass ultrarechte Schriftsteller wie etwa Alexander Prochanow, dessen Roman Herr Hexogen Vassilieva ausführlich referiert und in seinen politischen Kontext einordnet, in ihren Werken ein nationalistisches Weltbild vertreten, so zeigt sie auch auf, und gerade auf diese Gegenüberstellung kommt es Vassilieva vermutlich an, dass ein Autor wie Viktor Pelewin, der sich autoritärer Vereinnahmung stets zu entziehen versucht, durch eine Art Fatalismus und der Überzeugung, es herrsche eine natürliche hierarchische Ordnung in der Welt, die sich sowieso nicht überwinden ließe, im Grunde Autoritarismus legitimiert, egal wie der Autor selbst dazu steht. Daran, dass der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn, obwohl er von sich behauptete unpolitisch zu sein, auch recht konservative Ansichten vertrat, erinnert die Autorin ebenso wie sie aufzeigt – und das mag noch mehr überraschen – dass ein systemkritischer Autor wie Vladimir Sorokin mühelos vom System vereinnahmt werden kann, indem seine Sprachkritik am Autoritären, bei der er den autoritären Ton ins Groteske übersteigert, von Nationalisten einfach übernommen wird, eine Strategie des Autoritarismus, die Vassilieva an anderer Stelle ganz allgemein folgendermaßen zusammenfasst: „Die Bejahung des Systems enthält schon Elemente seiner Kritik, und die Kritik dient der Bejahung.“

Vassilievas überaus kluge, interessante und vielleicht auch überraschende Analyse des System Putin macht klar, dass die alten Zuschreibungen wie reaktionär – rechts – autoritär, wenn im Grunde auch nicht mit neuen Inhalten aufgeladen sind, sich doch neue Verfahrensweisen zu eigen gemacht haben, sodass altbekannte Kategorisierungen nicht mehr greifen. Bereits bei den reaktionären Bewegungen der neuen Rechten wurde unter anderem von Thomas Wagner in seinem Buch Die Angstmacher festgestellt, dass sich diese Gruppierungen ursprünglich von Linken erprobter Methoden und Vorgehensweise bedienen, und so in der breiten Wahrnehmung immer diffuser werden, schwerer zu fassen und damit auch weniger angreifbar sind, man denke etwa an die Flashmobs der europäischen Identitären oder die rechtsextremen, US-amerikanischen Proud Boys, deren Gründer Gavin McInnes das Lifestyle- und Subkultur-Magazin Vice ins Leben rief, ein Vorreiter des Hipster-Chics ist, und von sich selbst auch weiterhin behauptet, Punk zu sein.

Widersprüche in sich zu vereinen, um so Opposition zu vereinnahmen, ist vermutlich die erfolgreichste Strategie kapitalistischer Systeme, vom Smash-Capitalism-T-Shirt bis zum Ché-Guevara-Poster und (nur auf den ersten Blick allerdings) nicht weniger absurd als McInnes Selbstbeschreibung als Nazi-Punk ist etwa der Titel einer Zeitschrift für Jung-Börsianer: Business Punk. Vassilieva legt dar, dass der heutige Autoritarismus in Russland eine ähnliche Strategie verfolgt, indem er sich den widersprüchlichen ursprünglich eher antiautoritären Methoden der Postmoderne bedient, wobei sie auch klarmacht, dass nicht immer ein allwissender Lenker oder Autor diese Strategie am Reisbrett entwirft, sondern dass sie sich wie am bereits erwähnten Beispiel des Konzerts in Palmyra aus den Funktionsmechanismen des Systems selbst ergibt. Vassilieva interessiert sich vor allem dafür, wie sich russische Literatur und ihre Literaten zu diesem Phänomen verhalten, und so ist es auch nur konsequent, dass sie am Schluss einen kleinen Hoffnungsschimmer in der performativen Lyrik junger russischer Künstlerinnen und Künstler wie Kirill Medvedev, Pavel Arseniev, Galina Rymbu und vor allem Roman Osminkin sieht, die sich, auch weil sie sich abseits des klassischen Literaturbetriebs bewegen, vielleicht nicht so leicht vom System vereinnahmen lassen. Ob diese Künstler allerdings wirklich eine Breitenwirkung entfalten können, und nicht einfach vom russischen Autoritarismus abperlen oder irgendwann von ihm geschluckt werden, wird sich erst noch zeigen müssen.

Titelbild

Ekaterina Vassilieva: Fantasie an der Macht. Literarische und politische Autorschaft im heutigen Russland.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
175 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957579430

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