Zum 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin Sophie Scholl

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Literaturkritik.de (Ltk): Frau Frieling, Ihr kürzlich erschienenes Buch mit dem Titel „Sophie Scholl. Aufstand des Gewissens“ über Sophie Scholl und die Weiße Rose beginnt mit der Beschreibung zweier Situationen, die im strengen Sinn nichts miteinander zu tun haben, aber zeitgleich geschehen. Wir zitieren aus Ihrem Buch:

Während die Studentin Sophie Scholl am frühen Nachmittag des 18. Februar 1943 im Wittelsbacher Palais, dem Gefängnis der Gestapo-Leitstelle München, verhört wird, verlässt Joseph Goebbels in einem kugelsicheren Mercedes das Ministerium und wird zum Berliner Sportpalast chauffiert. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda trifft kurz vor 17 Uhr im Stadtteil Schöneberg ein. In der Veranstaltungshalle ist alles vorbereitet für seinen größten Auftritt. Die Rednertribüne, die er schneidig betritt, ist mit zwei überdimensionalen Hakenkreuzfahnen geschmückt, an der Balustrade über ihr hängt, für jeden sichtbar, ein Spruchband mit vier Wörtern: „TOTALER KRIEG – KÜRZESTER KRIEG“. Vor vierzehntausend ihm begeistert zujubelnden Zuhörern hält der Berliner Gauleiter eine Rede, in der er das deutsche Volk auf den ‚Totalen Krieg‘ einschwört. Als er nach fast zwei Stunden zum Schluss kommt, stellt er den sorgfältig ausgewählten Besuchern zehn rhetorische Fragen, von denen die vierte lautet: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Ein tosendes „Ja!“ ist die Antwort, und der Redner setzt nach: „Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?“ Applaudierend erheben sich die Menschen von ihren Sitzen, der ganze Saal tobt in einer Art Massenhysterie.

Ltk: Warum verweben Sie die beiden Situationen miteinander?

SF: Die Montagetechnik macht es möglich, ein Schlaglicht auf die Strukturen einer Diktatur zu werfen. Es sind die zwei Pole, die mich interessiert haben: das Agieren der Politiker in der Öffentlichkeit und das Agieren der Polizei im Geheimen. Auf der einen Seite der Propagandaminister, der im Rampenlicht steht und scheinbar mit dem Volk verschmilzt; auf der anderen, die der Öffentlichkeit entzogen ist, eine junge Frau, die verhört wird und ahnt, was auf sie zukommt. Denn 1943 muss „der Bürger billigen, was seine Reichsregierung“, tut und jede „Missbilligung“ bringt „den Tod“, wie Golo Mann die politische Situation kurz zusammenfasst.

Ltk: Sie beschreiben, dass Joseph Goebbels mit seiner einstudierten Rede im Berliner Sportpalast eigene Karriereziele verfolgt. Was sind das für Ziele?

SF: Er will seinen Machtbereich erweitern und zum zweiten Mann im NS-Staat aufsteigen. Seine Rede, die die Voraussetzungen für eine Weiterführung des Krieges bis zum bitteren Ende schaffen soll, hat zudem den Zweck, auf Hitler Druck auszuüben. Indem er die Besucher des Sportpalastes auf den ‚Totalen Krieg‘ einzuschwören vorgibt, glaubt er, Hitler zwingen zu können, ihn an der Kriegswirtschaftsplanung des Deutschen Reichs zu beteiligen. Deshalb darf Goebbels nichts dem Zufall überlassen, seine Rede muss bis ins Letzte ausgefeilt sein, das Publikum darf nur aus treusten Parteianhängern bestehen, Sprechchöre müssen einstudierte Parolen von sich geben, eine Hundertschaft muss instruiert sein, im Verlauf der Rede an bestimmten Stellen zu applaudieren, und wie auf ein unsichtbares Kommando hin müssen sich Fahnen und Standarten schwingende Männer erheben. In Goebbels’ großer Inszenierung ist die Kommunikation zwischen ihm als Redner und dem Publikum als Chor abgestimmt wie auf einer Theaterbühne. Bei diesem Spektakel gibt es keine spontanen, individuellen und freien Äußerungen.

Goebbels ist mit seiner Leistung später sehr zufrieden. Beglückt notiert er am 5. März 1943: „Meine Maßnahmen bezüglich des totalen Krieges werden vom Führer vollauf gebilligt. Er lässt sich in diesem Zusammenhang auf das Schmeichelhafteste für mich über meine Sportpalast-Rede aus, die er als ein psychologisches und propagandistisches Meisterwerk bezeichnet. Er habe sie von Anfang bis zu Ende aufmerksam durchstudiert, auch das Auslandsecho gelesen, und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass wir hiermit einen Hauptschlager gelandet hätten. Er ist von der Wirkung geradezu begeistert.“

Ltk: Als Motto stellen Sie ihrem Buch ein Zitat von Immanuel Kant voran. Warum?

SF: Das Zitat von Kant beginnt mit den Worten: „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (,vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen.“

Den Geschwistern Scholl und ihren Mitstreitern geht es nicht um persönliche Vorteile wie Goebbels, sondern um die Zukunft Deutschlands. Ihnen allen ist bewusst, dass ihr Handeln die schrecklichsten Folgen für sie selbst und ihre Familie haben kann. Aber ihr Gewissen lässt ihnen keine andere Wahl. Die kleine studentische Gruppe in München muss den Versuch wagen, die Bevölkerung durch Aufklärung zur Umkehr zu bewegen. Die sechs Flugblätter, die sie insgesamt verfasst und vom Sommer 1942 bis zum Februar 1943 verteilt und mit der Post verschickt, sollen die Menschen dazu bringen, gegen das verbrecherische Naziregime passiven Widerstand zu leisten.

Ltk: Wie ist es möglich, dass Sophie Scholls Gewissen so ausgeprägt ist? Unzählige Menschen in Deutschland haben doch lange Zeit die Ziele der Diktatur verkannt und sich ihr unterworfen.

SF: Das ist das Erstaunliche an dem Charakter von Sophie Scholl, die ja bei ihrer Hinrichtung nicht einmal zweiundzwanzig Jahre alt ist. Wie konnte sie über eine Gewissensreife und politische Klarsicht verfügen, die zum Beispiel einem Dichter wie Thomas Mann und einem Philosophen wie Karl Jaspers zu Anfang der Diktatur fehlen? Thomas Mann wird ja erst von seinen Kindern Klaus und Erika auf den richtigen Weg gebracht. Und Jaspers, mit einer Jüdin verheiratet, rät noch 1933 seiner jüdischen Studentin Hannah Arendt davon ab, zu emigrieren; er hält den für Arendt lebensrettenden Schritt für eine „übereilte Dummheit“.

Sophie Scholl hingegen hat sehr früh damit begonnen, durch Selbstbefragung ihr Gewissen zu erziehen. Da gibt es erst einmal eine innere Auseinandersetzung, in der sie sich fragt, ob sie wahrhaftig sei in ihrem Glauben. Sie sucht also das Gespräch mit Gott. Nicht umsonst liest sie im Arbeitsdienst heimlich Augustinus – das Lesen von Büchern war verboten –, bei dem es um die Abkehr von der falschen Religion geht, die eine Umkehr bedeutet.

„O Herr, ich habe es sehr nötig, zu beten, zu bitten. Ja, das sollte man immer bedenken, wenn man es mit anderen Menschen zu tun hat, daß Gott ihretwegen Mensch geworden ist. Und man fühlt sich selbst zu gut, zu manchen von ihnen herabzusteigen! O ein Hochmut! Woher habe ich ihn nur?“, vertraut Sophie ihrem Tagebuch an.

Es bleibt nicht bei der religiösen Auseinandersetzung, sondern es kommt bei Sophie Scholl zu dem für Hannah Arendt unerlässlichen „inneren Dialog“, der zwischen „mir und mir selbst“ stattfindet. Das heißt, Sophie handelt nie ohne Gewissensbefragung, ist niemals gewissenlos. 

Ltk: Sie zählen in ihrem Buch einige Faktoren auf, die zu der besonderen Entwicklung von Sophie Scholls Gewissen geführt und ihr letztlich die Kraft zum Widerstand verliehen haben.

SF: Ja, zunächst spielt das Elternhaus eine große Rolle: Der Rückhalt durch die Liebe der Eltern und durch ihre Toleranz. Der Vater, Robert Scholl, durch und durch Demokrat, er nennt Hitler „eine Geißel Gottes“ und die Nationalsozialisten „eine Rotte von Verbrechern“. Die Mutter, genannt Lina, in schönster Weise gläubig, lehrt ihre Kinder „Nächstenliebe“, ja sogar „Feindesliebe“. So dass keines ihrer fünf Kinder die Feindbilder der Nazis übernimmt, keines einen anderen Menschen als „Untermenschen“ ansieht. Im Gegenteil: Hans befreundet sich an der Ostfront mit einem alten russischen Fischer, zusammen mit seinem Freund Alexander Schmorell begräbt er heimlich die Überreste gefallener Russen, damit ihre Seelen Ruhe finden können. Sophie wendet sich, wann immer das möglich ist, französischen und polnischen Zwangsarbeitern zu. Sie spricht mit ihnen und schenkt ihnen wenigstens ein Lächeln.

Über ihren letzten Besuch bei den Eltern schreibt Sophie Scholl an ihren Freund Fritz Hartnagel: „Ich hatte es Dir ja, glaube ich, schon geschrieben, daß ich 10 Tage daheim war, um dort zu helfen. Diese Tage, obwohl ich nicht viel zu meiner eigenen Beschäftigung komme, tun mir immer wohl, und wenn es nur deshalb wäre, weil mein Vater sich so freut, wenn ich komme, und sich wundert, wenn ich wieder gehe, und weil Mutter um so 1000 Kleinigkeiten besorgt ist. Diese Liebe, die so umsonst ist, ist für mich etwas Wunderbares. Ich empfinde sie als etwas vom Schönsten, was mir beschieden ist.“

Ltk: Was empfinden Lina und Robert Scholl, als sich alle ihre fünf Kinder in der Hitlerjugend betätigen, dort sogar eine Karriere machen und Gruppenführer werden?

SF: Die Eltern diskutieren mit ihren Kindern, streiten mit ihnen, besonders mit den beiden ältesten Inge und Hans. Als sie merken, dass sie nichts ausrichten können, leiden sie und resignieren eine Zeit lang. Als sich auch ihre jüngste Tochter, Sophie, begeistert in die Hitlerjugend einreiht, scheinen die Eltern nicht in derselben Weise unter ihrer Entscheidung gelitten zu haben wie bei Inge und Hans. Sind sie es am Ende nur müde? Oder gibt es ein unzerstörbares Vertrauen zu Sophie? Inge Scholl hat an ihrer jüngeren Schwester später besonders bewundert, dass sie „stolz wie eine Königin“ war. Sie meinte damit Sophies innere Haltung, die ihr ganz eigene Unabhängigkeit. Ebenso sind sich Robert und Lina immer sicher, dass Sophie letzten Endes nicht beeinflussbar ist von falschen Werten. Denn ihre „unantastbaren Freuden“ sind verbunden mit einer unantastbaren Individualität, die sich gegen jede Diktatur behauptet. Hinzu kommt Sophies Liebe zur Familie, die sich an ihrer Liebe zu den Festen im Familienkreis zeigt. Das Band zwischen ihr und ihren Eltern hat sie jeden Tag neu geknüpft, es ist bis zuletzt nicht gerissen.

Ltk: Welche Faktoren spielen noch eine Rolle, die Sophie Scholl von einem begeisterten Jungmädel in der Hitlerjugend zu einer Widerstandskämpferin werden lassen?

SF: Zum Ersten: ihr Gottvertrauen. Das ‚erbt‘ sie sozusagen von ihrer Mutter und übernimmt gleich auch die Naivität der Mutter in diesem Gottvertrauen. Während Sophie sonst, wie Ricarda Huch es beschreibt, „die Gabe eines außerordentlich scharfen Verstandes“ besaß und dazu noch „die seltene Gabe der Objektivität, die sie unfähig machte, sich selbst zu belügen, eine Sache in ein für sie günstigeres Licht zu rücken; sie kritisierte scharf, sich selbst aber am strengsten.“

Zum Zweiten: ihr anbetendes Verhältnis zur Natur. Sie sieht sie ganz als Gottes Werk an. Ihre Beziehung zur Natur verweigert sich allen Einflüssen, die sie sonst umgeben. Nicht die Eltern, nicht die Kirche, nicht der Staat haben ihr mehr zu sagen als die Natur. Dieses Verhältnis ist bei allen Brüchen und Zweifeln, die Kirche, Politik und Gesellschaft hervorrufen, ausschließlich. Der Wille der Nationalsozialisten, sich über den Menschen hinaus auch noch der Natur zu bemächtigen, den letzten freien Raum zwischen Zivilisation und Wildnis zu beherrschen, macht Sophie zu einer Widerständigen, bevor sie noch an politischen Widerstand denkt. Ihre Naturbeschreibungen sind ohne Verherrlichung, ohne Besitzanspruch, sie bestehen aus Freude und Respekt. „Sie waren nicht Gäste der Natur, sondern ihre Kinder, auf das innigste mit ihr verbunden“, konstatiert Ricarda Huch über die Scholl-Geschwister.

Zum Dritten: ihre Lektüre. Die entspricht in keiner Weise den Vorschriften der Nationalsozialisten. Ihrer Klassenkameradin empfiehlt sie, die „Russen“ zu lesen: Leo Tolstoi, Nikolai Gogol und Fjodor Dostojewski. Bei einem Treffen der Gauleiterin aus Stuttgart mit der Leiterin aus dem Untergau in Ulm, der Heimatstadt Sophies, schockiert sie sogar ihre Schwester Inge. Als die Lektüre für die ‚Heimabende‘ ausgewählt werden soll, schlägt Sophie mit Vehemenz den jüdischen Dichter Heinrich Heine vor. Die älteren Mädchen reagieren entsetzt und lehnen den Wunsch ab. Sophie bleibt nur, leise zu sagen, wer Heinrich Heine nicht gelesen habe, kenne die deutsche Literatur nicht.

Selbstständig denkend und beurteilend nähert sich Sophie auch der Bildenden Kunst. Auf Reisen sind Museumsbesuche wichtig, in dem Künstlerdorf Worpswede, unweit von Bremen, beeindrucken sie besonders die Frauen. Zusammen mit Inge macht sie 1938 die Bekanntschaft der Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff sowie der Kunsthandwerkerin Martha Vogeler, und sie sieht zum ersten Mal Bilder von Paula Modersohn-Becker. Von ihr ist Sophie „hell begeistert“. „Sie hat für eine Frau ungeheuer selbständig gearbeitet, sich in ihren Bildern nach niemand gerichtet. Du mußt alles sehen. Nach ihren Bildern glitten alle anderen in der Ausstellung nur so an mir vorbei“, schreibt sie ihrem Geliebten Fritz Hartnagel.

Ltk: Sophie Scholl ist mit vielen Begabungen gesegnet, sie wird von Ihnen einmal als eine „Künstlernatur“ bezeichnet. Womit beschäftigte sie sich schon als junges Mädchen?

SF: Noch ein Kind und im halben Spiel, dann immer ernsthafter, erprobt sie – ohne Zutun der Erwachsenen – ihre Begabungen. Allein zu sein ist für sie wichtig, ihr Auge zu schulen, ohne Anweisung anderer, ihr Gehör und ihre Hände. Zu Haus spielt sie Klavier, erfasst mit dem Stift die Gesichtszüge ihrer Geschwister und modelliert sie in Ton. Beim Arbeitsdienst spielt sie heimlich Orgel – sie liebt Bach –, im halbjährigen Kriegshilfsdienst in Blumberg bei Donaueschingen zeichnet sie die Kinder des Heimes, die ihr besonders ans Herz gewachsen sind. Wenn sie in die Natur geht, nimmt sie Stift und Kreiden mit; mit feinen Strichen, die eine große Sicherheit erkennen lassen, zeichnet sie vor allem Kinder, Jugendliche und ihre Freunde.

Sophie illustriert auch die beiden Märchen Die Kinderhexe und Die Zaubergeige, die Inge erfunden hat, später für einen Freund Peter Pan, für einen anderen Der Nachmittag von Georg Heym.

Die Wahl der Motive von Modersohn-Becker, ihr ‚Weiblicher Blick‘, sprechen Sophie an. Sie selbst zeichnet Säuglinge, Kleinkinder, Menschen in Tätigkeit. Neben dem Zeichenunterricht in der Schule hat Sophie in der Ulmer Schule, die seit 1919 Handwerkern eine künstlerische Zusatzausbildung anbietet, einen Abendkurs in Aktmalerei belegt. Sie klagt: „Wir malen jetzt hier immer männliche Akte, obwohl ich viel lieber weibliche malen würde.“ Der Maler, der sie dazu anhalte, habe gesagt, die Männer seien beim Aktmalen das „Brot“ und die Frauen der „Kuchen“. Sophie bekennt ihrer Freundin Lisa: „Ich möchte aber viel lieber Kuchen!“

Dann ist Sophie eine ausgezeichnete Briefe-Schreiberin, sie hat literarisches Talent, von dem sie oft Gebrauch macht.

Sie ist eine reiche Persönlichkeit und lässt sich schon bei der ersten Vernehmung durch die Gestapo dazu hinreißen, von ihrer „Abneigung gegen die Bewegung“ zu sprechen, weil durch sie „die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht“.

Ltk: Wenden wir uns nun noch einmal dem Politischen zu. Worum geht es in den sechs Flugblättern der Weißen Rose, die ab dem Sommer 1942 bis Februar 1943 entstehen?

SF: Hauptanliegen des ersten Flugblatts ist: den Leser daran zu erinnern, dass der Staat dem Menschen dienen muss – und nicht umgekehrt. Des zweiten Flugblatts: den Leser aufzufordern, sich von den Nazis zu distanzieren, um ihr verbrecherisches Handeln nicht mitzutragen. Des dritten: passiven Widerstand zu leisten, um das Regime zu Fall zu bringen. Des vierten: als Voraussetzung einer inneren Befreiung ein Bewusstsein für Schuld zu entwickeln. Des fünften: für eine Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Ländern nach dem Krieg zu werben. Hier wird zum ersten Mal von Angehörigen der bevorzugten Generation der Nationalsozialisten der Europäische Gedanke angesprochen. Sie fordern die Loslösung vom Nationalgefühl: „Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird“. Im letzten Flugblatt werden besonders die deutschen Studenten angesprochen und in die Pflicht genommen, dass sie sich für die höchsten Werte der Nation, nämlich Freiheit und Ehre, einsetzen.

Der „Kampf um Gedankenfreiheit, freie Meinungsäußerung, Freiheit in der Lebensgestaltung, Toleranz und Wahrung der Menschenrechte“ bildet die Grundlage des Widerstands gegen das NS-Regime, so fasste Eugen Grimmiger die Ziele der Weißen Rose zusammen, der die Gruppe finanziell unterstützte.

Ltk: Haben sich die Verfasser der sechs Flugblätter auch über die Verfolgung der Juden geäußert?

SF: Ja, im Flugblatt II und im vorletzten Aufruf an alle Deutsche! stellen sich die Verfasser eindeutig auf die Seite der verfolgten Juden. So heißt es im zweiten Flugblatt, man wolle die Tatsache anführen, „dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Weise ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann.“ Im vorletzten Aufruf an alle Deutsche! wird die Bevölkerung regelrecht gewarnt: „Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist?“ Die Studenten gehen also davon aus, dass die Deutschen Kenntnis von den Verbrechen an den Juden haben.

Ltk: Hat Sophie Scholl schreibend an den Flugblättern mitgewirkt?

SF: Die Forschung geht davon aus, dass Sophie keines der Flugblätter verfasst hat, wohl auch keinen Abschnitt innerhalb eines Aufrufs. Ihr kamen andere Aufgaben zu: nämlich die organisatorischen.

Sie verwaltet nicht nur das Geld der Weißen Rose, fährt nicht nur in der ganzen Stadt herum und sucht der Reihe nach Papierwarenläden und Postämter auf, um Briefumschläge und 8-Pfennig-Marken in kleinsten Mengen zu kaufen, sondern legt währenddessen in den verschiedenen Stadtteilen einen Teil der Flugblätter aus, manchmal in Telefonzellen, wenn es sich ergibt, in offenstehende Autos oder in Hauseingänge. Alles, was sie tut, muss unauffällig geschehen, jede ihrer Handlungen kontrolliert sein. Das erfordert höchste Geistesgegenwart: Erschöpft und im Zustand innerer Leere kommt Sophie von ihren Stadtrundgängen in die Zwei-Zimmer-Wohnung zurück, die sie mit ihrem Bruder Hans in der Franz-Joseph-Straße 13 bewohnt. Trotz zunehmender Anspannung – „meine Gedanken springen hierhin und dahin, ohne dass ich richtig über sie gebieten könnte“– geht Sophie Tag für Tag ihrer selbst gewählten Arbeit nach.

Ltk: Sich einer Widerstandsgruppe anzuschließen, war lebensgefährlich. Hat die junge Frau die Gefahr ausgeblendet oder sich einer gewissen Todessehnsucht hingegeben? 

SF: Die Art, wie Sophie Scholl in den Tod gegangen ist, ruhig und gefasst, lässt vielleicht den Gedanken aufkommen, sie hätte den Tod gesucht. Dieser Rückschluss ist falsch, sie wollte nicht sterben; nichts lag ihr ferner als Todessehnsucht. Dafür gibt es zahlreiche Dokumente. Eines davon ist ihr letzter Brief, den sie einen Tag vor ihrer Verhaftung an ihr Freundin Lisa Remppis richtet. Er zeigt eine große Lebenslust.

München, 17.2.1943

Liebe Lisa!
Ich lasse mir gerade das Forellenquintett vom Grammophon vorspielen. Am liebsten möchte ich da selbst eine Forelle sein, wenn ich mir das Andantino anhöre. Man kann ja nicht anders als sich freuen und lachen, sowenig man unbewegten oder traurigen Herzens die Frühlingswolken am Himmel und die vom Wind bewegten knospenden Zweige in der glänzenden jungen Sonne sich wiegen sehen kann. O, ich freue mich wieder so sehr auf den Frühling. Man spürt und riecht in diesem Ding von Schubert förmlich die Lüfte und Düfte und vernimmt den ganzen Jubel der Vögel und der ganzen Kreatur. Die Wiederholung des Themas durch das Klavier – wie kaltes klares perlendes Wasser, oh, es kann einen entzücken.
Laß doch bald von Dir hören.
Herzlichst!
Deine Sophie

Ltk: Was haben die Familienmitglieder, die nicht eingeweiht waren in die illegale Flugblattaktion von Hans und Sophie, nach deren gewaltsamem Tod wohl gefühlt und gedacht?

SF: Drei Tage nach der Beerdigung von Sophie und Hans wird die Familie am 27. Februar von der Gestapo abgeholt und ins Ulmer Gefängnis gebracht. Elisabeth wird wegen einer schweren Nierenerkrankung nach zwei Monaten frühzeitig entlassen. Sie irrt in Ulm herum, „um einen Anwalt für uns zu finden. Außerhalb der Gefängnismauer hatte sie fast ein noch schwereres Leben als wir. Sie mußte die Angst der Menschen miterleben, ihre Panik, wenn sie einen Bekannten grüßte. Die meisten blickten zur Seite, als würden sie angesteckt“, erinnert sich Inge Scholl.

Lina und Inge, die sich wegen „Abhörens eines Feindsenders“ zeitweise in Einzelhaft befinden, werden erst Ende Juli 1943 entlassen, auch sie vorzeitig „aus gesundheitlichen Gründen“. Inge, von einer Zellengenossin mit Diphtherie angesteckt, benötigt Monate, um wieder gesund zu werden. Nach der Entlassung aus der Haft müssen die drei Frauen mit weiteren Schwierigkeiten fertig werden: Das Einkommen von Robert Scholl fehlt und die Wohnung am Münsterplatz soll geräumt werden.

Die Familie wird also erst einmal gar keine Zeit gefunden haben, um zu trauern. Dann, nach einer fürchterlichen Zeit der Trauer aber, glaubt Inge, die älteste Tochter, bei ihren Eltern etwas wie Stolz auf ihre beiden hingerichteten Kinder zu bemerken.

Am Ende wissen sie es doch, wissen es ganz genau: Sophie und Hans sind ganz und gar ihre Kinder, Kinder der Familie Scholl.