Tanz zweiter Götter

Über Bettina Stangneths Buchessay „Sexkultur“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bettina Stangneth, eine bekennende Kantianerin, schreibt ein Buch über „Sexkultur“? Das macht neugierig, aber auch etwas misstrauisch. Immerhin verurteilte der Königsberger Philosoph einst die „wollüstige Selbstschändung“, sprich Onanie, als eine Pflichtverletzung des Menschen gegen sich selbst. Wer sich selbst zum bloßen Mittel seines Triebes mache, begehe ein moralisches Vergehen schlimmer als der Suizid! Sex war für Kant, diesen Philosophen ohne Unterleib, nur ein notwendiges Übel zur Fortpflanzung und die Ehe die lebenslängliche Verbindung zweier Menschen zum „wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“. Sollen solch verzopfte Ansichten also nun auch der Lust im 21. Jahrhundert den Garaus machen?

Durchaus nicht, denn zum Glück versteht Bettina Stangneth Kants Vernunftphilosophie besser als der Meisterdenker selbst. Bekannt wurde die Hamburger Philosophin und Historikerin 2009 mit Eichmann vor Jerusalem, einer preisgekrönten Studie über die Pervertierung des Denkens durch die Nazis. Seitdem glänzte sie mit einer Reihe faszinierender Buch-Essays, über unsere Kunst zu lügen etwa oder den ideologischen Missbrauch von Bildern.

In ihrem neuen Buch schreibt die Philosophin nun in wünschenswerter Klarheit, dass eine Aufklärung, die es ernst meine, auch zum Mut auffordern sollte, „sich seiner eigenen Sinnlichkeit ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“. Hinweg also mit all den lustfeindlichen Schauermärchen einer paternalistischen Wissenschaft, von Freuds „Penisneid“ bis zum angeblich drohenden Rückenmarksschwund durch „Selbstbefleckung“! Und Vorsicht auch vor biologistischen Argumenten á la „Homosexualität sei von der Natur nicht vorgesehen“. Denn aus einem Sein, erinnert Stangneth richtig, folgt nun mal kein Sollen – sofern sich nicht die Wissenschaft ohnehin selbst korrigieren muss. Denn nicht Homosexualität, wohl aber Homophobie ist eine spezifisch menschliche Erfindung.

Sozusagen Kant zum Trotz spielt just gerade die Selbstbefriedigung in Stangneths Überlegungen zu einer positiven „Sexkultur“ eine zentrale Rolle – als ein jederzeit zugängliches Medium, um all die Möglichkeiten, die in unseren lustfähigen Körpern schlummern, zu entdecken. Stimmt natürlich – doch ist diese Einsicht alles andere als revolutionär in einer Zeit, in der schon auf Werbeplakaten für Sexspielzeuge geworben wird. Zudem ist Stangneth mit ihrem Lob der Onanie zur Entwicklung einer bewussten Körperlichkeit nicht gerade die erste. Und auch nicht die erste Frau, wenn man an Sexualaufklärerinnen wie Virginia Johnson oder Betty Dodson denkt.

Bevor es in Stangneths Buch sozusagen zur Sache geht, wird eine Menge Abräumarbeit geleistet, die aber nicht immer überzeugt. Über Sex zu sprechen, zumal als Frau, sei auch heute noch eine Herausforderung. Und ist in der Öffentlichkeit doch einmal davon die Rede, gehe es meist nur um seine Schattenseiten, von Pornosucht bis sexuellem Missbrauch. Indes:

Wie sollen wir sinnvoll über Vergewaltigung, Nötigung, Instrumentalisierung der Körper und sexuell motivierte Gewalt sprechen, wenn wir nicht positiv über Sex sprechen? Noch das lauteste ‚Nein!‘ markiert nur eine Grenze, aber es macht nicht wehrhaft, weil nur der kraftvoll ist, der weiß, worum es sich zu kämpfen lohnt. Wer nicht über Sex spricht, kann auch nicht wissen, was das Gegenteil ist. Vor allem aber gelangt man so nicht einmal zur Frage, ob und warum Sex eine erhellende Erfahrung sein könnte, die besonderen Respekt verdient. Auch wenn man es kaum glauben mag: Was uns fehlt, ist tatsächlich schon das Nachdenken darüber, was Sex überhaupt ist.

Dem kann man nur zustimmen, mit einer wichtigen Ausnahme: Was das (positive) Reden über Sex angeht, so scheint zumindest die jüngere Generation längst weiter zu sein, denkt man an vielgehörte Sex-Podcasts wie Oh Baby oder Besser als Sex, in denen sich gerade junge Frauen in herzerfrischender Offenheit über Penisgrößen oder Lieblingspornos austauschen.

In Sachen Pornografie zeigt sich Bettina Stangneth übrigens eher zurückhaltend. Wer sich diesem an sich „harmlosen Vergnügen“ hingibt, so die Philosophin, verpasse nämlich die Gelegenheit, seine ganz eigenen sexuellen Fantasien zu entwickeln. Allerdings könne sich dieses Abenteuer der „sexuellen Selbsterkundung“ durchaus als „Büchse der Pandora“ erweisen, so Stangneth. Dann nämlich, wenn man verstört feststellt, wie anziehend zum Beispiel Gewaltfantasien sein können.

Umso glücklicher kann sich der schätzen, der ein passendes, respektive offenes Gegenüber findet. Denn die Autorin wirbt dafür, seine erotischen Fantasien, gerade auch die befremdlichen, miteinander zu teilen und, sofern niemand dabei zu Schaden kommt, sich auch auf die Wünsche des anderen probeweise einzulassen. Weil Sex, guter Sex, ein „Dialog der Körper“ sei, der sich im Idealfall in einen tantrischen „Tanz zweier Götter“ verwandeln könne. Wer sich von dieser berückenden erotischen Utopie anstecken lassen will, sollte sich Bettina Stangneths Buch nicht entgehen lassen.

Titelbild

Bettina Stangneth: Sexkultur.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001452

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