Sieben Leben für eines?
In Guillermo Martinez‘ Krimialroman „Der langsame Tod der Luciana B.“ wird es immer einsamer um eine argentinische Studentin
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLuciana B. studierte Biologie in Buenos Aires. Nebenbei verdiente sich die junge, schöne und intelligente Frau noch ein paar Pesos dazu, indem sie dem Schriftsteller Kloster als perfekte Sekretärin zur Seite stand. Doch dessen Avancen wich sie aus. Und nicht nur das: Als er sich einmal zu viel erlaubte, zeigte sie ihn bei der Polizei an.
Was folgte, war ein gerichtlicher Vergleich, Klosters Scheidung von seiner Frau und der tragische Tod des Menschen, der ihm wohl am meisten bedeutete, seiner kleinen Tochter.Als in den folgenden Jahren zunächst Lucianas Freund, dann ihre beiden Eltern und schließlich auch noch ihr Bruder ums Leben kamen, verfestigte sich bei der jungen Frau der Gedanke, Opfer eines von Kloster ersonnenen Racheplans zu sein.
In ihrer Not wendet Luciana sich schließlich an den Ich-Erzähler des vorliegenden Romans, einen Schriftstellerkollegen Klosters, mit der Bitte, zwischen ihr und dem offensichtlich rachsüchtigen Mann zu vermitteln. Denn sie fürchtet nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern sorgt sich vor allem um ihre Großmutter und ihre kleine Schwester, die letzten noch übrig gebliebenen Mitglieder ihrer Familie.
An dieser Stelle setzt der im Original 2007 erschienene Roman des promovierten argentinischen Mathematikers und erfolgreichen Schriftstellers Guillermo Martinez (Jahrgang 1962) ein. Und er stellt sowohl seinen Erzähler als auch die Leser sofort vor die alles entscheidende Frage: Ist die sich über mehrere Jahre erstreckenden Unfallserie – Lucianas Freund Ramiro ertrinkt beim Schwimmen im Meer, ihre Eltern sterben nach dem Genuss eines Pilzgerichts, ihr Bruder wird das Opfer einer brutalen Eifersuchtstat und die Großmutter stirbt im Laufe des Romans bei einem Brand des Heims, in dem sie ihre letzten Jahre verbringt – lediglich eine Aneinanderreihung unglücklicher Zufälle oder steckt hinter dem Ganzen ein teuflisch ersonnener Plan? Sind die Unfälle also nichts weiter als perfekt getarnte Morde?
Für Luciana B. ist es natürlich Letzteres, für sie setzt der seiner Tochter beraubte und in der Öffentlichkeit kompromittierte Kloster alles daran, sich für das Erlittene zu rächen. Martinez‘ Ich-Erzähler, für den die junge Frau ebenfalls eine kurze Zeit als Sekretärin tätig war, hat hingegen erhebliche Zweifel daran, dass der von ihm wegen seiner Sprachgewalt beneidete Kollege tatsächlich hinter all dem Unglück steckt, das Luciana früh altern und zum sich verfolgt glaubenden Nervenbündel werden ließ.
Um der Sache auf den Grund zu gehen, beginnt er schließlich ein eigenes Romanprojekt, das sich um die Todesfälle in Lucianas Familie dreht, und bittet Kloster, ihm seine Sicht auf die Ereignisse zu schildern, damit der gefeierte Mann und Träger des Ordens der Französischen Ehrenlegion nicht durch die Recherchen des Kollegen in Misskredit geraten kann.
Allein in Klosters Version hört sich die Geschichte einer unverhältnismäßigen Rache, mit der es ein verzweifelter Vater auf eine ganze, siebenköpfige Familie abgesehen haben soll, anders an. Der Mann, bei dem sich Luciana nach dem Tod ihrer Eltern in einem Brief für ihre unverhältnismäßige und von einer übereifrigen Anwältin befeuerte Anzeige entschuldigte, um ihre noch lebenden Familienmitglieder aus dessen vermeintlicher Schusslinie zu nehmen, will nichts mit den Taten zu tun gehabt haben und versichert, sich auch in Zukunft nicht mit Mordgedanken zu tragen. Allerdings gesteht er, dass er die traumatischen Ereignisse um seine Scheidung und den kurz darauf erfolgten Tod seiner kleinen Tochter seit Jahren in einem Roman zu verarbeiten versuche, in dessen Mittelpunkt das biblische Motiv der Rache stehe und dessen einzelne Kapitel tatsächlich Ähnliches beschrieben, wie es sich später in der Realität ereignete.
Ganz in der lateinamerikanischen Traditionslinie der von philosophischen Fragen geprägten Kriminalerzählung, wie sie etwa Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares in den Texten ihres gemeinsam verfassten Bandes Sechs Aufgaben für Don Isidro Parodi (1942) den Lesern anboten, liefert Guillermo Martínez mit Der langsame Tod der Luciana B. keinen Rätselkrimi im klassischen Sinne. Mitdenken ist durchaus nicht verboten und kann, so wie der Roman aufgebaut und geschrieben ist, auch vergnüglich sein.
Zu einer unumstößlichen „Wahrheit“ aber wird man genauso wenig vordringen wie der Ich-Erzähler, der am Ende erkennen muss, dass ein und dieselben Ereignisse, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, voneinander komplett abweichende Interpretationen zulassen.
Ob es sich bei den Schicksalsschlägen in Lucianas Umfeld um Zufälle oder tatsächlich Morde handelt, bei denen dann wieder die Frage auftauchen würde, wer sie begangen hat: Martínez belässt es in seinem lesenswerten Roman letzten Endes im Unbestimmten. Und wird damit einer Sichtweise auf das, was Kriminalromane leisten sollen, gerecht, wie sie sein Ich-Erzähler den Lesern gegenüber folgendermaßen vertritt: „Was erzählt denn ein Kriminalroman in erster Linie? Nicht unbedingt die Tatsachen, nicht die aufeinanderfolgenden Leichen, sondern die Vermutungen, die möglichen Erklärungen, das, was dahintersteckt.“
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