Klimaschutz duldet keinen Aufschub

Line Nagell Ylvisåkers „Meine Welt schmilzt“ ist ein Hilferuf aus der Arktis

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das arktische Klima Spitzbergens, jener Inselgruppe Norwegens, die weit nördlich des Polarkreises liegt und für Permafrost und Polarlichter bekannt ist, ändert sich rasant. Meine Welt schmilzt lautet daher der Titel eines eindringlichen Hilferufs der Journalistin Line Nagell Ylvisåker. Sie wohnt mit ihrer Familie in der kleinen Hauptstadt Longyearbyen, in der im warmen Winter 2015 eine Lawine das Wohnviertel Lia überrollte. Ylvisåker beginnt ihr Buch mit einer detaillierten Schilderung des Morgens, an dem in bunten Bergarbeiterhäuschen viele Menschen begraben wurden; sie berichtet von der Todesangst der Verschütteten, der Suche nach Überlebenden und der Angst vor weiteren Extremwetterlagen – „falls oder wenn die Arktis schmilzt“.

Immer häufiger werden Unwetter, Platzregen und Erdrutsche, immer häufiger müssen die Einwohner von Longyearbyen wegen Lawinengefahr evakuiert werden, immer früher setzt der Frühling ein. Kalte Luft reicht nicht mehr, um das warme Wasser der Fjorde im Laufe eines Winters abzukühlen. Mit großer Sorge beschreibt Ylvisåker, „dass der Fjord nicht mehr zufriert“. Es gibt immer weniger befahrbares Eis.

„Die Meere verteilen nicht nur die Wärme und den Sauerstoff, sie haben auch über ein Viertel des CO2, das wir Menschen seit dem 19. Jahrhundert ausgestoßen haben, in sich aufgenommen“. Das schwere, kalte Arktis-Wasser nehme CO2 mit in die Tiefe und hält es „über mehrere Hundert Jahre von der Atmosphäre fern“. Warmes und saures Wasser verliert hingegen seine Bindungsfähigkeit. Ylvisåker spricht mit Klimaforschern und fragt sie, welche Bedeutung das Tiefenwasser für die Menschheit hat und welche Folgen schmelzende Gletscher für die Ökosysteme in den Fjorden haben. Sie berichtet von einem Ausflug auf den Billefjord, lässt einen Professor für Ozeanographie sprechen, führt Interviews mit einem Glaziologen und einer Meteorologin und redet mit einer Rentierforscherin am Norwegischen Polarinstitut.

Das Buch ist eine Sammlung von Eindrücken, Recherchen und Gelesenem. Die Tatsache, dass das Meer wesentlich mehr Sonnenenergie aufnehmen kann als das Eis, weil Eis die Sonnenstrahlen reflektiert, wird mehrmals wiederholt. Sicherlich wurde das Buch Stück für Stück geschrieben, Wiederholungen sind womöglich nicht aufgefallen. Ein gründliches Lektorat hätte dies wie auch Ungenauigkeiten beim Gendern – es wird von „Anwohner*innen“ in Longyearbyen und „Wissenschaftler*innen“, aber nur von „Pilotinnen und Piloten“, „Wanderinnen und Wanderern“ und an einer Stelle dann sogar nur von „Wissenschaftlern“ gesprochen – korrigieren können. Die große Bedeutung des Inhalts verringern kleine Flüchtigkeitsfehler nicht.

Spitzbergen wirbt mit Eisbären und Polarlichtern für sich. Zeit für Romantik bleibt in Ylvisåkers Buch nicht. Die Polarnacht wird nur mit einem Satz kurz angerissen. Das Nordlicht sei in Wintertagen „unglaublich schön anzusehen“. Als Delfine ihrem Boot folgen, ist auch dieses nur einen Satz wert. Ihr Besuch in einer Eisgrotte mit marmornen Wänden und Eiskristallen wird nur kurz erwähnt.

Die Autorin will den Fokus auf ihre Recherchen in Studien und im Tagebuch des Polarhelden Helmer Hanssen sowie die Meeresströmungen und die Erforschung des Sauerstoffgehaltes des Wassers legen. Ylvisåker gerät dabei teilweise in Hektik. Mit „Klima auf Speed“ ist ein Kapitel überschrieben. Immer beunruhigender werden ihre Beobachtungen. Sie vergleicht Temperaturkurven mit CO2-Kurven. Sie vergleicht Karten und die kalten Küsten der Inselgruppe Svalbard, die schrumpfen. „So gut wie alle Gletscher Spitzbergens sind kleiner geworden“. Und die im Buch erwähnten Berichte, wie der zur Erderwärmung der UN-Klimakonferenz, werden von neuen Untersuchungen sogar noch übertroffen. Ende April 2021 erschrak die Welt vor einer beeindruckenden Studie von Romain Hugonnet, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich. Der Gletscherforscher und seine Kollegen analysierten mehr als eine halbe Millionen bisher weitgehend ungenutzter Satellitenbilder. Auf diese Weise gelang ihnen die erste vollständige Bestandsaufnahme der Gletscherschmelze in der Welt. Fast alle Gletscher der Welt schrumpfen – und zwar immer schneller.

Spitzbergen erwärmt sich im Vergleich zum Weltmittelwert noch rasanter. Sogar im Permafrost „in zehn Metern Tiefe ist die Temperatur in zwanzig Jahren um 2 Grad angestiegen“. Ylvisåker versteht nicht, weshalb die Politik in ihrem Land nicht mehr unternimmt, um das Abschmelzen zu stoppen, den Energieverbrauch zu reduzieren und „Maßnahmen zum Schutz der Tier- und Pflanzenwelt zu ergreifen“. Je mehr sie nach Antworten sucht, desto deutlicher verliert sie ihre Zuversicht: „Wir finden keine überzeugenden Antworten.“ Sie sagt, sie fange „langsam an zu begreifen, vor welchen Herausforderungen meine Kinder und deren Kinder in der Zukunft stehen werden“. Sie resümiert: „Wir müssen unser Leben ändern. Wir müssen weniger produzieren, weniger kaufen, weniger reisen und mehr atmen.“ Viele hätten die unbequeme Wahrheit verstanden, Entwicklungen wiesen in die richtige Richtung.

Es geht der Autorin jedoch viel zu langsam. Sie betont, die Geschwindigkeit des Wandels müsse mit Gesetzen, Regeln und Zwang unterstützt werden. Mächtige müssten zurechtgewiesen werden. Ylvisåker wird sich über die Nachrichten des Frühjahrs 2021 aus Deutschland und den USA gefreut haben, denn in einem historischen Urteil bestärkte das Bundesverfassungsgericht die Generationengerechtigkeit in Klimafragen – und wies damit die Bundesregierung zurecht, während der neue US-Präsident Joe Biden gleichzeitig Fehler Amerikas in der Klimapolitik korrigierte und in die globale Klima-Allianz zurückkehrte.

Nachhaltigkeit ist das bestimmende Thema der Wirtschaftsförderung in Deutschland wie auch in den USA. Denn Klimaschutz duldet keinen Aufschub. Line Nagell Ylvisåkers Meine Welt schmilzt unterstreicht dies. Es ist falsch, die Hoffnung zu verlieren. Aber die erschütternden Beobachtungen in Spitzbergen müssen die Anstrengungen befeuern, damit alles getan wird, um Energiewende und Klimaschutz zu beschleunigen.

Titelbild

Line Nagell Ylvisaker: Meine Welt schmilzt. Wie das Klima mein Dorf verwandelt.
Aus dem Norwegischen von Anne von Canal.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455011258

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