Vergessener Dichter der literarischen Moderne

Cora Eißfeller bietet mit ihrer Dissertation „Flaschenposten im Meere der Zeit“ dank akribischer Recherche ein umfassendes Grundlagenwerk für die Beschäftigung mit Wilhelm Klemm

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm Klemm wurde am 15. Mai 1881 in Leipzig geboren; nach dem Studium der Medizin in München, Leipzig, Erlangen und Kiel und seiner Promotion zum Dr. med. diente er als Lazarettarzt an der Westfront während des Ersten Weltkriegs. Als einer der produktivsten Autoren des Expressionismus überlebte er seine einstigen Mitstreiter um Jahrzehnte.1922 wurde er Geschäftsführer des Alfred Kröner Verlages, 1927 erwarb er die Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung. 1937 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. 1945 siedelte er nach Wiesbaden über, wo er am 23. Januar 1968 starb.

Klemms Gesamtwerk ist – obwohl er bis in die späten 1960er Jahre weiterdichtete – nahezu vergessen. Versuche, seinem literarischen Œuvre gerecht zu werden, sind rar geworden. Obwohl seine Gedichte zu Hunderten in namhaften Zeitschriften und Sammlungen abgedruckt worden sind – von den ersten Veröffentlichungen in der Zeit des Frühexpressionismus im Simplicissimus, über die Kriegslyrik in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion bis zu seinen Beiträgen in Paul Steegemanns Buchreihe Die Silbergäule im Spätexpressionismus und seinen Beiträgen in der wohl berühmtesten Expressionismus-Anthologie Die Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus –stehen umfassende Untersuchungen zu seinem vielschichtigen Werk bis heute aus. Sein Name ist nur noch Wenigen ein Begriff, woran auch die editorischen Bemühungen des Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Hanns-Joseph Ortheil offensichtlich nicht viel geändert haben; Ortheil heiratete 1983 die Verlegerin Imma Klemm, Enkelin Wilhelm Klemms, und hat 1979 eine Monografie mit dem Titel Wilhelm Klemm. Ein Lyriker der „Menschheitsdämmerung“ vorgelegt.

Den Bekanntheitsgrad Klemms möchte nun die Literaturwissenschaftlerin Cora Eißfeller mit der leicht überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation aus dem Jahr 2019 steigern. Ihrer Arbeit ging eine umfassende Recherche auch nach unveröffentlichtem Material von und über Wilhelm Klemm voraus, darunter auch in den zahlreichen Konvoluten in den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach; selbstverständlich hat sie darüber hinaus die erreichbaren Werke des Dichters in Veröffentlichungsorganen der Jahren von 1908 bis 1968 gesichtet und in einer übersichtlichen tabellarischen Zusammenstellung auf über 50 Seiten im Anhang aufgelistet, was alleine schon eine beachtenswerte Forschungsleistung darstellt. Unberücksichtigt blieb nur der Zeitraum ab 1968, in dem keine Gedichte von Klemm mehr erstveröffentlicht worden sind.

Aber nicht nur das zeichnet den Nutzen von Eißfellers Publikation aus: auch die unveröffentlichten Gedichte, Prosa- und Dramentexte hat die Autorin akribisch vermerkt, nachdem sie z.B. das Redaktionsarchiv der Zeitschrift Akzente durchforstete, genauso wie die Nachlassbestände seiner einstigen Förderer wie Dieter Hoffmann, Wilhelm Badenhop und Kurt Pinthus und natürlich das Familienarchiv in Mainz. Abgerundet wird ihre Publikation durch den vollständig abgedruckten Fragebogen aus dem Jahr 1958, den der Literaturwissenschaftler Jan Brockmann für seine schon 1961 eingereichte Dissertation Untersuchungen zur Lyrik Wilhelm Klemms. Ein Beitrag zur Expressionismus-Forschung an der Christian-Albrechts-Universität Kiel angefertigt hatte, sowie ein umfassendes, alphabetisches Verzeichnis der Briefe von und an Wilhelm Klemm, ein vollständiges Verzeichnis der Zeitschriften, Anthologien und Jahrbücher, die Beiträge von Klemm veröffentlicht haben und der Forschungsliteratur, der Handbuch-Artikel, Rezensionen, Nachrufe, Porträts und verstreuten Übersetzungen.

Das Werk Klemms – zumindest was die Lyrik angeht – ist noch in einigen Reprintbänden erhältlich sowie in zwei Neueditionen der Gesammelten Gedichte, 1981 unternommen von Hanns-Josef Ortheil im Münchener Hanser Verlag und von Imma Klemm und Jan Volker Röhnert in der Mainzer Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung 2012; als neueste Publikation nennt Eißfeller den Band Tot ist die Kunst. Briefe und Verse aus dem Ersten Weltkrieg, herausgegeben von Imma Klemm und mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil, ebenfalls in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung 2013.

Die meisten Leserinnen und Leser werden vermutlich mit Klemms Gedichten in der 1920 erstmals veröffentlichten und seit 1959 wiederholt aufgelegten Anthologie Menschheitsdämmerung in Berührung gekommen sein, in der Klemm zusammen mit Walter Hasenclever auf Platz drei der am häufigsten vertretenen Lyriker rangiert. Wie Eißfeller in dem entsprechenden Kapitel ausführt, waren darunter jedoch mit dem „Kriegsgedicht“ Schlacht an der Marne, der kritischen Zeitdiagnose Meine Zeit und dem melancholischen Herbst Gedichte, die „von den Dissonanzen der modernen Lebenswirklichkeit, von Orientierungslosigkeit, Entfremdung und Transzendenzverlust zeugten“, deutlich unterrepräsentiert. Auch seien in der berühmten Sammlung unter den restlichen 16 Beispielen seiner Gedichte nur wenige vertreten, welche „die für seine literarische Produktion so charakteristischen Mittel des Grotesken und der Ästhetik der Hässlichkeit“ aufweisen.

Breiten Raum widmet Eißfeller der Analyse von Klemms Vorkriegslyrik und seiner poetischen Umsetzung des Lebens in der Großstadt und den expressionistischen Visionen vom „Weltende“. An prominenter Stelle steht das poetologische Gedicht Sehnsucht, das 1914, nach dem Erstdruck in Heft 29 der Zeitschrift Aktion, nicht nur in der Sammlung Menschheitsdämmerung wieder abgedruckt wurde, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf Seite eins der Zeitschrift Akzente:

Sehnsucht

O Herr, vereinfache meine Worte.
Laß Kürze mein Geheimnis sein.
Gib mir Verlangsamung.
Wieviel kann beschlossen sein in drei Silben!

Schenk mir die glühenden Siegel,
Die Knoten, die Fernstes verknüpfen,
Gib den Kampfruf aus den heimlichen Schlachten der Seele;
Laß quellen den Schrei aus grünen Waldeskehlen. 

Feuersignale, über Abgründe geblinkt,
Botschaften, in fremde Herzen gehaucht,
Flaschenposten im Meere der Zeit,
Aufgefangen nach vielen Jahrhunderten. 

Mit diesem Gedicht grenzte sich Klemm nicht nur vom früheren als poète maudit geführten Klageruf ab – wie im schon 1908 im Simplicissimus veröffentlichten Gedicht De Profundis –, sondern rang sich zu einem eigenen, neuen programmatischen Standpunkt durch. Eißfeller vergleicht dieses Gedicht mit Ernst Stadlers, ebenfalls im Jahr 1914 erschienenen Texten im Gedichtband Der Aufbruch, „der den Übergang vom Ästhetizismus in den Expressionismus“ markiert habe, und wählt eine Verszeile für die Titelei ihres eigenen Buchs.

Von Klemms durchaus heterogener Publikationspraxis bis in die 1920er Jahre hinein kann man sich auch in den anderen Teilen von Eißfellers Arbeit überzeugen, da sie zahlreiche Gedichte dokumentiert, analysiert und kontextuell einordnet, und zwar nicht nur in die ästhetischen Tendenzen bis in die Spätphase des Expressionismus hinein, sondern in drei ausführlichen Abschnitten im Hauptteil ihrer Untersuchung auch die sichtbar gewordenen wechselseitigen Spannungsverhältnisse zu anderen Lyrikern aufzeigt, wie sie besonders in Klemms parodistischen Angriffen auf Themen, Motive und Sprechweisen des „offiziellen“ Expressionismus deutlich wurden und darüber hinaus auch Klemms zum Teil „oberflächliche Annäherungsversuche an die Demontage-Techniken dadaistischen Dichtens“ (S. 410) enthüllt.

Alle diese Analyseschritte erweitern die inzwischen vorgelegten und gängigen Darstellungen zu Expressionismus, Avantgarde und Moderne zwischen 1890 und 1933 durch detailreiche Einzelinterpretationen; besonders ertragreich und neu dürften hingegen Eißfellers Ausführungen im Hinblick auf Klemms weiteren künstlerischen Werdegang nach seinem selbstgewählten Rückzug als Lyriker aus der literarischen Öffentlichkeit Anfang der 1920er Jahre sein. Sie kann unter Verweis auf viele Zeugnisse von den verbliebenen Freunden und Förderern darlegen, warum dem Schriftsteller nach den langen Jahren seines Schweigens besonders in seinem letzten Lebensjahrzehnt kein größerer Erfolg mehr beschieden war. Zwar knüpfte er noch Kontakte zu den maßgeblichen literarischen Organen der Nachkriegszeit – besonders der Akzente-Herausgeber Hans Bender gehörte zu den beharrlichen Förderern seiner späten Lyrik –, aber an den literarischen und ästhetischen Debatten der jüngsten Autorengeneration konnte er sich nicht mehr beteiligen.

Eißfeller kann überzeugend darlegen, wie Klemm mit keinem Geringeren als Paul Celan, „dessen neuartigen lyrischen Ton“ Klemm noch begeistert aufnahm, brieflichen Kontakt pflegte, weil er dessen poetische Grundauffassungen im Hinblick auf das Wirklichkeitsverhältnis von Dichtung teilte und selber in seinem Spätwerk Prinzipien der literarischen Moderne nochmals aufgriff. Allerdings muss sie auch konstatieren, dass sich die Altersgedichte den anderen, neueren lyrischen Tendenzen nach 1945 nicht mehr zuordnen ließen, weder der hermetischen noch der engagierten Lyrik, weder der magischen Naturlyrik noch der Konkreten Poesie.

Eißfellers Werkmonografie rekonstruiert den Werdegang Klemms und gelangt zu einer Neubewertung von dessen vielschichtigem Œuvre. Sie spiegelt viele seiner Gedichte in den wesentlichen literarischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts – Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus – und, in Bezug auf seine frühen Vorbilder, die französischen Symbolisten sowie den amerikanischen Lyriker Walt Whitman und vor allem Arno Holz, Richard Dehmel und Gottfried Benn. Ihre umfangreiche Arbeit stellt eine in dieser Form lange überfällige Würdigung dieses „eigenwillige[n] und starke[n] Poet[en]“ dar, als den ihn schon sein Dichterkollege Karl Krolow in seiner Besprechung des 1961 im Wiesbadener Limes Verlag neu aufgelegten Gedichtbandes Aufforderung. Gesammelte Verse bezeichnet hat.

Titelbild

Cora Eißfeller: ‚Flaschenposten im Meere der Zeit‘. Wilhelm Klemm, ein Lyriker der Moderne im Kontext der literarischen Strömungen seiner Zeit.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
628 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783826071409

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