Rationale Risikoabwägung und offener Diskurs
Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld plädieren in „Die Realität des Risikos“ für die Bewahrung der Urteilskraft und weniger Konformität in der Pandemie
Von Günter Rinke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Covid-19-Pandemie macht uns darauf aufmerksam, dass wir unser Verhältnis zu Risiken neu überdenken müssen. Ein offener gesellschaftlicher Diskurs über dieses Thema ist in Zeiten vermehrter Krisenmeldungen – genannt seien nur Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise und jetzt die krisenhafte Zuspitzung der Pandemie – überfällig. Der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin ist seit den Anfängen der Corona-Krise mit dezidierten, teils auch provokanten Stellungnahmen in der Öffentlichkeit hervorgetreten. Einige seiner Essays und Interviews aus der ersten Hälfte des Jahres 2020 hat er im Anhang zu dem aktuellen, zusammen mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld verfassten Band zusammengestellt.
Das Buch hat in zweifacher Hinsicht einen Doppelcharakter. Zum einen – darauf macht Nida-Rümelin in seinem am Jahresende 2020 verfassten Nachwort ausdrücklich aufmerksam – beschäftigt es sich mit einer zeitlosen, zum anderen mit einer ganz aktuellen Thematik. In den ersten zehn Kapiteln geht es um eine Definition von Risiko und darauf bezogene Probleme wie Wahrscheinlichkeit, Risikoeinschätzung, Risikomanagement sowie damit im Zusammenhang stehende wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Implikationen. Danach folgen drei Kapitel, die sich mit dem „Covid-19-Exempel“ beschäftigen. Soweit könnte es sich um einen philosophisch-politischen Essayband handeln. Den Überlegungen Nida-Rümelins sind in jedem Kapitel kursiv gesetzte Beispiele vor allem aus neueren dystopischen Filmen vorangestellt, die dazu dienen sollen, „das Buch insgesamt verständlicher zu machen und zur Lesbarkeit beizutragen“. Diese von Nathalie Weidenfeld präsentierten Beispiele, darunter Armageddon (2012), Captain Fantastic (2016), I, Robot (2014), The Day After Tomorrow (2004), erhellen, wie viel solche Filme zu unserem Wirklichkeitsverständnis beitragen können.
Grundlegend, so Nida-Rümelin, ist Risiko real und kein Konstrukt. Dennoch sind individuelle und gesellschaftliche Risikowahrnehmungen keineswegs uneingeschränkt objektivierbar, sondern von diversen Variablen abhängig. Zwar lassen sich bestimmte Parameter wie das Schadensausmaß und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Risiko eintritt, objektiv bestimmen, jedoch ist die Risikobewertung in hohem Maße subjektiv bzw. von gesellschaftlichen Wertsetzungen abhängig. Hinzu kommt die Gefahr, dass Informationen fehlinterpretiert werden, was am Beispiel der „Hitzetoten“ des Sommers 2003 deutlich gemacht wird. Die Wahrnehmung von Risiken unterliegt einer ganzen Reihe von Paradoxa, darunter dem der Neuheit: „Neu auftretende Risiken finden weit mehr Beachtung als vertraute.“
Nida-Rümelins Position zu den notwendigen Debatten über Risikobewertung – und nicht nur dazu – kann in drei Sätzen zusammengefasst werden. Erstens: Freiheitseingriffe des Staats zum Schutz der Bevölkerung vor Gefahren oder Risiken sind so behutsam wie möglich zu gestalten. Der gute Zweck rechtfertigt nicht von vornherein jede Restriktion. Zweitens: Dies wird mit einer deontologischen, statt konsequentialistischen Grundhaltung begründet. Die deontologische Ethik, zu der sich Nida-Rümelin auch in früheren Publikationen (etwa: Kritik des Konsequentialismus, 1993) bekannt hat, „beharrt darauf, dass es Normen gibt, deren Einhaltung unabhängig davon geboten ist, ob damit die Konsequenzen des Handelns optimiert werden“. Drittens: Wissenschaft braucht die Kontroverse um widerstreitende Hypothesen. Das bedeutet, dass die Berufung auf „die Wissenschaft“, wie sie in Stellungnahmen zu gegenwärtigen Problemen, genannt seien nur Klima und die Pandemie, üblich geworden sind, äußerst fragwürdig ist. Die „Sehnsucht nach einer großen Lösung“ komplexer Fragen der Gegenwart nennt der Autor einen „Rückfall in vormodernes Denken“. Ein großes Problem sieht er in einem gerade in Krisenzeiten verbreiteten Hang zum Konformismus und der damit verbundenen Tendenz zum Ausschluss derjenigen, die die Mehrheitsmeinung nicht teilen. Als Filmbeispiel zur Illustration dieses Phänomens dient der Film Die Welle nach Morton Rhues gleichnamigem Roman, der wiederum auf einem 1967 tatsächlich durchgeführten Experiment des kalifornischen Geschichtslehrers Ron Jones basiert.
Mit diesen Überlegungen leiten die Autoren zur Corona-Krise über, in der ebenfalls schon früh das politische, mediale und medizinische Bestreben nach einer Vereinheitlichung der Bewertungen zu beobachten war. Sowohl bei der Einschätzung der Risiken als auch beim Risikomanagement schien es demzufolge nur eine Möglichkeit und einen Weg zu geben. Vertreter abweichender Meinungen wurden nicht nur nicht gehört, sondern persönlich diskreditiert. Statt offener Diskussionen gab es eine Aufspaltung in zwei Lager, wobei der Riss manchmal mitten durch Familien hindurchging. Nida-Rümelin erachtet diesen Zustand als eine Gefahr für die Demokratie, denn: „Das beständige Ringen um das, was für uns gemeinsam gut ist und was aus unterschiedlichen Perspektiven und Interessenlagen akzeptabel ist, macht die Demokratie aus.“
In den folgenden Kapiteln referiert der Autor seine eigenen Vorschläge zur Bekämpfung der Pandemie, die er im Jahr 2020 des Öfteren schriftlich und mündlich in Talkshows und Interviews vorgetragen hat. Eine strikte Eindämmung durch rigoroses Herunterfahren des öffentlichen Lebens (containment) hielt er nur in der ersten Phase für aussichtsreich. Nachdem dies in Deutschland und anderen Ländern gescheitert war, schlugen er und einige bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur einen Plan B vor, der vor allem auf den Schutz der vulnerablen Gruppen und damit Senkung der Letalität hinauslief. Für den Rest der Gesellschaft sollte es bei den üblichen Hygienemaßnahmen (Maske, Abstand) ohne weitere Einschränkungen bleiben. Empirische Grundlage des Vorschlags war die Erkenntnis, dass ganz überwiegend nur bestimmte Gruppen der Gesellschaft, nämlich Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen, von schweren Krankheitsverläufen mit Todesfolge betroffen sind. Nida-Rümelin belegt diese Aussage mit Zahlen, die allerdings in den Entscheidungsprozessen der Politik offenbar keine Rolle spielten, während andere, mit guten Gründen anzuzweifelnde Zahlen (gemeldete Infizierte, Inzidenzen) stets zur Begründung von Maßnahmen herangezogen werden. Die Kanzlerin sagte im Herbst in einer Bundestagsrede vor dem zweiten Lockdown lapidar, sie kenne die andere Position, aber diese überzeuge sie nicht.
Als Vorbilder einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung verweist Nida-Rümelin auf einige ostasiatische Länder, vor allem Südkorea und Taiwan, die erstens frühzeitig und entschlossen auf den Ausbruch der Pandemie reagiert und zweitens die Möglichkeiten der Digitalisierung viel besser genutzt hätten. Um das Ziel einer Vermeidung von Shutdowns oder Lockdowns zu erreichen, scheint ihm eine Lockerung unserer strengen datenschutzrechtlichen Bestimmungen sinnvoll zu sein. Er plädiert also für eine Tracking-App anstelle der wenig wirkungsvollen Corona-App. Voraussetzung dieser Politik, die auch unter den Stichworten „identifizieren, nachverfolgen, isolieren“ bekannt geworden ist, wäre eine gute digitale Ausstattung der Gesundheitsämter. Wegen der gravierenden, auch global schädlichen Nebenfolgen (Rückschlag für die Armutsbekämpfung, Zunahme des Hungers) ist für Nida-Rümelin die Gesamtbilanz der Schließungspolitik negativ.
Das Buch ist lesenswert für alle, die sich in der komplexen Pandemiesituation ihr eigenes, unabhängiges Urteil bewahren und die die „Formatierung und Ideologisierung des öffentlichen Diskurses“ nicht hinnehmen wollen. Wichtig ist gerade die Horizonterweiterung zu Aspekten von Risiko, die durch einige Tabellen und Grafiken im Anhang unterstützt wird. Dass in einem solchen Buch nicht alle Facetten des Themas beleuchtet werden können, versteht sich fast von selbst. Vielleicht sind seit dem Zeitalter der Weltkriege grundsätzliche Fragen, die unsere Lebenserwartung betreffen, in den entwickelten Industriestaaten zu wenig diskutiert worden. 1988 erschien ein Buch des Demographen Arthur E. Imhof mit dem Titel Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Imhof führte darin seine These aus, seit die Lebenszeit verkürzenden Faktoren „Krieg“ – „Hunger“ – „Pest“ in der industrialisierten Welt ausgeschaltet seien, lebten wir im Bewusstsein einer sicheren, d.h. unsere biologisch mögliche Lebensspanne ausschöpfenden Lebenszeit. Mit „Pest“ meinte er alle potentiell tödlichen Infektionskrankheiten.
Die mangelnde Vorsorge, die – anders als in asiatischen Ländern – trotz früherer Warnungen gegen den Pandemiefall bei uns praktiziert wurde, spricht dafür, dass wir uns zu sicher gefühlt haben. Kostenträchtige Vorsorgemaßnahmen waren daher der Bevölkerung nicht vermittelbar. Des Weiteren ist zu fragen, ob wir nicht einer Hybris unterliegen, wenn wir glauben, es gäbe für uns nicht mehr „die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren“, wie es der Philosoph Odo Marquard einmal formulierte. Nichts spricht gegen den Versuch, das Unverfügbare so klein wie möglich zu halten, aber ein gewisses Maß an Bescheidenheit stände uns womöglich gut an.
Schließlich sei nicht verschwiegen, dass nicht alle Thesen Nida-Rümelins den Rezensenten überzeugen. Ein Beispiel ist das nahezu euphorische Lob für die ostasiatische Eindämmungsstrategie. Zum einen lassen sich datenschutzrechtliche Bedenken gegen eine Tracking-App nicht einfach kleinreden. Zum zweiten sind Berichte über das strikte Quarantäne-Regiment für Einreisende nach Taiwan, ähnlich wie auf das chinesische Festland, zumindest befremdlich. Zum dritten ist nicht nachvollziehbar, weshalb Einwände gegen die Übertragbarkeit der taiwanesischen und südkoreanischen Erfahrungen auf unsere Verhältnisse „jeder Evidenz entbehrt[en]“. Taiwan ist eine Insel und Südkorea hat nicht mehr als eine Landgrenze zum völlig abgeschotteten Nachbarland im Norden. Allein dass wir neun direkte Nachbarländer mit regelmäßiger Arbeitskräftefluktuation über Grenzen hinweg haben, macht Einreisekontrollen bei uns ungleich schwieriger bzw. unmöglich, wenn wir nicht, wie im Frühjahr 2020 geschehen, die Grenzen komplett schließen wollen.
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