Intelligente Anleitung zum Lesen

Über Oliver Sills neues Fontane-Buch „Apropos Fontane“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Band mit vierzehn sehr perspektivenreichen Essays über Theodor Fontane lässt sich wie folgt charakterisieren: Oliver Sill nimmt seinen Leser gleichsam an die Hand und führt ihn so zu den Fontane’schen Formulierungen und Denkfiguren, sodass sein Verständnis für die Feinheiten geweckt wird.

Halten wir fest: Wer nicht gerade Literaturwissenschaftler ist oder zu denen gehört, die die Mentalität und Erzählweise des 19. Jahrhunderts schätzen, wer also Fontane einfach deswegen lesen will, weil sein Name immer häufiger öffentlich auftaucht (sogar in der Fremdenverkehrswerbung des Landes Brandenburg), der braucht eine Anleitung. Zu recht spricht Sill von der „Kluft zwischen den wenigen Spezialisten und den vielen Laien“.

Das zweite Kapitel von Fontanes Poggenpuhls beginnt so: „Es war ein Wintertag, der dritte Januar. Eben kam Friederike von ihrem regelmäßigen Morgeneinkauf zurück, einen Korb mit Frühstückssemmeln in der einen, einen Topf mit Milch in der andern Hand, beides, Semmeln und Milch, aus dem Keller gegenüber.“ Solch ein Auftakt verlockt in unseren Zeiten nicht mehr. Oder dieser Satz „Und dabei flog ein Schmetterling über die Gräber hin und aus der Kirche her hörte man die Grabresponsorien [d. h. die Wechselgesänge]“ aus Fontanes Erzählung Eine Frau in meinen Jahren was fängt der heutige Leser damit an?

Bleiben wir bei dem Satz mit den Schmetterlingen. Oliver Sill ordnet ihn in das Gesamtgeschehen ein und legt dar, wie sich in den Schmetterlingen der Gedanke des Neubeginns, eben das Ende des Verpuppens, abbildet (die Erzählung schließt mit einer Verlobung) und wie die umherschwirrenden bunten Wesen zugleich die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens ausdrücken.

Sill führt den Gedanken weiter aus, indem er ähnliche Stellen in Fontanes Effi Briest und bei Vladimir Nabokov und vor allem W. G. Sebald nennt, der in seinem Roman Austerlitz eine Kolonie von Nachtfaltern vorstellt, die eine Hymne auf die Vielgestaltigkeit und die Glücksmomente des Daseins ist. Ein kleiner Durchgang durch die Literatur bis ins Jahr 2001!

Ähnlich weitblickend deutet Sill den Gendarmen Uncke in Fontanes Stechlin und seine Worte „Is kein Verlaß mehr; alles zweideutig.“ Sill macht plausibel, wie solche Worte den damaligen Zeitgeist und die Scheu vor einer neuen politischen Zukunft zeigen und wie sie den ganzen Roman mit seinen unterschiedlichen Personen zusammenfassen und dass sich hier der alte Fontane selbst spiegelt, „der all diese Figuren stellvertretend in die Glaskugel schauen lässt“.

Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, die der Gendarm auch zum Ausdruck bringt, verfolgt Sill weiter in Fontanes Unterm Birnbaum, in Joseph Roths Eichmeister-Figur (Das falsche Gewicht) und in Johannes Bobrowskis Levins Mühle mit ihrem größenwahnsinnigen, ja buchstäblich Pogrom-freudigen Polizisten Krolikowski. Solch schlimme Thematik gibt es im Stechlin noch nicht. Fontane, sagt Sill, provoziere seine Leser dazu, über ihn hinauszublicken.

Nennen wir auch das Diktum „Alles große Glück ist ein Märchen“ der sentimentalen und verlogenen Jenny Treibel im gleichnamigen Roman, das Sill veranlasst, die Märchenmotive in Fontanes Schaffen aufzuspüren – die echten und die ironisch gemeinten –, und ferner das Gartengespräch in Effi Briest, das samt seinen bitteren Ehe-Erörterungen mit Gustav Freytags Soll und Haben und sogar mit dem Beginn von Goethes Wahlverwandtschaften in Verbindung steht.

Fontanes Vorstellung über den „Kleinkram“, der in seine autobiografischen Berichte unbedingt hineinmüsse, sagt letztlich dies aus: Anders als Goethe, der in Dichtung und Wahrheit sein Leben kausallogisch erzählen wollte, berichtet Fontane in Meine Kinderjahre geradezu modern, nämlich ungeordnet, sein einstiges Ich als Rätsel empfindend.

Drei Abhandlungen des Buches bewegen sich allein in Fontanes Epoche; man könnte sie Beiträge zur Fontane-Forschung im engeren Sinne nennen. So der Essay über die Figur Oceane in Fontanes Fragment von 1882, als deren Vorbild Sill die Seiltänzerin Océana Renz (1856–1894) aufdeckt und dadurch Fontanes Oceane zugleich als eine ‚Tochter der Lüfte‘ und eine ‚Tochter der Meere‘ deutet.

Sodann Sills Auseinandersetzung mit Fontanes privat geäußerten rassistischen Vorurteilen, die auch die Vorurteile der damaligen bürgerlichen Gesellschaft waren, in der sich Fontane „aufgehoben“ sah. Schließlich die Überlegungen zu Fontanes Bekenntnis, er wolle in seinem realistischen Erzählen immer auch „verklären“, wodurch er sich, viel mehr als ihm selbst bewusst war, von einer idealistischen Ästhetik beherrschen ließ. Sill fragt: Ist da Fontane altmodisch, oder steckt diese Ästhetik, zu unser aller Freude, nicht in jedem Fernsehkrimi mit seinem Happyend? Sill zitiert auch den Philosophen Hans Blumenberg. Erwähnen wir hier, dass Sill gern – zumeist überflüssigerweise, meine ich – große Namen aus der Wissenschaft nennt, obwohl sein Argumentieren keineswegs theorielastig ist, ja immer wieder sehr spontan wirkt.

Ein Glanzpunkt in Sills Buch ist seine Behandlung des Romans Stern 111 von Lutz Seiler aus dem Jahr 2020. Sill geht von vagen Ähnlichkeiten mit Fontanes Effi Briest aus, arbeitet dann ganz erstaunliche Parallelen heraus und empfiehlt schließlich, „Seilers Roman als eine Art Gegenentwurf zu begreifen, weil all jene Koordinaten, die die Tragik in Fontanes Roman heraufbeschwören, außer Kraft gesetzt sind“.

Der Clou liegt laut Sill darin: Gewiss, der junge Mann Carl liebt das Mädchen mit dem Spitznamen Effi, aber dieser Name stört ihn: „‚Ist eben Fontane‘, hatte Carl gesagt“, heißt es. Der als Muster herangezogene Fontane’sche Roman wird von Seiler gleichzeitig, in einer anderen Erzählebene, verhöhnt.

Man sollte, wie gesagt, Sills Essay-Sammlung als eine nachhaltige Anleitung zur Fontane-Lektüre genießen. Diese Anleitung ist sehr intelligent, ausgesprochen weitblickend, reich an verblüffenden Beobachtungen und dabei vorgetragen in einer klaren Sprache – eben angenehm lesbar.  

Titelbild

Oliver Sill: Apropos Fontane. Einblicke in ein facettenreiches Werk.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2021.
287 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783849817213

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