Routinen der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen

Ling Mas Erstling „New York Ghost“ kommt im Gewand eines Pandemie-Romans daher

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es dürfte wohl nur wenige überraschen, wenn in der Corona-Krise Romane über Pandemien in den Buchhandlungen landen, alleine schon aus finanziellem Kalkül. Ein erster – vielleicht sogar der erste – ist nun auf den Markt gekommen. Die Amerikanerin Ling Ma hat ihn geschrieben und ihm den Titel Severance gegeben.

Das amerikanische Original des Buches erschien bereits 2018, also noch bevor die Welt auch nur ahnte, was ihr mit der Covid19-Pandemie bevorstehen würde. Dass einige Umstände des Beginns der fiktionalen Pandemie denjenigen der realen entsprechen, dürfte dennoch kein Zufall sein. Schließlich gab es auch zuvor schon Erfahrungen, wie und wo mögliche Pandemien ihren Ausgang nehmen.

Severance scheint jedenfalls ein ausgesprochen passender Titel zu sein, spielen Trennungen und Abschiede doch eine zentrale Rolle. So trennt sich etwa Jonathan schon früh von seiner Freundin Candace, der Protagonistin und Ich-Erzählerin des Romans. Vor allem aber müssen sich im Laufe einer global um sich greifenden Pilzinfektion alle Menschen rund um den Erdkreis zunächst von ihrem bisherigen Dasein und schließlich von ihrem Leben verabschieden.

Der Titel der deutschen Ausgabe New York Ghost wirkt hingegen lange Zeit weniger treffend. Denn er greift den Namen eines Blogs auf, in dem die Hobbyfotografin Candace mehr oder weniger originelle Bilder New Yorks veröffentlicht, ohne dass er eine größere Rolle spielen würde. Hätte er nicht die Ehre erhalten, in den Titel des Buches aufgenommen worden zu sein, die Lesenden würden seine kurze Erwähnung im ersten Teil des Buches sicher bald vergessen. Tatsächlich aber zeigt sich gegen Ende des Romans, welche zentrale Bedeutung er hat. Denn Candace’ Aufnahmen der nun verlassenen und aussterbenden Metropole dokumentieren für die wenigen Überlebenden in abgelegenen nordeuropäischen Regionen die letzten Tage von New York – und vielleicht der Menschheit.

Auch literarästhetisch erreicht der Roman damit seinen Höhepunkt. Schlug er bis dahin, selbst noch in den grausamsten Mordszenen, einen lapidaren, unaufgeregten Ton an, so evoziert seine Sprache nun eine ergreifend melancholische Stimmung. Allerdings blitzen auch zuvor schon einmal wundervolle Metaphern auf. So etwa wenn sich die „Körper“ zweier einander ehemals liebender Menschen nach einem langen Bett-Gespräch über das Ende ihrer Beziehung „nach innen [rollen], voneinander weg wie trockene Blätter am Ende eines Sommers“ oder wenn die Vergangenheit einem „schwarze[n] Loch“ gleicht, „das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen“.

Gelegentlich aber zerschellt das Lesevergnügungen an abgedroschenen und verfehlten Wendungen. So wirft sich Candace gleich mehrfach „Wasser ins Gesicht“ oder sie spricht gar davon, dass jemand „einen Schritt nach dem nächsten“ tue.

Hat sich das neuartige Corona-Virus in der zentralchinesischen Metropole Wuhan entwickelt, so nimmt die fiktionale Pilzinfektion des Romans vom südchinesischen Küstengebiet ihren Ausgang. Anno 2011 entwickelte sich „durch die Arbeitsbedingungen in den Fabriken“ in dieser Region ein Pilz, dessen „Sporen [sich] aus den hochspezifischen Chemikalienmischungen speisten“. Durch die Globalisierung finden sie bald ihren Weg in die USA, in andere Industriestaaten und schließlich bis in die letzten Winkel dieser Erde, woraufhin die Pilzinfektion einige Jahre darauf die ganze Weltbevölkerung verschlingt.

Bis dahin verhalten sich die staatlichen Institutionen und die Bevölkerung der USA im Roman ganz ähnlich, wie sie es im ersten Jahr der Corona-Pandemie tatsächlich taten. Verleugnen, verharmlosen, zu spät den Ernst der Lage erkennen und unentschlossen reagieren. Irgendwann werden dann regelmäßig großflächige Desinfektionsmaßnahmen vorgenommen und Masken vorschriftsmäßig getragen. Merkwürdigerweise scheint jedoch weder versucht zu werden, Medikamente gegen die Krankheit zu entwickeln, noch die Menschen gegen die Sporen zu immunisieren. Jedenfalls ist darüber nichts zu lesen.

Die Autorin hat die Pandemie nicht in der nächsten Zukunft angesiedelt, sondern in der unmittelbaren Vergangenheit der Entstehungszeit ihres Werkes. Dabei flicht sie einige tatsächliche historische Ereignisse und Gestalten ins Geschehen ein. So werden etwa Barak Obama und die Occupy-Wall-Street-Bewegung erwähnt. Letztere bricht allerdings schnell in sich zusammen, nach dem sich die ersten AktivistInnen während der Proteste infiziert haben. Doch nicht nur die Pandemie ist eine historisch kontrafaktische Phantasie der Autorin, auch die Klimakatastrophe ist um einiges weiter vorangeschritten, sodass die U-Bahnschächte New Yorks bereits beginnen, sich mit Wasser zu füllen.

Die Handlung des Romans gliedert sich in zwei Stränge, die abwechselnd erzählt werden. Einer spielt 2016 oder 2017, also nachdem die Pandemie die USA bereits fest im Griff hat und die Protagonistin die ausgestorbene Metropole New York verlassen hat. Der Handlungszeitraum des anderen reicht von den frühen Nuller-Jahren bis zur Anfangsphase der Pandemie.

Insbesondere dieser Handlungsstrang ist nicht chronologisch erzählt. So beginnt er um das Jahr 2010 und wird darüber hinaus immer wieder durch Rückblenden bis in die Kindheit der Protagonistin unterbrochen, die in Fuzhou, einer wichtigen Hafenstadt an der Südostküste Chinas mit über 6 Millionen EinwohnerInnen, geboren wurde und im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern in die USA auswanderte.

Als Heranwachsende verbringt sie ihr Leben auf Collegefeten in Manhattan, auf denen die Frauen „toupierte Haarsprayfrisuren und Acrylnägel“ trugen, die Männer „schmale Krawatten und Anzüge“. Es sind die Orte, in denen sich „Millenials in ihrer natürlichen Umgebung“ bewegten. Schließlich hängt sie eine Weile arbeitslos rum und lässt sich von Typen zu One-Night-Stands aufgabeln. Auch ihre Langzeitbeziehungen ergeben sich eher zufällig und ohne Eigeninitiative. Auf die gleiche Weise enden sie. Obwohl Candace vom Erbe ihres umtriebigen Vaters leben könnte und es eigentlich nicht nötig hätte, nimmt sie ein Stellenangebot an, das ihr zufällig und ohne ihr Zutun offeriert wird.

Es handelt sich um eine Tätigkeit als „Senior-Produktionsleiterin der Bibelabteilung“ in einer Firma, die extravagante Designs für Bücher entwirft und Verlagen Druckereien in Billiglohnländern vermittelt, die diese ausführen können. Candace hat damit nicht gerade ein atemberaubendes Aufgabengebiet erwischt. Weit beliebter ist die Abteilung der Kunst-Bände, deren Mitarbeiterinnen, die „Kunst-Girls“, „ausnahmslos alles Frauen“ sind, die „ausschließlich an den detailintensivsten Projekten mit den cleversten Designs [arbeiteten]“.

Hingegen pflegt ausgerechnet die Bibel-Abteilung beste Geschäftskontakte zu dem Ursprungsgebiet der Sporen, das – wie es der Zufall will – auch die Region ist, aus der Candace stammt. Schien ihre chinesische Abstammung zunächst keine größere Rolle zu spielen, ändert sich das nun, da sie regelmäßig Dienstreisen nach China unternehmen muss. Diese Aufenthalte sind es, die ihre Erinnerungen an ihre ersten Kindheitsjahre und einen früheren Besuch bei Verwandten hervorrufen.

Der zweite Handlungsstrang setzt damit ein, dass die Protagonistin bewusstlos von einer neunköpfigen Gruppe junger Menschen aufgegabelt wird, nachdem die Pandemie New York bereits erfasst hat und alle ihre ehemaligen MitarbeiterInnen längst erkrankt sind. Die wenigen Angehörigen der Gruppe bieten zwar ein „breitgefächertes ethnisches Angebot“, aber nur einen „limitierten Genpool“. Wohl zu wenig, um den Weiterbestand der Menschheit zu sichern.

Ebenso wie Candace, gehörten sie vor der Pandemie der gehobenen Mittelklasse an und zählen aus unerfindlichen Gründen zu den überaus seltenen Immunen. Nun befinden sie sich unter der Führung des mit einer „lausigen Ideologie“ ausgestatteten religiösen Fanatikers Bob auf dem Weg nach Chicago, wo ihnen ihr „selbsternannter Anführer“ einen sicheren Hort in Aussicht stellt. Unterwegs plündern sie Häuser. Finden sie dabei Tote vor, werden sie verbrannt, treffen sie auf „Fiebernde“, tötet Bob sie, „[w]eil es human[er]“ sei, als „sie durch dieselben Routinen kreisen zu lassen, während sie immer weiter degenerieren“, wie er sagt. Denn die Infizierten sterben nicht etwa an der Krankheit, sondern wiederholen „die banalsten Tätigkeiten“ aus ihrem früheren Alltag „in Endlosschleife“. Vermutlich finden sie dabei ihr Ende, indem sie irgendwann elendig verdursten.

Und eben hierin liegt der eigentliche Kern und Clou des Romans. Wie er immer deutlicher hervortreten lässt, hat sich das Leben der Menschen auch vor der Pandemie nicht nennenswert von dem jämmerlichen Dasein der „Fiebernden“ unterschieden. Die einen wie die anderen werden als „Gewohnheitstiere“ bezeichnet und ihrer aller Leben erschöpft sich in sich endlos wiederholenden „Routinen“ ohne Sinn und Zweck. Selbst das Grüppchen der Immunen führt ein immer gleiches Leben, ohne dass die Ich-Erzählerin eine „Abweichung von der Routine, vom alltäglichen Erleben ausmachen“ kann. „Da war nichts. Ich fühlte nichts“, klagt sie.

Damit unterscheidet sie sich nicht von den „Fiebernden“, die in ihrer Wiederholung des ewig Gleichen ebenfalls nichts mehr fühlen und selbst dann kaum das Gesicht verziehen, wenn sie schwere Schussverletzungen erleiden. Je weiter der Roman fortschreitet, umso aufdringlicher wird den Lesenden diese Botschaft unter die Nase gerieben, die in der rhetorische Frage gipfelt: „was ist der Unterschied zwischen den Fiebernden und uns? […] unsere Tage setzen sich, wie ihre in einer Endlosschleife fort“.

Ma hat womöglich also gar nicht wirklich einen Pandemie-Roman geschrieben, sondern ihrem satirischen ja nicht selten sarkastischen Plädoyer gegen ein sich sinnlos routiniert abspulendes Leben der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen nur das Mäntelchen eines solchen Romans umgehängt.

Titelbild

Ling Ma: New York Ghost.
Aus dem Englischen von Zoë Beck.
CulturBooks, Hamburg 2021.
356 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783959881524

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