Der Körper als Spiegel der Männlichkeit(en)
Martin Dinges und Pierre Pfütsch liefern im Sammelband „Männlichkeit in der Frühmoderne“ vielschichtige Impulse zur männlichen Körper- und Selbstwahrnehmung zwischen 1500 und 1850
Von Salvatore Martinelli
Der Blick auf den menschlichen Körper und dessen Inszenierung hat sich nicht erst in unserer Gegenwart herausgebildet, sondern übt seit jeher eine große Anziehungskraft aus. So suggerieren die sozialen Medien eine übergeordnete Rolle der körperlichen Optik und stilisieren diese häufig zum exklusiven Maßstab sozialer Wertschätzung und Verehrung. Gerade körperliche Schönheit, Gesundheit und Kraft zählen zu den Attributen erfolgreicher Menschen.
Doch verhalten sich Frauen und Männer in dieser Hinsicht ähnlich oder können geschlechtsspezifische Tendenzen im Streben nach körperlicher Gesundheit und Attraktivität konstatiert werden? In diesem Zusammenhang zeichnet sich ferner die Fragestellung ab, ob körperorientierte Selbstdarstellung ein Phänomen der gegenwärtigen Gesellschaft ist und inwieweit sich epochale Unterschiede bei der menschlichen Körperreflexivität zeigen.
Dieser polarisierende und höchst relevante Fragenkomplex ist Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes, entstanden aus einer vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung veranstalteten Tagung. Angeregt durch die von Martin Dinges geprägte ‚Männergesundheitsforschung‘, die bislang vorwiegend das 19. und 20. Jahrhundert fokussierte, widmen sich die Beiträge historischen Zeugnissen aus dem breiteren Zeitrahmen der Frühen Neuzeit. Unter Rückgriff auf patienten- und körpergeschichtliche Perspektiven ist es das gemeinsame Forschungsziel, Kontinuitäten und Transformationen im männlichen Gesundheitsverhalten zu identifizieren.
Mit einer Einführung zum übergeordneten Leitgedanken sowie zum Forschungsstand eröffnet Dinges den Sammelband. Hieran anknüpfend schließen sich sieben Kapitel mit jeweils eigenem Schwerpunkt an, deren Gesamtumfang 22 Beiträge ausmacht. Dabei ist das erste Kapitel dem Zusammenhang von Körper- und Sexualitätskonzepten verschrieben. Das zweite Kapitel behandelt die Berufe der Bauern und Handwerker. Die gebildete Oberschicht ist Gegenstand der Betrachtung im dritten Kapitel. Der Adelsstand der Standespersonen bildet das vierte Kapitel. Thematisiert wird im fünften Kapitel schließlich der Einfluss von religiösen und magischen Praktiken auf Gesundheit und Männlichkeit. Ein sechstes Kapitel erörtert den Umgang mit körperlichen Einschränkungen, woraufhin der zweite Herausgeber Pierre Pfütsch in einem siebten Kapitel auf Resultate und weitere Forschungsperspektiven eingeht.
Über den Zusammenhang zwischen männlichen Körper- und Sexualitätsvorstellungen berichtet Sylvia Wehren im ersten Kapitel höchst instruktiv und anschaulich, indem sie aufzeigt, wie ‚gesunde Männlichkeit‘ im frühen Erziehungsdiskurs der Spätaufklärung ausgelegt wurde. Dabei skizziert sie, dass bei den Erziehern jener Zeit die Überzeugung dominierte, die Bildung des Körpers dürfe gegenüber der Bildung der Seele nicht zurückstehen. Hierzu zitiert Wehren Denker wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau, deren Erziehungsphilosophie vorsah, die Gesundheit des Körpers von frühester Kindheit als Voraussetzung für die Bildung des Mannes zu begünstigen.
Der Blick richtet sich im zweiten Kapitel auf die sozialen Schichten, die als Bauern oder Handwerker arbeiteten. Exemplarisch untersucht Paul Münch unter dem Begriff „Handthierungen“, die gesundheitliche Komponente der Handarbeit in der Vormoderne. Entsprechend dem Prinzip von These und Antithese kontrastiert Münch sowohl gesundheitsschädigende als auch förderliche Wirkungen körperlicher Tätigkeiten, die mitunter als Last, aber auch als Lebenslust oder gar als Weg zur Glückseligkeit empfunden wurden.
Demgegenüber ist das Selbst- und Körperbewusstsein einer gebildeten Oberschicht Inhalt des dritten Kapitels. Die Mehrdeutigkeit des dort anzutreffenden Körperbildes im 19. Jahrhundert unterzieht Susan Baumert einer eingehenden Analyse anhand zweier männlicher Forschungsreisenden. Dem eigenen Körper wird jeweils – in den Reiseberichten des Deutschen Eduard F. Poeppig und des Briten John Franklin – mal die Rolle eines loyalen Komplizen zugeschrieben, mal auch die eines Feindes, der die Pläne konterkariert. Dabei erweist sich die Inszenierung von Männlichkeit in der tragenden Rolle der beiden als Entdecker und Abenteurer stets auch auf das Engste verwoben mit Erwartungen von wissenschaftlicher und nationaler Seite.
Exemplarisch für den aristokratischen Ständekreis, welcher im Zentrum des vierten Kapitels steht, ist der Aufsatz von Stefan Seitschek, den er der Gesundheit des römisch-deutschen Kaisers Karl VI. widmet. In den Aufzeichnungen des Kaisers werden die physischen wie auch die emotionalen Herausforderungen seines Lebens greifbar. Zentrale Aspekte in Seitscheks Darstellung bilden die Förderung des kaiserlichen Körpers und Geistes, die Prävention von Krankheiten sowie der Umgang mit Sexualität in seiner Ehe mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel.
Der metaphysischen Dimension männlicher Körperlichkeit widmet sich das fünfte Kapitel, sowohl im Kontext religiöser als auch magischer Praktiken. Ein spannendes Gesamtbild männlicher Zauberpraktiken als Komponente der Präventivmedizin von 1500 bis 1800 liefert B. Ann Tlusty. Unter dem Leitmotiv des „Festmachens“ beschäftigt sich ihr Aufsatz mit Unverwundbarkeitszaubern, gekoppelt an Heilkunst sowie an Weiße und Schwarze Magie. Nebst Ritualwissen und der Verwendung von Kräuterzutaten hebt sie die Instrumentalisierung der Toten hervor. Letztere Praxis beruhte auf dem Glauben, dass nach dem Tod die männliche Kraft weiterhin im Körper verweile.
Das sechste Kapitel behandelt den Einfluss körperlicher Einschränkungen auf das männliche Selbstwertgefühl, was Iris Ritzmann in ihrer Studie über das Schicksal eines sehunfähigen Mannes besonders eindrucksvoll thematisiert. Dabei untersucht sie die Zeugnisse zum Leben von Valentin Kratz aus dem Inventar des Hohen Krankenhauses in Haina in Nordhessen. Seine Lebensgeschichte dient als Fallbeispiel, um das Alltagsleben mit Handicap in den Jahrzehnten um 1800 zu rekonstruieren. Die Untersuchung vermittelt ein ambivalentes Bild des Blinden: im stetigen Bewusstsein seiner unausweichlichen Hilfsbedürftigkeit, doch unbeirrt in seinem Streben nach Selbstverwirklichung, das er als Wandermusiker ausleben konnte.
Die Leitfragen des Sammelbandes, die Dinges in der Einführung formuliert, sowie seine Vorüberlegungen zum Gesamtkonzept werden von Pfütsch im abschließenden Kapitel aufgegriffen und retrospektiv ausgewertet. Die Pluralität an untersuchten Männlichkeitskonzepten, -praktiken und -diskursen ist mit dem Ziel, den Befund für das gesetzte Zeitfenster von 1500 bis 1850 zu verdichten, zusammengestellt und auf Schnittmengen hin analysiert worden. Resümierend zeigt sich der Körper über die Zeit hinweg als Medium männlicher, aber eben auch allgemein menschlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Demnach wird die Interaktion in gesellschaftlich-sozialen Umwelten durch den Körper – als Kontaktzone mit der umgebenden Welt einerseits und als Identifikations- und Differenzierungsmittel andererseits – überhaupt erst möglich.
Die Beiträge rücken den Terminus Männlichkeit als eine multiple Beziehungskategorie in den Fokus. Demensprechend erweist sich das jeweilige Verständnis von Männlichkeit(en) als abhängig von weiteren Unterkategorien wie Alter, Sexualität, sozialem Status oder Religionszugehörigkeit und nicht zuletzt von Gesundheit, körperlichen Fähigkeiten und Einschränkungen. Auffällig ist, dass Männlichkeit in erster Linie als gemeinsame narrative Struktur fungierte, um grundlegende anthropologische Fragen nach Körperlichkeit, Gesundheit und Krankheit zu behandeln.
Angesichts des Umstandes, dass Zeugnisse von weiblichen Akteuren aus der Frühen Neuzeit rar gesät sind, ließ sich die behauptete geschlechtsspezifische Vergleichbarkeit nur bedingt verwirklichen und es bedarf diesbezüglich weitergehender Forschungsarbeiten. Ebenfalls ist der Frage nachzugehen, inwiefern tatsächlich von einem zeitlich abgrenzbaren frühneuzeitlichen Gesundheitshabitus ausgegangen werden kann. Dennoch vermögen die Beiträge wertvolle Rückschlüsse auf vielfältige Körperpraktiken im Rahmen einer wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtung der Frühen Neuzeit zu liefern und illustrierten somit das Potenzial einer interdisziplinären Männergesundheitsforschung.
Ausgehend von dem gemeinsamen Anliegen, einen spezifisch männlichen Gesundheitshabitus im Zeitfenster von 1500 bis 1850 nachzuzeichnen, verbindet der Sammelband in anregender Weise Erkenntnisse aus Geschichte, Gesellschaft und Heilkunst. Die interdisziplinären Beiträge decken ein breites Spektrum an Forschungsfragen ab und richten sich an ein anthropologisch interessiertes Fachpublikum, ohne dabei vertiefte medizinische Vorkenntnisse vorauszusetzen. Besonders positiv ist dabei, dass die aufgeworfenen Fragen anhand zahlreicher Quellenmaterialien wie Selbstzeugnissen, Briefkorrespondenzen, zeitgenössischer Ratgeberliteratur und Krankenakten untersucht wurden.
Letztlich verbleibt die etwas ernüchternde Erkenntnis, dass in derartigen geschlechts- und zeitspezifischen Analysen von Verhaltens- und Vorstellungsmustern, wenn überhaupt, nur eine graduelle Differenzierung festgestellt werden kann. Gleichwohl bleibt die Lektüre ausgesprochen erhellend und regt zur Reflexion über Gesundheitsfragen und Körperkonzepte an.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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