Krieg, Staat, Gesellschaft

Ein von Bruno Cabanes herausgegebener Sammelband leuchtet die Dimensionen einer globalen „Geschichte des Krieges“ seit dem späten 18. Jahrhundert aus

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kriege begleiten die Menschheit seit alters her, und alle Anstrengungen, sie zu ächten oder wenigstens einzuhegen, haben nicht gefruchtet. Die Formen, in denen sie ausgefochten werden, unterliegen allerdings dem Wandel. Der Krieg sei ein „wahres Chamäleon“, weil er „in jedem konkreten Falle seine Natur etwas“ ändere, wusste bereits der preußische General und Militärtheoretiker Carl von Clausewitz. Den tiefsten Einschnitt markierte hier die Französische Revolution von 1789. Zuvor sei man „mit Mäßigung und Rücksichtlichkeit nach hergebrachten Konvenienzen“ zu Felde gezogen, fortan aber regiere der „Krieg aller gegen alle“, so noch einmal Clausewitz: „Nicht der König bekriegt den König, nicht eine Armee die andere, sondern ein Volk das andere, und im Volk sind König und Heer enthalten.“ Das Zitat findet sich im Leitaufsatz, mit dem der Herausgeber Bruno Cabanes den Rahmen skizziert für die folgenden gut fünf Dutzend Beiträge, die auf eine zeitlich wie inhaltlich weit gefasste „Geschichte des Krieges“ zielen.

Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war, in Deutschland zumal, die Kriegsgeschichte ein Arcanum der Militärs. Nicht aus der allgemeinen Geschichtswissenschaft, sondern aus den Bedürfnissen der Kriegsministerien, der Kriegsakademien und Generalstäbe hervorgegangen, wurde sie in amtlichem Auftrag als Geschichte der Kriegskunst, der Kriegsmittel und der Kriegswissenschaften betrieben. Ihre Absicht war es, aus der Vergangenheit Lehren für Gegenwart und Zukunft herauszulesen. Sie war zweckgerichtet und anwendungsorientiert, diente der Traditionspflege, sollte soldatische Tugenden fördern, das Bewusstsein und die handwerklichen Fähigkeiten der Offiziere schulen, sollte nicht zuletzt historische Szenarien liefern, in denen die Gefechte und Feldzüge von gestern nachgestellt wurden, um die von morgen vorzubereiten. Unter den Bedingungen der NS-Diktatur wurde daraus ein mehrdisziplinäres, zur Wehrwissenschaft umetikettiertes Unternehmen. Dahinter verbargen sich weiträumige Konzepte, um die gesamte Gesellschaft in die Pflicht zu nehmen, sich den Fragen der Landesverteidigung, der Wehrbereitschaft und der Vorbereitung kommender Waffengänge zu widmen. Das historische Modell, das hier Pate stand, war der Erste Weltkrieg, der den Typus des industrialisierten Massenkrieges auf eine bis dahin kaum gekannte Höhe und Intensität getrieben, von der Bevölkerung die Mobilisierung sämtlicher Ressourcen und Energien verlangt und alle Bezirke des gesellschaftlichen Lebens in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Von derartigen Zwecksetzungen hat sich die Historiographie des Krieges seit Jahrzehnten schon verabschiedet. Sie führt nicht länger eine abgeschiedene Existenz als Sonderdisziplin, sondern hat sich als integraler Bestandteil der akademischen Geschichtsschreibung etabliert. Neben Historikerinnen und Historikern beteiligen sich daran Vertreter der verschiedensten Human- und Sozialwissenschaften. Vor allem aber: Über den Krieg nachzudenken und zu publizieren ist weder eine ausschließliche Domäne der Männer noch eine solche, die primär von den Bedürfnissen und vorzugsweise von den Perspektiven der westlichen Industrienationen geprägt ist. Nicht von ungefähr weist Bruno Cabanes einleitend auf die „Durchlässigkeit zwischen Militärgeschichte“, die es natürlich immer noch gibt, und „anderen Ansätzen“ hin, „zwischen dem Westen und dem Rest der Welt“, außerdem „zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert“. Vor diesem Hintergrund teilt sich der Band in vier große Abschnitte, die vom „modernen Krieg“ erzählen, von „soldatischen Welten“, von den Erfahrungen des Krieges und schließlich vom Erleben des Nachkriegs. Als Maxime für die beteiligten Autorinnen und Autoren figuriert die longue durée, das heißt, ausgewählte Aspekte werden auf der „Grundlage verschiedener Konflikte und verschiedener Räume“ über mehrere Epochen hinweg beleuchtet.

Gleichgültig, ob der Krieg mit der Französischen Revolution „modern“ wird oder nicht: Der Traditionsbruch, der mit ihr einhergeht, ist unübersehbar. Gemeint ist damit nicht die Zahl der Toten, die auf den Schlachtfeldern zurückbleiben. Die war schon vorher enorm hoch. Was sich ändert, betrifft Rekrutierung und Waffentechnik, Strategie, Taktik und Reichweite. Levée en masse und allgemeine Wehrpflicht machen den Krieg zur Sache der Gesellschaft und der Nation. Legitimiert wird er zunehmend durch Ideologien, die mit Absolutheitsanspruch daherkommen, Begeisterung entfachen und die Mobilisierung der Bevölkerung gewährleisten. Der Krieg wird zum „Volkskrieg“, wird total, eine Tendenz, die sich fortan verstärkt, so in den Eroberungszügen Napoleons, im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65), im Krimkrieg (1853-56), vor allem dann im Weltkrieg von 1914/18. Die Soldaten werden zu Bürgersoldaten, die Wirtschaft mutiert zur Kriegswirtschaft, die Umwelt nimmt beträchtlichen Schaden.

Versuche, dem Krieg rechtlich Zügel anzulegen, verlaufen im Sand, pazifistische Strömungen verharren im Status von Minderheitenphänomen, die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten zerfließen, das Hinterland wird zur „Heimatfront“, Fabrikarbeit zur vaterländischen Pflicht. Frauen ersetzen die einberufenen Männer, Seeblockaden behindern oder zerstören Lieferketten, Hunger zu erzeugen, wird zum bedenkenlos eingesetzten Kriegsmittel. Der Staat verändert Gestalt und Funktion, er wird, argumentiert Richard Overy, zum „Kriegsstaat“, der intensiver denn je in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse eingreift, auf die Bedürfnisse der Kriegführung und die geostrategischen Projektionen der politischen Eliten ausgerichtet wird. Was sich bereits vor 1914 abgezeichnet hatte: das enge Zusammenspiel von Militär und Industrie wird ebenso zur unumkehrbaren Realität wie der allgegenwärtige Interventionsstaat. Beides überdauert den Krieg und wird bestimmend auch im Frieden.

Neben dem Begriffspaar „modern“ versus „vormodern“ existiert ein zweites: symmetrisch versus asymmetrisch. Jenes bezeichnet die regulären Kriege zwischen souveränen Staaten, die nach 1945 eher die rezessive Komponente der Entwicklung ausmachen, dieses die Auseinandersetzungen zwischen ungleichen Gegnern, ungleich in Bewaffnung und Feuerkraft, ökonomischem und technologischem Potential, Orts- und Geländekenntnis, ungleich nicht zuletzt im Blick auf Motivation und Elan. Gemeint sind die zahlreichen Bürger-, Guerilla- und Kolonialkriege, die seit dem frühen 19. Jahrhundert die Welt überziehen und wiederum, wie David Bell hervorhebt, eigene „komplexe Transformationen“ hervortreiben. Der Kampf der Spanier gegen die napoleonische Besatzung gehört dazu, ebenso der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama in Südafrika, auch das Vorgehen der Briten gegen die Buren oder die Niedermetzelung des gegen die Französische Revolution gerichteten Aufstandes in der Vendée, nicht zu vergessen den Terror gegen die Zivilbevölkerung und die zu seiner Neutralisierung aufgewendeten Gegenmaßnahmen der angegriffenen Staaten. Dazu passt der von Hew Strachan herausgearbeitete Befund, dass die Schlacht traditionellen Typs, die über Sieg oder Niederlage entscheidet, im Laufe des 20. Jahrhunderts, auch im Angesicht der nuklearen Bedrohung, zunehmend an Bedeutung verloren hat. Die Regel wurde der langdauernde Abnutzungs- und Zermürbungskrieg. Nach 1945 zeigte sich überdies, dass es überlegenen konventionellen Streitkräften schwerfällt, sich an die Realitäten des Guerillakriegs anzupassen. Vietnam und Afghanistan, das Scheitern der USA wie das der Sowjetunion, liefern dazu das nötige Anschauungsmaterial.

Das Ende des Krieges ist nicht unbedingt identisch mit dem Ende der Gewalt. Man könnte den viel zitierten Merksatz von Clausewitz abwandeln und sagen: Der Friede ist bisweilen nur eine Fortsetzung der Gewalt des Krieges. Das gilt für die Konflikte nach dem Ersten Weltkrieg, von denen Deutschland, einige der mitteleuropäischen Staaten, vor allem aber Russland und dessen Randstaaten heimgesucht wurden, das gilt ebenfalls für die Bürgerkriege in China und Griechenland, für die Befreiungskriege in den ehemaligen Kolonien der europäischen Mächte, die nach 1945 ausbrachen. Auch die „kulturelle Demobilisierung“ (Robert Gerwarth), die Abrüstung monströser Feindbilder und Propagandamaschinerien fiel schwer, was eine Kooperation zwischen den Siegern und den Verlierern erheblich beeinträchtigte, namentlich in Deutschland und Italien nach 1919 die in den Pariser Vorortverträgen entworfene Friedensordnung nicht einwurzeln ließ. Auch das Aus für den Kalten Krieg hat nicht den ewigen Frieden gebracht, sondern, wie Leonard V. Smith hervorhebt, „einen ewigen Krieg niedriger Intensität“. Man denke an die Konflikte um die Erbmasse Jugoslawiens, an al-Qaida oder an die Träume von einem islamischen, den Globus umspannenden Kalifat, dessen sämtliche Konventionen sprengenden Aktivitäten die Vorstellungskraft zivilisierter Gesellschaften bei weitem überstiegen.

Der Preis für den Krieg ist noch Jahrzehnte später zu entrichten. Das betrifft zum einen die Begleichung exorbitanter Reparationsleistungen, zum andern die Finanzierung der inneren Kriegsfolgelasten. Die Versehrten und Traumatisierten müssen ebenso versorgt werden wie die Witwen und Waisen. Zerbombte Wohnviertel und Industrieanlagen wieder aufzubauen, kostet beträchtliche Anstrengungen. Gefangene und verschleppte Zivilpersonen müssen repatriiert werden, das Schicksal, das sie erwartet, ist ungewiss, bisweilen, so in der Sowjetunion nach 1945, müssen sie sich gegen den Vorwurf der Feigheit zur Wehr setzen. Diejenigen, die den Bunkern und Schützengräben heil entkommen sind, stehen vor der Aufgabe der Reintegration in die vergleichsweise banalen Welten des zivilen Alltags. Dass dies nicht immer problemlos abläuft und vertraute Ressentiments immer noch in den Köpfen stecken, erfuhr ein afroamerikanischer Teilnehmer am Vietnamkrieg, von dem Henry Rousso in seiner Einleitung zum vierten Abschnitt berichtet. Der Veteran war 1968 nach der Tet-Offensive demobilisiert worden. Er sei froh gewesen, als er in Boston den Flieger verlassen habe. Dann aber sei er gewahr geworden, dass ein Taxifahrer ihn wegen seiner Hautfarbe nicht befördern wollte. „Sie haben in mir nicht den Soldaten gesehen, sondern einen Nigger aus Roxbury“, lautet das bittere Resümee: „Ich bin ein Marine, ich habe dreizehn Monate für mein Land gekämpft, im Kriegsgebiet, und kein Taxi fährt mich nach Hause.“

Die 63 Beiträge, die Bruno Cabanes in seinem Buch versammelt, im Einzelnen zu würdigen, ist schwer möglich, obwohl sie es verdient hätten. Sie sind anregend, argumentieren auf hohem Niveau und schlagen Schneisen in ein thematisch breit gefächertes Feld. Die Aspekte, die sie ausbreiten, und die Dimensionen, in denen sie sich bewegen, sind ebenso vielfältig wie die Epochen und die Räume, die sie abdecken. Dabei handelt es sich nicht um die eine Geschichte des Krieges, sondern um viele Geschichten, die nicht leicht zur Deckung zu bringen sind. Sie bilden ein multiples Geschehen in den Kriegsarenen auf verschiedenen Kontinenten ab, namentlich in Europa, Afrika und Asien. Vor allem aber: Sie demonstrieren eindrücklich, was eine kultur- und sozialwissenschaftlich gewendete Militär- und Kriegshistorie zu leisten vermag.

Titelbild

Bruno Cabanes (Hg.): Eine Geschichte des Krieges. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Aus dem Französischen von Daniel Fastner, Michael Halfbrodt und Felix Kurz.
Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2020.
903 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783868543469

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