Eingeschlossen

Carolina Schuttis Protagonistinnen loten in „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ innere und äußere Grenzen aus

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein verstörender Roman. Auf knapp 150 Seiten folgen wir den beiden Protagonistinnen, die abwechselnd ihre Geschichte erzählen. Die eine, die Ich-Erzählerin, lebt eingeschlossen in einer Klinik, damit ausgeschlossen von der Außenwelt, zu der sie zunehmend den Kontakt verliert. Einzige Bezugsperson ist Mark, doch wird er demnächst entlassen. Ihr bleibt von ihm eine Jacke, sonst nichts. Auch wenn sie sich immer mehr in sich zurückzieht, kaum mehr spricht, sich abhandenkommt, bleibt sie die Beobachterin, die genau wahrnimmt, was um sie herum geschieht. Gestochen scharf erkennt sie, was ist. Womit sich ihre Wutausbrüche, die sie in den Griff zu bekommen angehalten wird, nicht besänftigen lassen. Im Gegenteil. Weg von hier will sie, und da kann eine gehörige Portion Wut durchaus hilfreich sein.

Ich will hobeln! Ich will lackieren!
Ich sehe die grinsenden Gestalten, wie durch ein Vergrößerungsglas, ich schreie. Wer ist bescheuert, wer?, ich trete, ein Tritt noch, noch einer, ein letzter. Ich weiche zurück, mein Rücken trifft auf eine Wand, ich breite die Arme aus, als wollte ich davonfliegen, doch etwas stimmt nicht an diesem Bild, es sind die Hände, die ich zu Fäusten geballt habe, es sind die harten Fingernägel, die sich in meine Handballen fressen, ohne dass der Schmerz mein Bewusstsein erreicht.
Ich soll ihnen erzählen:
Wie sie sich anfühlt, die Faust, in der Holzsplitter stecken. Wie es sich anhört, das Geräusch von krachendem Holz. Wie sie aussieht, die Flugbahn der Handkreissäge, die nur knapp den Kopf des Gesellen verfehlt.

Die andere Protagonistin, Ina, hat sich zum Ziel gesetzt, an einer der Winterstraßen in Sibirien eine Raststätte zu eröffnen. Ausgerechnet. Und weil sie da nicht einfach so hinkommt, geht sie einen Deal ein mit Boris, der als Wächter ein Gelände (was für eines?) beaufsichtigen muss. Ina soll „für wenige Monate seine Gehilfin sein. Jeder Wächter habe einen Assistenten, er habe noch keinen.“ So lautet die Abmachung: Boris wird sie zur Winterstraße fahren, sobald die Zeit dafür da ist. Doch vorerst muss sie abwarten, „bis die Sümpfe frieren”. Zwei, drei Monate, was soll dabei schon sein, wenn nachher alles gut werden wird. Sie unterzeichnen sogar einen Vertrag, unleserlich zwar, aber mit Stempel und mit Boris’ und ihrer Unterschrift. Dass er sie gleich auch noch um Geld bittet, für Vorräte und die Tickets für die Fähre, lässt sie zwar stutzen, doch sie werde einen guten Lohn bekommen und alle Schulden würden zurückbezahlt.

Ina unterlässt es nachzufragen, auch wenn die Zweifel schon früh da sind. Denn Boris lässt sie bald allein, versichert, er werde rechtzeitig zurückkommen. Es schneit, wird kälter und kälter. Ina ist allein und gänzlich auf sich gestellt. Der Raum, in dem sie sich eingerichtet hat, lässt sich kaum heizen, draußen greifen die tiefen Minustemperaturen sie aufs Heftigste an. Doch hinaus muss sie, für die Kontrollgänge viermal am Tag. Ina leidet unter heftigem Hautausschlag. Da sie längst nicht mehr weiß, wie lange sie bereits diesem Ort ausgesetzt ist, und noch viel weniger, wann Boris zurückkommen wird, fürchtet sie, ihre Vorräte könnten ausgehen, sodass sie immer weniger isst. Sie macht sich auf Hasenjagd, immerhin mit Erfolg. Nachts schreckt sie aus Alpträumen auf, in denen Boris zurückgekehrt ist mit Kumpels, die sich, ohne von ihr Kenntnis zu nehmen, breitmachen. Im Dunkeln glaubt sie, Boris zu sehen, seine Stimme zu hören. Oder stammen die nächtlichen Geräusche von Tieren ab? Und schon meint sie einen huschenden Schatten zu entdecken. Aber da ist nichts. Zum Glück. Zum Glück?

Ina geht zum Eimer, gießt Wasser in den Becher, trinkt, verspürt einen Schmerz bei jedem einzelnen Schluck. Es ist nicht die Kälte des Wassers, es ist etwas anderes, vielleicht ist sie aufmerksamer, vielleicht spürt sie mehr als sonst, vielleicht aber breitet sich der Ausschlag nicht nur auf der Haut, sondern auch in ihr aus, was soll sie dagegen tun, warten, bis es aufhört, warten, bis es von alleine besser wird.

Einer Spirale gleicht folgt dieser Roman diesen beiden Frauen auf ihrem Weg – ja, wohin? Und wirft zunehmend Fragen auf: Was suchen sie? Was bedeutet Freiheit? Ihrer Wut Ausdruck verleihen, wie es die Ich-Erzählerin tut? Den einmal eingeschlagenen Weg ohne Wenn und Aber weiterverfolgen, wofür sich Ina entschieden hat? Und für beide Frauen gilt: der Ort, an dem sie sich befinden, entpuppt sich als Ort der Unfreiheit, als geschlossener Ort, als Ort der Abhängigkeit. Ist das wirklich die Freiheit, die sie sich wünschen? Es drängt sich aber auch die Frage auf, ob es sich bei der Ich-Erzählerin und Ina um die gleiche Person handelt. Denn da gibt es ziemlich genau in der Mitte des Romans dieses eine Kapitel, erzählt aus Inas Perspektive, in dem Ina ein Tappen an den Fenstern hört, und anstatt nachzuschauen, was das ist, in Träumen versinkt.

Tief im Bett, unter zwei Decken, zitternd und krank, vergisst man leicht, wo man ist, glaubt sich im Kinderzimmer, in das gleich der Vater tritt, eine Tasse Tee mit Honig in der Hand, etwas ungelenk, aber was macht das schon, Löffel für Löffel, lauwarm, der Vater sitzt an der Bettkante, sein Hemd riecht nach Schweiß, nach Draußen, und eine Sehnsucht breitet sich aus, wo man sich doch, es ist noch nicht lange her, müde vom Holzhacken so sehr nach Bett verzehrt hat. Man glaubt sich in der Werkstatt, vor dem Stapel frisch angelieferter Edelhölzer. […] Man glaubt sich auf dem Sofa des Freundes, unter der Dachschräge, auf dem Sofa mit den Blumen, über deren Farbe man sich nie einig werden konnte, grün oder blau, taubengrau oder dunkeltürkis, und der Freund sitzt mit Essen am Boden, reicht einem etwas davon, man kann es nicht schlucken, man hätte gerne Suppe, der Freund öffnet den Kühlschrank, wärmt eine halbe Flasche Bier in einem emaillierten Topf. Man glaubt sich in der Anstalt, Mark soll abhauen, der Krankenpfleger auch, die frische Bettwäsche kratzt am Kinn, ein Spray wird in die Luft gesprüht, die Fieberträume werden forsch zur Seite geschoben, morgens, mittags, abends, nach zwei Tagen ist der Spuk vorbei, und man geht mit klaren Augen durch die Gänge, macht sein Bett wieder selbst und legt gleich nach dem Aufstehen den Schlafanzug gefaltet auf das Kissen.

Faszinierend ist dieses Geflecht von Momentaufnahmen im Lebensabschnitt zweier Frauen, herausfordernd das langsame genaue Erzählen, das Frage um Frage in den Raum stellt; jede hallt lange nach und lässt erkennen, wie unwichtig es wird, sie definitiv zu beantworten. Carolina Schutti legt uns mit Der Himmel ist ein kleiner Kreis – übrigens eine Feststellung der Ich-Erzählerin auf der letzten Seite, sie träumt, sie sitze in einem Erdloch und von dort gesehen ist „der Himmel ein kleiner Kreis” – einen leisen, intensiven, poetischen Roman vor, der den Drang nach Freiheit körperlich erfahrbar macht und gleichzeitig die inneren und äußeren Abhängigkeiten radikal aufdeckt.

Titelbild

Carolina Schutti: Der Himmel ist ein kleiner Kreis.
Literaturverlag Droschl, Graz 2021.
152 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590720

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch