Bob Dylan und Erich Fried: Vorbemerkungen zu den beiden Themenschwerpunkten der Mai-Ausgabe 2021
Am 24. Mai feiert mit Bob Dylan der wohl wichtigste Songwriter des 20. und 21. Jahrhunderts seinen 80. Geburtstag. Viele Ehrungen wurden dem Musiker und Lyriker bereits zum 70. und vor allem zum 75. Geburtstag im Jahr 2016 zuteil. Wenige Monate später bekam er den Nobelpreis für Literatur zugesprochen – eine umstrittene und viel diskutierte Auszeichnung, die jedoch seinen Ruhm noch einmal vergrößert hat.
Bob Dylan ist jedoch auch ein Mann der Masken. Viele hat er im Laufe seiner nun fast 60-jährigen Karriere ausprobiert, so dass bis heute niemand zum Wesen des mutmaßlich „wahren“ Bob Dylan vorstoßen konnte. Auch die verschiedenen Phasen, die sein musikalisches Schaffen geprägt haben, sind von jenem Maskenspiel gekennzeichnet. Er war politischer Protestsänger, Prediger, Schauspieler, Poet, Verweigerer. Viele verschiedene Stilrichtungen hat er auf seinen Alben ausprobiert, musikalische Haken geschlagen und seine Fans ein ums andere Mal verstört. Auch deswegen ist Bob Dylan als Musiker so faszinierend geblieben.
Dieter Lamping und Sascha Seiler veröffentlichen nun zum 80. Geburtstag eine Sammlung von Aufsätzen, in denen sich die verschiedenen Autoren mit jeweils einem für sie besonderen Album aus der Karriere Dylans auseinandersetzen. Dabei wurde Wert daraufgelegt, dass das gesamte zeitliche Spektrum seiner musikalischen Laufbahn abgedeckt wird. Vier dieser Texte veröffentlichen wir als Teil des Mai-Schwerpunkts von Literaturkritik.de, der dem 80. Geburtstag Bob Dylans gewidmet ist. Diese wie auch sieben weitere Aufsätze sind in dem Buch May Your Songs Always Be Sung – Bob Dylans große Studioalben zu lesen, das Anfang Mai im Verlag Literaturwissenschaft.de erschienen ist. Darüber hinaus führten wir exklusiv für den Schwerpunkt ein langes Gespräch mit dem Musiker Wolfgang Niedecken über seine Liebe zu Bob Dylan und warfen einen Blick auf die Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum, die sich mit dem Künstler auseinandersetzen.
Auf andere, aber doch partiell ähnliche Art unberechenbar divers und ambivalent wie Bob Dylan war der Lyriker, Essayist und Übersetzer Erich Fried, der vor 100 Jahren, am 6. Mai 1921, in Wien als Kind jüdischer Eltern geboren wurde, nach dem Tod seines von der Gestapo verhörten und gefolterten Vaters 1938 nach London exilierte und 1987, ein Jahr vor seinem Tod, mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Ihm widmet sich der zweite Themenschwerpunkt dieser Ausgabe, zum Teil mit erneuten Veröffentlichungen älterer Beiträge über ihn. Affinitäten zwischen Bob Dylan (ebenfalls Kind jüdischer Eltern) und Erich Fried bestehen nicht zuletzt in ihrer beider Wertschätzung des walisischen Dichters Dylan Thomas. Bob Dylan übernahm seinen Namen, Erich Fried veröffentlichte Übersetzungen seiner Gedichte, Erzählungen und Briefe. Einer der Beiträge in dem Schwerpunkt widmet sich ausführlich der „seltsamen Freundschaft zwischen Erich Fried und dem Neonazi Michael Kühnen“, Zeugnisse einer anderen, zum Teil ebenfalls seltsamen Freundschaft sind die Beiträge, die Marcel Reich-Ranicki über Erich Fried geschrieben hat. Als Fried den Büchner-Preis erhielt, begann Reich-Ranicki seinen Artikel zur Preisverleihung mit dem Satz: „Mein alter Freund Erich Fried hat abermals gesiegt.“ Und bald danach bescheinigt der Artikel ihm eine „Mischung aus ergreifender Naivität, entwaffnender Weltfremdheit und pueriler Selbstgefälligkeit“. Frieds Vermutung in seiner Preis-Rede, dass (so gibt sie Reich-Ranicki wieder) „Büchner sich in unserer Zeit der Baader-Meinhof-Gruppe angeschlossen hätte, wenn er nicht schon vorher von der bundesdeutschen Polizei erschossen worden wäre“, kommentiert er mit den Sätzen: „Muß man sich mit Frieds blühendem Unsinn ernsthaft auseinandersetzen? Nein, man muß es nicht.“
Doch was immer Fried über die politischen Zustände in Deutschland sagen mag – er kann immer nur sich selber kompromittieren, nicht aber seine Dichtung. Er hat Hunderte, ja Tausende wertloser Gedichte geschrieben und daneben auch wunderbare Verse, die ihn und wohl uns alle überleben werden. Da bedürfen wir keiner Belehrung. Es sei einmal in aller Bescheidenheit und zur Verärgerung mancher Kritiker und Publizisten hier gesagt: Keine deutschsprachige Zeitung hat in den vergangenen zwölf Jahren soviele Gedichte von Erich Fried gedruckt wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Und so zahlreich seine Buchpublikationen in dieser Zeit auch waren – sie wurden ausnahmslos alle und ganz und gar unabhängig von seinen oft genug hirnverbrannten politischen Verlautbarungen in unserer Zeitung rezensiert: nicht immer enthusiastisch, doch immer respektvoll.
In unserer Ausgabe haben wir diesen Artikel Reich-Ranickis nicht noch einmal veröffentlicht, sondern seinen Nachruf. Er endet mit den Worten: „Die Ärgernisse, die der heimatlose Poet oft angerichtet hat, sind beinahe schon vergessen. Doch bleiben wird eine Anzahl seiner Gedichte. […] Der Name Erich Fried wird nicht in Vergessenheit geraten, darf nicht in Vergessenheit geraten.“
„Runde“ Geburtstag sind in dieser Ausgabe auch eine willkommener Anlass, an andere Persönlichkeiten zu erinnern, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen: Im Mai vor 250 Jahren wurde Rahel Varnhagen geboren, vor 150 Jahren Christian Morgenstern, vor 120 Jahren Rose Ausländer und vor 100 Jahren Sophie Scholl. Wir danken allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die uns dabei geholfen oder durch andere Beiträge die Mai-Ausgabe bereichert haben, und wünschen unseren Leserinnen und Lesern im Namen unserer Redaktionen eine anregende Lektüre.
Sascha Seiler und Thomas Anz