Aus dem mittelmäßigen Glück herausgefallen

Dorothy Whipples spätes Debüt auf dem deutschen Buchmarkt mit ihrem Roman „Der französische Gast“ von 1953

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die englische Schriftstellerin Dorothy Whipple war in den 1930er Jahren und noch eine Weile danach eine sehr erfolgreiche Autorin. Ihr letzter, 1953 erschienener Roman Someone at a Distance ist jetzt in Übersetzung erschienen. Es ist zugleich die erste deutsche Übersetzung eines ihrer Werke überhaupt. Wie mag es wohl zu dieser Ausgrabung gekommen sein? Eine editorische Notiz, die uns diese Frage beantwortet oder zumindest eine Spur verrät, hielt der Verlag offenbar für entbehrlich. Also sollen wir wohl die Antwort im Werk selbst suchen und finden. Aber gerade in solchen Fällen wünschte ich mir als Leserin dann doch, wenigstens zu erfahren, warum wir so lange auf genau dieses Buch warten mussten.

Schon zu ihren Lebzeiten war es still um die Erfolgsautorin geworden. Die Nachkriegszeit spülte sicherlich andere Moden und Ismen nach oben, brachte andere Erwartungen des Lesepublikums ins Spiel. Die letzte Rezension erschien, um das nachlassende Interesse an Whipple von dieser Seite her zu illustrieren, in der New York Times bereits 1949. Gerade mit dem Absinken auf der Beliebtheitsskala stellt sich jedoch die Frage: Was passt auf einmal nicht mehr – die Themen, der Schreibstil, die Botschaft? Die New York Times fand immerhin ein Lob, das sich zugleich wie ein Wink mit dem Zaunpfahl liest. Da heißt es nämlich erstaunt, „was eine sensible Intelligenz in Verbindung mit einem ausgeprägten Talent aus dem gewöhnlichsten Material machen kann.“ Der Zaunpfahl ist unüberhörbar, wie ich meine, jenes „gewöhnlichste Material“ und zugleich der routinierte Umgang mit ihm. Freilich sind die Geschichten, die das Leben schrieb, immer auf eine Art gewöhnlichstes Material.

Kein Wunder also, genau das in Der französische Gast bestätigt zu finden. Whipple liefert gleichwohl spannende Unterhaltung. Auch das eine Lektüreerfahrung. Hinzu kommt ihr wohl echt britischer Sinn für eine feine Ironie in der Beschreibung von Charakteren und Situationen. Auch besitzt sie ein hohes Maß an Empathie für ihre Figuren. Die Dramaturgie des Romans ist tadellos konstruiert und arbeitet geschickt mit Überraschungen. Doch dazwischen gibt es immer wieder das eine oder andere „Aber“, vor allem wenn der literarisierte Zeitgeist von vor siebzig Jahren allzu old fashioned daherkommt. Es sieht so aus, als habe die Autorin einiges bei ihrem berühmten Landsmann Charles Dickens gelernt, der es nicht nur verstand, ans Herz der Leser*innen zu greifen, sondern es ebenso vermochte, Spannungsbögen mühelos über zweihundert Seiten zu bauen. Was dann beispielsweise bedeutet, die letzten zweihundert Seiten in einem Zug lesen zu müssen, um das Buch dann wirklich mit aller Rührung ob des versöhnlichen Ausblicks zu schließen.

Und worin bestand die Rührung? Einfach gesagt, weil das Gute, Ehrliche, Anständige und damit auch die Liebe siegen. Und das ist keineswegs langweilig, denn um ehrlich zu sein, die junge, gutaussehende, äußerst arrogante und selbstgefällige, im Grunde aber bemitleidenswerte Französin, die eine englische Provinzidylle wie eine zweite Pandora vergiftet und mal eben eine Ehe zerstört, möchte man doch lieber verscheuchen, wegwischen wie alles Lästige.

Wie wohl die meisten Dramen beginnt auch diese Geschichte harmlos. Die junge und attraktive Louise bewirbt sich um eine Stelle als Gesellschafterin bei einer alten Dame. Deren jüngster Sohn Avery, ein erfolgreicher Verleger in London, ist schon lange glücklich verheiratet mit Ellen, einer sympathischen, zupackenden Frau, und er hat zwei Kinder, die er liebt. Louise gewinnt alle Sympathie der alten Lady und die mag es nun gar nicht, dass ihre so geistreiche und elegante Gesellschafterin nach Frankreich zurückkehrt. Erneut tritt Louise die Stelle an und nun entfaltet sich peu à peu das Verhängnis. Denn inzwischen wissen wir einiges über die gekränkte Psyche der jungen Frau, die aus Standesdünkel als Heiratskandidatin zurückgewiesen wurde. Die Verletzung sitzt tief und umso heftiger das Verlangen, das Glück der anderen zunichte zu machen, wo es kein eigenes gibt. „Das Glück anderer zu sehen, ging ihr auf die Nerven. Glückliche Menschen waren so langweilig. Es zeugte nicht von Intelligenz, glücklich zu sein, fand Louise.“ Aber am Ende schreibt nicht sie, die in großes Kino verliebt ist, das Drehbuch, sondern eine Autorin, der etwas ganz anderes einfällt.

Zur nachgerade übermenschlichen Heldin wird dann Ellen North, die Ehefrau und Mutter, in ihrer Selbstaufopferung. Erst spät wandelt sich ihre gutherzige Blindheit und aus Naivität wird endlich Selbstachtung. Hier liefert Whipple ganz nebenbei ein psychologisch nachvollziehbares Beispiel dafür, dass Verletzlichkeit auch stark machen kann. Auch wenn die Autorin noch nicht den heute gängigen Begriff toxischer Männlichkeit kannte, so vermittelt sie doch in dem Porträt des Ehemanns Avery North eine vernehmliche Kritik an dessen emotional gepanzertem Charakter. Schuld seien immer die anderen und alle seien gegen ihn, den Mann, wobei der Stolz sein einziger und zugleich sein hinterhältigster Freund ist. Das Nicht-Reden-Können paart sich in Avery mit dem Nicht-Zuhören-Können. Doch wie schon bei Dickens darf in Dramen ruhig ein wenig Märchen hineinspielen, gelenkt von Feen Hand. Es bleibt gute Unterhaltung, für die Silvia Morawetz eine ebenso frische wie elegante Übersetzung fand.

Titelbild

Dorothy Whipple: Der französische Gast.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
448 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958422

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