Wenn Johann mit Friedrich nach Italien geht

„Schoethefic“ und andere palimpsestuöse Texte skizziert Martina Stemberger virtuos in „Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärliteratur“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man dazu tendiert, das erste Aufkommen sogenannter „Fanfiction“ im mittleren oder späten 20. Jahrhundert zu verorten, wird man gleich zu Beginn von Homer meets Harry Potter eines Besseren belehrt: Bereits die Aeneis sei eine Art Fanfiction gewesen, so die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Martina Stemberger, die sich im Rahmen eines Forschungsaufenthalts am Alfried-Krupp-Institut Greifswald intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat. Vergil habe eine Nebenfigur Homers zum Protagonisten seines Epos erhoben. Dennoch bringe es wenig, die gesamte Literaturgeschichte nach Fanfiction zu durchforsten. Vielmehr gelte es, diese als eine Form kollektiven Erzählens zu schätzen und als Beweis dafür, dass der Mensch ein narratives Wesen sei.

In den späten 1960er Jahren und ganz konkret mit Star Trek bzw. Raumschiff Enterprise sei der Beginn der „Media-Fanfiction nach heutigem Verständnis“ zu situieren. Einige „Fandoms“ und „Kategorien der Fanfiction“, die in ihrer Gesamtheit einem ausgeklügelten Organisationssystem gehorchten, seien für Uneingeweihte kaum verständlich. Fanfiction sei als poetisch-politischer Akt zu verstehen, oft durch einen Slash indiziert. Man „slashe“ Figuren gleichen Geschlechts, die plötzlich liiert seien, obwohl ihre Beziehung im Ausgangswerk nicht über die freundschaftliche und/oder kollegiale Ebene hinausgehe.

Bei „sogenannten RPF (Real Person Fiction oder Real People Fiction)“ bestehe das Risiko, dass man historische Figuren als fiktive betrachte oder umgekehrt. RPFs rankten sich unter anderem um Koryphäen aus der Kunst- und Kulturgeschichte, etwa Goethe und Schiller, die in „Schoethefics“ gemeinsam vorkämen oder sogar verschmölzen.

Martina Stemberger diagnostiziert, dass Fanfiction auf einer „transfiktionalen Emanzipation literarischer Held*innen“ beruht. Diese lösten sich von ihrem Urtext, ihrer Quelle und/oder einem „Canon“, um in einem „Fanon“ neu zu erstehen und gleichermaßen dynamisch mit der Quelle zu interagieren. Daraus resultiere ein diskursives Universum, in dem sich ein „hochgradig palimpsestuöses Genre“ kreiere.

Im Zuge der Kartographierung dieser literarischen Parallelwelt, so die Verfasserin, komme man an der größten internationalen Fanfiction-Plattform, FFN (FanFiction.Net), nicht vorbei. Im November 2020 habe ihr größter Star, Harry Potter, im Mittelpunkt von 827000 Stories gestanden. Eine Besonderheit rund um den Zauberlehrling sei das Umschreiben des Epilogs aus Band 7, dies vor allem auf dem AO3 (= Archive of our Own), dem zweitgrößten und am stärksten wachsenden Fanfiction-Portal.

Obwohl Englisch bis heute die lingua franca der Fanfiction sei, gäben sich auf multilingualen Portalen, wie etwa FFN, sogar Fanfiction-Texte in Sprachen mit vergleichsweise wenigen Sprecher*innen ein Stelldichein – so etwa „Potter-Fiction“ auf Afrikaans, Hebräisch und nicht zuletzt auch auf Latein. Fanfiction sei eine „kollektive Praxis“, die der „diskursiven Identitätskonstruktion“ diene und in Extremsituationen, wie etwa zu Zeiten der Corona-Pandemie, „für zahlreiche User*innen als Evasionsstrategie und Online-Asyl“ fungiere. Fanfiction-Communities tendierten zur Bildung einer Parallel-Gesellschaft, von der Genderdistribution her seien sie oftmals weiblich und queer.

Nachdrücklich hebt Martina Stemberger den „fanfiktionalen Pakt“ hervor. Dieser beruhe auf Ko-Konstruktion, denn die Leser*innen gingen über ihren Status als Rezipient*innen hinaus, um am Prozess der Kreativität zu partizipieren. In diesem bauten sie auf Unterstützung durch Mentor*innen, erfahrene Autor*innen von Fanfiction, zudem auf die Interaktion mit den Leser*innen. Das Feuilletonformat erlebe eine „digitale Renaissance“, denn die Großzahl der Verfasser*innen von Fanfiction ließen ihre Texte in Fortsetzungen erscheinen. Ein elaborierter „paratextueller Apparat“, aus dem oft schon ein parodistischer Metadiskurs resultiere, begleite sie. Obgleich Fanfiction-Texte weitestgehend unter „Fair Use“ fallen und kaum ein*e Autor*in ein Recht auf die von ihm/ihr gezeichneten Charaktere erhebt, bewege sich Fanfiction rein juristisch in einer Grauzone. Viele Autor*innen der Originaltexte, z.B. J. K. Rowling, seien indessen sehr „fanfic-freundlich“.

Grundsätzlich unterminiere Fanfiction die „etablierten Konzepte von Autorschaft, Werk und Text“. Nicht immer sei sie von Adaptionen eines Werks oder „Mash-up-Romanen“ zu unterscheiden. Auszuschließen sei nicht, dass ein*e Autor*in von Fanfiction sich aus der Anonymität erhebe. Als berühmtes Beispiel für das Avancieren von der „Subkultur zum Mainstream“ führt Stemberger E. L. James an, deren Roman Fifty Shades of Grey ursprünglich als Fanfiction zu Twilight konzipiert gewesen sei. Dabei stelle sich die Frage, ob „die professionelle Vermarktung von Fanfiction“ und so auch ihre „Anerkennung als eigenständige, seriöse Gattung“ zu wünschen sei oder dies eher das „subversive Potential“ zersprenge.

Unter „juristischen, soziologischen und didaktischen Aspekten“ sei Fanfiction bereits analysiert worden, die Literaturwissenschaft behandle sie aber stiefmütterlich, obschon das Genre in einem „dynamischen Interaktionsprozess zwischen Autor*in, Text und Leser*in“ Fragen nach „Bedeutungskonstitution“ und ästhetischer Wertigkeit aufwerfe. Ebenso sei das Genre als Spannungsfeld „zwischen Hoch- und Populärkultur“ von besonderer Relevanz.

In „bildungsbürgerlichen und akademischen“ Kontexten, so verdeutlicht Stemberger, stehe „der emotional, oft auch erotisch investierte, fröhlich anachronistisch projizierende und selbst-inserierende Fan“ unter Generalverdacht. Er sei „der Prototyp des schlechten Lesers – bzw. der schlechten Leserin“. Dem sei jedoch entgegenzuhalten, dass Fans nicht selten „Expert*innen“ ihrer Werke seien und mit einer der akademischen Kritik überlegenen Detailkenntnis glänzen könnten.

Fanfiction mache auch im 21. Jahrhundert vor Klassikern nicht halt: so etwa existierten Prequels und Sequels zur Iliade, daneben Refokalisierungen, Handlungen aus der Perspektive von Nebenfiguren oder aus der Sicht von Hunden oder Katzen erzählt.

Des Weiteren fokussiert Stemberger die Lust an der Leerstelle, die gefüllt wird, oder das Vergnügen an amourösen Szenen, die nachgeliefert werden. Auch bei Klassikern sei das „Slashen“ von Figuren, denen man Liebesbeziehungen unterstelle, an der Tagesordnung. Petrarca z. B. sei nicht in Laura, sondern in einen gewissen Niccolò verliebt. Ein solches ikonoklastisches und parodistisches Procedere, in dem sich Hommage und Parodie verschränkten, sichere das Überleben der Klassiker. Stemberger veranschaulicht anhand mannigfacher Beispiele, dass die Altvorderen so weit von ihrem Parnass nach unten steigen, dass sie es vermögen, Alltägliches zu triggern und sogar die Erfahrungswelt von Schüler*innen zu infiltrieren, was Fanfiction zu Schullektüren, etwa Büchners Dantons Tod, beweise. Viele Fanfiction-Autor*innen reflektierten, aktualisierten, subvertierten und/oder aktualisierten Klassiker im kreativen Remake.

Trotz „feministischer Re-Perspektivierung“ orientierten sich Klassik-Fanfics am nach wie vor männlich dominierten Kanon. Die berühmten Ausnahmen bestätigen die Regel, wie Stemberger mit dem Beispiel Irène Némirovsky belegt. Manchmal erteile ein*e  Autor*in von Fanfiction den Ratschlag, das Original zu lesen, also quasi einen zur Fanfiction umgekehrten Weg einzuschlagen. „Parallel zur Auseinandersetzung mit dem institutionalisierten Kanon“ vollzögen sich „Fandom-interne Kanonisierungsprozesse“, denn „dieses ‚demokratische Genre‘“ sei nicht frei von Hierarchien. In erster Linie jedoch offenbare sich in einer „vermeintlich inferioren Gattung […] ein hoher Grad an metaliterarischer Selbstreflexivität“, ein „Meta“, so wie es im Fanjargon heiße. Das Experimentieren mit Formen setze einen ästhetischen Anspruch frei, der in einigen Texten weit über die Orientierung an Plot und Figuren hinausgehe.

Sehr zu begrüßen ist, dass Stemberger abschließend eine Fanfiction, „ein besonders raffiniertes Crossover“, genauer analysiert: In Shelf Life bediene sich der Autor beer_good des Verfahrens der Metalepse, lasse Charaktere agieren, die selbst Fanfiction schreiben und entwerfe für seine Leser*innen ein vor Allusionen auf romaneske Prätexte berstendes palimpsestuöses Universum, das eine „poetologische Parabel und zugleich Parodie auf das Projekt Fanfiction“ auf sich vereine und letztendlich vorführe, dass „Fandom […] a way of life“ sei.

In ihrer Kurzmonografie wartet Martina Stemberger mit unzähligen Beispielen auf, denen insofern etwas Volatiles zu bescheinigen ist, als sie leider – abgesehen von Shelf Life – nicht vertieft werden. Immerhin kann man die angefachte Neugierde mit ein paar Klicks auf den einschlägigen Online-Foren einigermaßen gut stillen und im Übrigen spiegelt die flirrende Vielfalt nicht nur die Multiperspektivität, Dynamik und Vitalität der Fanfiction, sondern ist vermutlich genauso der Reihe DIALOGE des Narr-Francke-Attempto-Verlags zu schulden, denn alle bislang vorliegenden Bände gehen kaum über 100 Seiten Umfang hinaus. Den Anspruch der Reihe, dass ein „Zugang zu geisteswissenschaftlichen Fragestellungen, Denkweisen und Lösungsansätzen“ geboten und deutlich werde, dass Geisteswissenschaften „einen Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten“ (https://www.narr.de/linguistik/reihen/dialoge/) leisten, hat Martina Stemberger vollumfänglich erfüllt.

Nichtsdestoweniger: der Stoff drängt zu einer nachgerade explosiven Erweiterung. Die kurzen Kapitel, deren Überschriften aus passgenauen Zitaten und Kurzerläuterungen zu ihnen bestehen, muten auf den ersten Blick sowohl summarisch als auch quantitativ akkumulierend an. Zusätzlich wirkt die Kapitelanordnung ab und an arbiträr. Zum einen hätte man sich eine stringentere Struktur wünschen dürfen, zum anderen ist aber gerade die Partikularität einer freieren Form lobenswert, ist diese doch eng verquickt mit der Fanfiction, formiert sie eine Art formales „Meta“, weil eine freie Form der Analyse eine freie Form kultureller Texte repetiert. In einer derart freien Form der Analyse bedient sich Martina Stemberger einer Wissenschaftssprache, die mit einem überaus reichen Wortschatz punkten kann, mit dem die Internationalität des Deutschen unter Beweis gestellt wird.

Fanfiction ist eine von vielen Indikatoren für den Facettenreichtum und die Fluidität einer globalisierten kulturellen Landschaft. In der ihr eigenen kontinuierlichen und spiralförmigen Hermeneutik, bestehend im Rekurs auf die Quellen, in ihrer kreativen Transformation und der erneuten Bewegung hin zu ihnen, manifestiert sich eine interindividuelle Dynamik, die vor dem heuristischen Hintergrund der Bachtinschen Dialogizität oder der weitmaschigen Intertextualität im Sinne Julia Kristevas vertiefend analysiert werden könnte.

Spannend bleibt es dennoch, ebenfalls einen Blick auf die höchst individuellen Content-Transformationen zu richten, denn in ihnen ist die „mise en abyme“ des palimpsestuösen Spiels genauer zu fassen und auszuloten, wie die „adorative und ikonoklastische Intertextualität“ paradigmatisch funktioniert, wie etwa Parodie oder Pastiche oder ganz andere Verfahren der Modifikation, De- und Rekonstruktion einer Quelle herangezogen werden.

Martina Stemberger konkludiert, dass Fanfiction ein demokratisches Genre sei, dem eine poeto-theologische Dimension eigne und dem in seinen parodistischen Verfahren eine gewisse Respektlosigkeit inhäriere. Letztendlich ist Fanfiction als lustvolles Umschreiben zu würdigen, ein post-post-modernes Transformieren, gerahmt von nerdigem Kenntnisreichtum und einer Prise wohltuender Absurdität. All das spiegelt eine ziemlich brillante Darstellung wider, die eine exzellente Basis für Diskussionen und weiterführende Forschungen zur Verfügung stellt.

Titelbild

Martina Stemberger: Homer meets Harry Potter. Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2021.
98 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783893084623

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