Eine bestechend virtuose, ganz verteufelt humane Tonfolge
Über die Gedichte und Prosa-Miniaturen in „Nichts, nur“ von Walle Sayer
Von Johann Holzner
Sie sind keineswegs sonderlich verklausuliert und demnach alles andere als hermetisch, diese Gedichte und Prosa-Miniaturen; und doch erschließen sie sich gleichwohl nie unverzüglich, denn sie verführen zu einer geradezu bedächtigen, beständig-hellhörigen Lektüre. Zu einer Lektüre, die aufmerksam Wort für Wort aufnimmt und umdreht und bedenkt, somit also sich jenem Verfahren anschließt, das die Stimme vorgibt, die in allen diesen Texten sich zu Wort meldet.
Eine Stimme, die sich zurückhaltend präsentiert, nur andeutet, was alles zu erzählen und zu sagen wäre, und dabei doch sehr selbstbewusst auftritt. Unwiderstehlich, sympathisch selbstbewusst; ein wenig erinnert sie an den Ton, den der berühmteste Fahnderwachtmeister der Berner Kantonspolizei, Friedrich Glausers Wachtmeister Studer anschlägt: Auch der lässt sich von niemandem „einlieren“, stur geht er seinen Weg, auch wenn hin und wieder ein großes Schild und ein Pfeil unübersehbar ihm die Richtung weist, die er nehmen sollte. „Er bog lieber links ab, der Weg stieg ein wenig an, aber man kam gleich in den Wald – Nadelhölzer und ganz wenig Laubbäume … Tannenduft war gesund […].“
Walle Sayer lebt in Horb am Neckar – am Tor zum Schwarzwald. Seine Gedichte und seine Miniaturen, hin und wieder auch einschlägige Dialektausdrücke verweisen immer wieder auf die Region, aus der er kommt und in der er seine Wege geht. Er muss nicht wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen in die Ferne schweifen; es genügt ihm, was er so auch sieht. Aber auch er lässt sich von keinem Wegweiser irritieren, und die ausgetretenen Pfade der zeitgenössischen Lyrik kümmern ihn nicht im Mindesten. Er hat nämlich gelernt scharf zu beobachten, z. B. zu verfolgen, wohin die Leute gewöhnlich auf Gruppenbildern schauen. Sein lyrisches Ich schaut sie an, schaut sich um und sieht mehr, viel mehr, sieht nebenbei auch, was nie gestimmt hat und nach wie vor nicht stimmt; und orientiert sich im Übrigen an Fernando Pessoa: „Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern das, was wir sind“.
Den kühnen, vielversprechenden Titel der Sammlung klärt ein lakonisches Vorwort:
Nichts, nur
Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht. Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab. Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt.
Natur und Gesellschaft, insbesondere Erinnerungen an die Kindheit und Jugendzeit geben vielfach die Themen vor. Mehr noch aber: das Hinhören auf die „Tonfolge“, das Hinschauen, wo andere gleich wegschauen, und permanent die Verpflichtung, sich einen eigenen Reim zu machen. Walle Sayer zieht in diesem (durchaus vornehm gestalteten und ausgestatteten) Band ein Zwischenfazit, eine beeindruckende Bilanz nach mehr als dreißig Jahren. Seine Arbeitsweise zeigt sich am deutlichsten in der Überarbeitung älterer Gedichte.
Das Gedicht Löschblatt erschien 1994 in dieser Fassung:
Die Tafel war viel zu schwarz
für jedes Schattenspiel,
seine Reden hielt der Lehrer an die Eselsohren
in unserm Schönschreibheft,
die Schnittmenge waren wir
zwischen den Dummen und den Faulen,
Sitzenbleiber ließen uns abschreiben,
Stotterer sagten uns ein,
zwischen allen Linien hingen die Vauwörter
unserer ungelenken Kinderschrift
wie verlassne Vogelnester.
In der vorliegenden Sammlung steht unter demselben Titel diese Version:
Tafelflächen, viel zu schwarz
für jedes Schattenspiel,
Eselsohren lauschten
den geknickten Seiten
im Schönschreibheft,
die Schnittmenge waren wir
zwischen den Dummen und den Faulen,
Sitzenbleiber ließen abschreiben,
Stotterer sagten ein,
zwischen allen Linien hingen die Vauwörter
unserer ungelenken Kinderschrift
wie verlassene
Vogelnester.
Die Strategien der Überarbeitung – einzelne Wörter zu eliminieren oder auszutauschen, Enjambements zu verschieben, neue Strophengliederungen einzuführen – verraten, mit welcher Sensibilität der Autor seine Erinnerungen stilisiert. Es ist, als hätte das lyrische Ich immer wieder mit neuen und gewichtigen Bedenken zu kämpfen; hat es womöglich nicht doch einmal zu oft „uns“ gesagt?
Die alten Atemhöhlen und Wohnungen der Kindheit, die diversen Stufen der Sozialisation werden aus geringerer oder auch größerer, nicht selten mit ironischer Distanz betrachtet. Das früher Vertraute erscheint mittlerweile oft fremd, mehr als fremd; „warum eigentlich suchen wir immer das verkehrte Leben im falschen und geben uns freiwillig als Statisten her“, fragt sich einmal der Ich-Erzähler in der Rückschau einer Prosa-Miniatur. Umgekehrt dreht er Fragen, die ihm gestellt werden, halb spielerisch halb ernst resolut um: „Wovon lebst du, ist immer die erste Frage. Nie will jemand wissen wofür. Es geht, sage ich, und verschweige wohin.“
Psalm, XC,10 lautet bekanntlich, ein wenig frei übertragen, nach Luther: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ Sayer setzt voraus, dass seine Leser/innen diese Stelle kennen. Sie steht nämlich, wenngleich hier nicht explizit zitiert, im Mittelpunkt der im folgenden Gedicht angedeuteten Konstellation.
Psalm, 90,10
Es ist
der Tag vorm
Abschalten der Apparate,
dem Ziehen der Schläuche,
der endlosen Geraden
des Monitorstrichs.
Der Pfleger leuchtet
in den Augabgrund.
Hat eine Erklärung dafür,
warum die Lider noch flattern
beim Rufen des Namens.
Die abgegriffene Bibel des Krankenhauspfarrers:
Grashalme und eine Taubenfeder
als Seitenzeichen.
Ist es die Bibelstelle, die Trost vermittelt? Oder ist es vielmehr der Blick auf die abgegriffene Bibel des Priesters? Ein Blick, der von dem eben abgeschlossenen Geschehen ablenkt, oder aber auch hinlenkt auf das Wesentliche? – Wo Polyperspektivität ihren Platz hat, dort halten die Texte von Walle Sayer diesen Platz frei. Wo hingegen im Halbdunkel Zwielichtiges wächst, obgleich doch Eindeutigkeit gefragt wäre, eine unmissverständliche Haltung, dort redet der Dichter wie Luther seinerzeit: Deutsch.
Es sei der „Fremderhaltungstrieb“, sagt Walle Sayer, der ihn seit gut 35 Jahren immer wieder neu auf Touren bringe, ins Auge zu fassen, was zu sehen ist und was in den Wörtern und Worten steckt: „Sag statt Boden Erdreich, schon stehst du woanders.“ – Mit Wörtern und Worten können Festungen gebaut oder umgekehrt leicht auch niedergerissen werden: In dem vielleicht schönsten Gedicht des Bandes (das durchaus auch als Liebesgedicht gelesen werden kann) ist diese Kippfigur präsent, ein Bild, das zu verblüffenden Wahrnehmungswechseln Anstoß gibt … und einem nicht mehr aus dem Kopf geht.
Ufer
Wir sehen ihm nach,
dem Stein, wie er hüpft
auf dem Wasser, so
leicht aus dem Gelenk
meiner Hand, die dir
vorhin noch strich
übers Haar.
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