Könnte Überleben (k)eine Alternative sein?

In „Ferien am Waldsee“ observiert Carl Laszlo Todeskampf und Überleben inmitten der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bedeutet es, den Holocaust zu überleben? Wie zurückkehren aus einer Parallelwelt, in der Kants kategorischer Imperativ nicht länger wirkt, wie wiederkehren in ein vermeintlich normales Leben? Erlebnisberichte von ehemaligen KZ-Häftlingen gibt es einige. Trotz eindrücklicher und bedrückender Schilderungen in vielen dieser Berichte ist dem Grauen der Nazi-Verbrechen auch heute eigentlich nicht mit Worten beizukommen. Dennoch erfordert – so Adorno – gerade das Unfassbare, Unaussprechliche einen neuen Imperativ; zwingt sich den Menschen nahezu auf, auf dass sie „ihr Denken und Handeln so [einrichten], daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“

In seinem Vorwort merkt der ungarisch-schweizerische Kunsthändler, Sammler und Psychoanalytiker Carl Laszlo an, absichtlich zehn Jahre mit der Veröffentlichung seines fiktionalisierten (Überlebens-)Berichts gewartet zu haben, um einerseits Abstand zu den Ereignissen zu gewinnen, andererseits „von den unvermeidlichen Ressentiments so weit als möglich freizuwerden.“ Auch zum 76. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Jahr 2021 ist die Vergegenwärtigung der Konzentrationslagererlebnisse für die Leser*innen nicht ohne Gewinn, ex contrario: Wäre es doch naiv zu glauben, ein System, welches die Konzentrationslager hervorbrachte, wäre einfach vom Himmel gefallen und jene Menschen, die in diesem System wirkten, wären schlagartig zu anderen Menschen geworden. Genauso naiv wäre es zu glauben, ein solches Regime könnte nur in der Vergangenheit aufrechterhalten werden und es bestünde für die Gegenwart und Zukunft nicht die Gefahr der Wiederholbarkeit.

Daher ist es wichtig, das ganze Phänomen nicht als Albtraum zu betrachten, aus dem man bloß aufzuwachen brauchte. Dieser Deutung muss mit aller Entschiedenheit entgegengehalten werden, dass – so Laszlo – „die hier geschilderten Geschehnisse tatsächlich […] inmitten Europas sich abgespielt haben, dass alle diese Dinge heute in ähnlicher oder veränderter Form sich in anderen Ländern wieder abspielen und sie morgen wieder vor unserem eigenen Auge erscheinen könnten.“

Der Ungar Carl Laszlo ist erst 20 Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht im März 1944 Ungarn besetzt und ihn gemeinsam mit seiner gesamten Familie aus seiner Heimatstadt Pécs, Fünfkirchen, aufgrund ihres jüdischen Glaubens nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Während Laszlo die erste Selektion durch Dr. Josef Mengele übersteht, werden 45 seiner Familienmitglieder sofort in den Gaskammern ermordet. Für Laszlo bleibt Auschwitz bloß der Anfang; er durchlebt, übersteht und überlebt schließlich die Hölle der nationalsozialistischen KZ-Vernichtungsmaschinerie:                                  

Ich habe das Ganze angeschaut wie einen Fellini-Film; ich habe gesagt, wir sind in der Hölle; das ist ein unglaubliches Erlebnis, in die Hölle zu gehen, und ich bin aus der Hölle zurückgekommen. Das hat mich fasziniert, das Wort ‚fasziniert’ klingt ein bisschen überheblich, trifft aber den Sachverhalt. Ich habe immer gesagt, man muss ganz genau zuschauen, sowas haben bisher ja nur ein Dante oder Orpheus gesehen.

Laszlo schildert in fiktionalisierten, autobiografisch fragmentierten Rückblicken sein eigenes Überleben in Auschwitz-Birkenau, Sachsenhausen, Buchenwald, Ohrdruf und Theresienstadt. Es sind die vermeintlich kleinen Anekdoten, die einem das Grauen eindrucksvoll vor Augen führen. So ist auch der düster-ironische Titel Ferien am Waldsee eine Referenz auf jenen (in Wirklichkeit nicht existenten) Waldsee, welcher eine Zeit lang – als einige Gruppen von Verhafteten aus Ungarn in verschiedene Konzentrationslager verschleppt wurden – gelegentlich auf Postkarten mit vorgedrucktem Text und eigenhändiger Unterschrift der Deportierten als Reiseziel an ihre Familienmitglieder verschickt wurde, vermochte doch der Stempel der Karte „Am Waldsee“ die Angehörigen zu beruhigen.

Laszlo observiert so retrospektiv nicht nur sein eigenes Überleben, etwa wenn er es durch sein unerlaubtes Fernbleiben der Arbeit im Steinbruch schafft, sein Leben zu retten, sondern auch den Todeskampf all jener Mithäftlinge, die Woche um Woche schwächer werden, und ihm schließlich im Krankenbau, in dem er als Schreiber arbeitet, zum Sterben zurückgelassen wieder begegnen:

Täglich kamen die Zusammengebrochenen aus dem Steinbruch an, viele Bekannte, frühere hohe Lagerangestellte, damals mit dicken Bäuchen und eleganten Kleidern, jetzt vom Tode gezeichnet in zerfetzten Lumpen. Leid taten sie einem nicht, man kannte kein Mitleid mehr, und man hätte es auch nicht lange ertragen können. Man schaute nur zu, wie einer makabren Vision; das Zuschauen tötete langsam alle Affekte, das Phänomen allein blieb zurück, faszinierend und unvergesslich.

Laszlo gelingt es auf erstaunlich authentische Weise – ohne seine Mithäftlinge oder gar das eigene Schicksal zu heroisieren, ohne zu trauern oder anzuklagen – sich selbst als Statist in diesem dämonischen Schauspiel begreifend, dessen Ausgang außerhalb seiner Macht steht, das Lager zur Bühne zu machen und sich so seine Würde zu bewahren. Knappe Schilderungen ausgewählter Erlebnisse skizzieren ein äußerst differenziertes Bild des Lageralltags, in dem nicht allein das Grauen fokussiert wird, sondern darüber hinaus die kleinen hoffnungsvollen Momente sowie zuneigungsvolle menschliche Gesten inmitten dieser menschenunwürdigen Parallelwelt hervorstechen.

Die Besonderheit des erstmals 1955 veröffentlichten, eher wenig beachteten Texts besteht allem voran darin, dass dieser nicht vom Autor zu trennen ist. Laszlo galt als Exzentriker, als ein Gezeichneter, den die Lebensumstände so lange fürchteten, bis er die Furcht vor dem Leiden und Sterben verlernte. Laszlo, der sich gern auffällig kleidete, wollte, dass man ihn als solchen wahrnahm, bestimmte jedoch ganz allein, wieviel man davon sehen durfte. 

Lakonisch und drastisch zeigte er so visuell wie sprachlich seinen Triumph über die Nationalsozialisten: „Ich bin da, sie haben mich nicht kaputtgemacht.“ Trotz seiner frivol wirkenden Nüchternheit, seiner Zurückhaltung und Unerschütterlichkeit, die sich vor allem in schmucklosen Schilderungen zeigt, wusste Laszlo sehr wohl, dass er sein Überleben bloß dem Wahnwitz des Systems zu verdanken hat und er war sich stets darüber im Klaren, wie viele Überlebende an derselben Tötungsmaschinerie psychisch wie physisch zerbrochen sind.

Laszlo schreibt, dass ihn eine „undurchdringbare Wand“ von allen trenne, die seine Erfahrungen nicht teilen, „weil wir die menschliche Natur allzu nackt gesehen haben.“ Eben diese Wand, die sich zwischen Opfer, Überlebende und alle anderen geschoben hat, kann kein Überlebensbericht niederreißen, dessen wird sich auch Laszlo schmerzhaft bewusst gewesen sein. Doch zumindest erhalten wir als die anderen über Laszlos Text die Möglichkeit, diese Wand bröckeln zu lassen und einen beunruhigend authentischen Blick auf seine Weltsicht zu erhaschen. So wird das Überleben zu Laszlos zur Schau gestelltem Imperativ, wenn er über sich sagt: „Ich bin da, sie haben mich nicht kaputt gemacht.“

Titelbild

Carl Laszlo: Ferien am Waldsee. Erinnerungen eines Überlebenden.
Das vergessene Buch – DVB Verlag, Wien 2021.
170 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783903244121

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