Liebe und Hass

Hengameh Yaghoobifarahs Debüt „Ministerium der Träume“ ist ein Roman über Freundschaft, Familie und das Gefühl, fremd zu sein

Von Laura Stefanie ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Stefanie Thomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Debütroman Ministerium der Träume der in Berlin lebenden Journalist:in und Schriftsteller:in Hengameh Yaghoobifarah behandelt viele gesellschaftlich relevante Themen, alle prangern auf die eine oder andere Weise Fremdheit und fehlende Zugehörigkeit an – in der Gesellschaft oder auch in der eigenen Familie. Die Protagonistin Nasrin erfährt, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, fortan ist Nasrin für die Erziehung ihrer Nichte Parvin verantwortlich. Neben der alltäglichen Überforderung, einen Teenager großzuziehen, muss sie sich aufgrund des mysteriösen Unfalltodes ihrer Schwester mit deren bisherigem Leben auseinandersetzen. In Rückblenden erzählt Nasrin davon, wie sie in ihrer Kindheit mit der Familie aus Teheran nach Deutschland geflüchtet ist. Man erfährt von der Ankunft in Lübeck, die nicht immer reibungslos verlief, von der anhaltend angespannten Beziehung zu ihrer Mutter, der Vergewaltigung durch einen Rechtsradikalen sowie ihrer ersten Liebe zu einem Mädchen. So hat Nasrin nicht nur mit Fremdenfeindlichkeit und Alltagsrassismus zu kämpfen, sondern auch mit Sexismus und Homophobie, da sie Teil der LGBTQI-Community ist – genauso wie die Autor:in Yaghoobifarah, die sich als nicht-binäre Person definiert.

Nasrin schildert viele Traumata, die sie im Laufe ihres Lebens durchleben musste, gerade deshalb ist es für die Leser:innen schwierig nachzuvollziehen, warum sie zu einem späteren Zeitpunkt des Romans zustimmt, ihre Nichte entführen zu lassen. Die ganze Situation wirkt absurd, nicht zuletzt, da die Nichte Parvin sich vollkommen unbeeindruckt zeigt und sich über die Entführung lustig macht.

Nasrins Erfahrungen und den behandelten Themen kommt eine gesellschaftliche Wichtigkeit zu, allerdings fehlt es an der einen oder anderen Stelle an wünschenswerter Tiefe. Leser:innen erfahren immer nur, was der Protagonistin wiederfährt, aber nie, wie sie damit umgeht. Vielleicht ist auch genau das die Erklärung für die Wut und die Härte, die sie umgeben. Die Wut, die entstanden ist, weil sich vieles in ihr aufgestaut hat, ohne wirklich verarbeitet zu werden. Da der Roman ausschließlich aus der Ich-Perspektive Nasrins erzählt wird, können sich Leser:innen zunehmend mit ihr identifizieren – auch, wenn es zunächst schwierig ist, die Figur zu verstehen. Hilfreich sind dabei die Rückblenden, die in die gegenwärtige Erzählung eingebaut werden: Sie klären schrittweise über die Kindheit und Jugend Nasrins auf. So sind die behandelten Themen, wie etwa die Flucht vor dem Krieg in Teheran und der Hinrichtung des Vaters, aber auch die rassistischen Übergriffe und Anschläge in den 90er Jahren, die Nasrins Jugend und Persönlichkeit geprägt haben, nicht ausschließlich privat, sondern weisen gleichzeitig eine politische Brisanz auf.

Es gab zwei feste Konstanten in Nasrins Leben: Die Angst vor rassistischen Übergriffen und die Verbundenheit mit ihrer Schwester. Umso verständlicher, dass Nushins Tod sie trifft. Die Schwestern sind zusammen nach Berlin gezogen, weil sie dort sein konnten, wie sie waren. Endlich angekommen – nicht wie in Lübeck vom Gefühl getrieben, heimatlos zu sein. In Berlin mussten sie sich nicht vor „den Aggressionen besoffener Deutscher wegducken“. Stetig begleitet von Fremdenhass macht Nasrin auch mit der Polizei schlechte Erfahrungen. Yaghoobifarah stellt die Polizei in einem sehr schlechten Licht dar, wenn diese sich bei den Ermittlungen zum Tod Nushins vorurteilsbehaftet und stumpfsinnig anstellt und davon ausgeht, dass nur ein Ehrenmord in Frage käme. Mit diesem Bild der Polizei schließt Yaghoobifarah an ihre taz-Kolumne Habibitus an, in der sie im Zuge der „Black Lives Matter-Bewegung“ unter dem Titel All cops are berufsunfähig die Polizei mit Abfall vergleicht. Die Kritik am gesellschaftlichen und strukturellen Rassismus ist auch Thema in der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum, welche die Autor:in 2019 mit Fatma Aydemir herausgegeben hat. So legt Yaghoobifarah immer den Finger in die Wunde, konfrontiert und provoziert die Menschen mit Missständen in der Gesellschaft, um diese weiterzubringen.  

In Ministerium der Träume äußert sich die Hauptfigur Nasrin allerdings auch über sich selbst abwertend: „Ich wollte mich vergewissern, dass ich wirklich besonders angsteinflößend ausgesehen habe und nicht wie sonst, wo Leute einfach so von mir und meiner brown masculinity eingeschüchtert sind.“ So mag die derbe Sprache des Romans zwar auf den ersten Blick provokant wirken und dem Stil der 1991 in Kiel geborenen Yaghoobifarah entsprechen, allerdings wird das Provokante auch wieder durch Eigenironie entschärft.

Auf der sprachlichen Ebene passiert viel. Der Sprachstil ist sehr speziell und dennoch lesenswert. Neben Ironie beinhaltet er Songzitate, Jugendsprache – und viele Anglizismen. Gibt es davon am Anfang zu viele, lässt das im weiteren Verlauf nach, und der bildreiche Schreibstil der Autor:in entfaltet seine Wirkung. So arbeitet Yaghoobifarah etwa mit Metaphern: „Nationalsozialismus war die billigste Droge, sie kostete nur ein paar Leben, die in diesem Land ohnehin nie von Wert gewesen waren, sie machte schnell high, doch der Kater danach war ein verdammter Abfuck, vor allem für jene, die nüchtern blieben.“

Auch Vergleiche sorgen dafür, dass die Gefühle der Protagonistin Nasrin besser verstanden werden können. So werden die durch den Tod des Vaters entstandenen Emotionen eindrücklich geschildert: „Dieser Sommer hatte uns gelehrt, dass Deutschland selbst bei einer rekordverdächtigen Hitze die Kälte nicht verlernte, dass grelle Sonnenstrahlen sich nicht immer wie innige Küsse auf der Haut anfühlten und dass alle auch dann nur über das Wetter redeten, wenn es eigentlich um das Klima gehen sollte.“ Es ist ein Sommer in den 1980er Jahren, in dem Nushin eingeschult wird. So sollte der Anlass eigentlich ein Grund zur Freude sein, doch die Trauer über den Tod des Vaters ist größer. Die Schwestern fühlen sich allein gelassen, haben nur sich und werden immer wieder mit der emotionalen Kälte und fehlenden Empathie der Menschen um sie herum konfrontiert. Das eigentlich wichtige Thema, der Tod des Vaters, kommt nicht zur Sprache, da die Mutter mehr arbeitet und teilnahmslos wirkt, sodass Nasrin und Nushin auf sich allein gestellt sind. Besonders für Nasrin ist der Verlust des Vaters belastend, da sie immer ein engeres Verhältnis zu ihm hatte als zu ihrer Mutter.

Nach dem Tod der Schwester wirft Nasrin der Mutter vor, sie hätte die Depressionen Nushins verkannt, indem sie Nushin gesagt hat, „sie soll sich zusammenreißen“. Immer wieder kommt es zum Streit zwischen Nasrin und ihrer Mutter. Eine Mutter-Tochter-Beziehung geprägt von fehlendem Einfühlungsvermögen und der Unmöglichkeit, miteinander zu sprechen. Nach der von Backpfeifen und Kniffen geprägten Erziehung Nasrins bleibt das Verhältnis der beiden bis zum Schluss kompliziert, die Mutter gibt ihr „eine Tüte mit ein[em] zu einer Tupperdose umfunktionierte[n] Joghurtfass, das sie mit Reis und gebratenen Auberginen gefüllt hat, außerdem zwei Mandarinen, zwei Äpfel, vier Aprikosen und zwei bräunliche Bananen. Der Rest ist zu groß für Worte. Er klebt in den Leerstellen fest.“ Und auch hier drückt Yaghoobifarah über die Bildhaftigkeit der Sprache viel mehr aus, als die Worte aussagen. Die Leser:innen fühlen die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der beiden, als wären sie dabei.

Die Unfähigkeit über Gefühle zu sprechen, ist für die Protagonistin nicht nur im Umgang mit ihrer Nichte ein Problem, sondern ihr auch in Bezug auf den Tod ihrer Schwester anzumerken. Nasrin vermisst Nushin, kann ihre Gefühle aber nur zulassen, wenn sie allein ist und gibt auf diese Weise Einblicke in ihr Innenleben. „Als ich die Augen schließe, lasse ich die Erinnerungen zu. Das heißt auch: Tränen zulassen.“ So wird für die Leser:innen der Schmerz und die Überforderung deutlich.

Bei ihrer Freundin Gigi findet Nasrin Halt und Trost, da diese von ihren eigenen Erfahrungen mit Trauer berichtet und ihr stetig den Rücken freihält. So ist der Roman auch ein Buch über Freundschaft, die besonders in schwierigen Momenten an Stärke gewinnt. Anders als bei ihrer Familie, bei der Nasrin sich „wie ein Alien“ fühlt, kann sie bei ihren Freund:innen sein, wer sie ist.

Ein thematisch und sprachlich vielfältiger Roman, der nicht nur die persönliche Geschichte einer immigrierten, lesbischen Frau in Deutschland erzählt, sondern auch einen hohen gesellschaftlichen Wert hat, indem er über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufklärt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hengameh Yaghoobifarah: Ministerium der Träume.
Blumenbar Verlag, Berlin 2021.
384 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783351050870

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