Walter Müller-Seidel über Alfred Erich Hoche

Eine erschreckend aktuelle Biographie

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Nicht nur politisch provokante Reden, auch aktuelle Ereignisse wie im April 2021 der vierfache Mord in einem Potsdamer Behindertenheim zwingen uns immer häufiger zum erschrockenen Rückblick auf die deutsche Geschichte. Politische Morde wie vom NSU verübt, Attentate wie von Hanau oder Halle lenken den Blick erneut auch auf gefährdete staatstragende Institutionen. Polizei, Bundeswehr, Parteien, Universitäten und Kulturträger: überall muss heute mit umsturzwilligen Einzelgängern oder Gruppen gerechnet werden, teils hochrangig und einflussreich. Man weiß, dass die AfD nach ihrem dritten Jahr im Bundestag Anspruch auf millionenfache Förderung ihrer Erasmusstiftung erhält – und damit ein Vielfaches der jetzt schon möglichen „Reichsdeutschen“-Propaganda über uns kommen könnte.

Wenige Wissenschaftler sorgten sich um derartige institutionellen Verblendungen so nachdrücklich wie der Münchner Germanist Walter Müller-Seidel (1918 – 2010). Zwei Jahre nach Erscheinen des Buches Furchtbare Juristen von Ingo Müller (1987) veröffentlichte er Gedanken über Justizkritik und moderne Literatur (1989), die sich in der Nachlassedition seiner Schriften zum Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik (2017) ausgeweitet finden. Hätte Müller-Seidel erlebt, wie ein Ferdinand von Schirach heute aktiv das Rechtsempfinden der Bundesdeutschen austestet, er hätte sich vielleicht noch mehr gefürchtet. Das Fürchten lehrte er seinerseits aber schon vor der Jahrtausendwende mit Büchern zu Medizin und Literatur: 1997 über Arztbilder im Wandel. Zum literarischen Werk Schnitzlers. 2018 erschien posthum Literatur und Medizin. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter. Müller-Seidels Auseinandersetzungen mit dem Thema gipfelten 1999 in der ersten Biographie über Alfred Erich Hoche (1865-1943), einen zwar belesenen Mann und Lehrer von Alfred Döblin, aber eben auch Erfinder des Schlagwortes vom „Lebensunwerten Leben“. Die Diskrepanzen in dieser Persönlichkeit haben Müller-Seidel gereizt, auch wenn er wusste, dass Döblin auf seinen Lehrer nicht gern zu sprechen kam. Wer aber wusste in den 1990er Jahren mehr von Alfred Hoche, als dass er den organisierten Massentod unter Hitler inspiriert hat?

Seit 1902 Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Freiburg, verheiratet mit einer jüdischen Frau, aber strikt deutschnational gesinnt, publizierte Hoche bis 1933 neben seinen Fachartikeln immer wieder Texte mit philosophischer oder literarischer Ambition. Erwartbar wurde er zum Kritiker vor allem von Emil Kraepelin und Sigmund Freud, dem er eine „Heilslehre für Dekadente, für Schwächlinge aller Arten“ bescheinigte. Zusammen mit dem Juristen Karl Binding veröffentlichte Hoche 1920 die fatale Schrift über Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Hoche steuerte hier „Ärztliche Bemerkungen“ bei, in maßlos zynischer Diktion:

Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muß die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden.

Raisonnements wie diese sind seit den 1990er Jahren und erst recht seit 2015 wieder im Schwange, als höllische Bückware sozusagen. Dass sie vormals plausibel wirkten, nach der Niederlage von 1918 und dem Einbruch der Spanischen Grippe, kann man sich vorstellen. Invaliden bevölkerten die Straßen, das Gesundheitssystem kollabierte. Alle Lebenskräfte, schrieb Hoche, müssten jetzt zusammengerafft, „Ballastexistenzen“ beseitigt und unsinnige Ausgaben vermieden werden. Als hätte Corona die Feder geführt, heißt es weiter:

Der Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben entgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen, auch den zwar nicht geistig toten, aber doch ihrer Organisation nach minderwertigen Elemente Pflege und Schutz angedeihen zu lassen – Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, daß es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im Ernste versucht worden ist, diese von der Fortpflanzung auszuschließen.

Daher gelte es, Ärzte zu ermuntern, „daß die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt.“

Auf dem ordentlichen Ärztetag des Jahres 1921 wurde dies alles offiziell zurückgewiesen; vor allem auch christliche Gegenstimmen erhoben sich. Aber mit Hitlers Herrschaft verschmolzen Euthanasiewahn, Rassenhygiene, Judenvertreibung und -tötung zu einer einzigen furchtbaren Legierung mit Gesetzeskraft. Allein die inländischen NS-Krankenmorde kosteten über zweihunderttausend Menschen das Leben, davon die Hälfte im Rahmen der Aktion T4 (=Tiergartenstraße 4).

Alfred Hoche ließ sich 1933 vorzeitig in den Ruhestand versetzen. Offenbar wegen seiner jüdischen Frau und einiger jüdischer Mitarbeiter gab er alle amtlichen Tätigkeiten auf und beschränkte sich auf seine literarische Tätigkeit. Müller-Seidel sah den Dichter Hoche schließlich entfernt verwandt mit Arztschriftstellern wie Schnitzler, Benn und eben Döblin. Und er bescheinigte ihm: „Mit Antisemitismus hatte dieser Gelehrte nichts zu tun.“ Und wohl auch nicht mit aktiver Euthanasie. Denn offenkundig distanzierte sich Hoche schon vor 1933 und danach noch entschiedener von seinen früheren Ansichten. Schon den grausamen Text über das „lebensunwerte Leben“ hielt Müller-Seidel nicht wirklich für Hoches Eigenstil, er nehme vielmehr Formeln der damals verbreiteten juristisch-darwinistischen Diskurse auf. „Hoche hat nichts dergleichen erfunden; er fand alles vor – in der Tradition der Rassenbiologie und ihrer Sprache.“ Die meisten Euthanasie-Gedanken waren schon vor 1900 Gemeingut ärztlicher Einstellungen; das heute oft so entsetzt diskutierte Prinzip der Triage war ärztliches Grundgesetz. Der Fall Hoche jedenfalls wurde für Müller-Seidel ein Musterbeispiel für sein Postulat, „Gerechtigkeit und Nachsicht gegenüber denjenigen zu bezeugen, die in solche Zeiten hineingeboren wurden.“

Müller-Seidels Schrift erschien ursprünglich im Rahmen der Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Es war teilweise eine kritische Antwort auf das ältere Buch von Ernst Klee, das sich 1983 eingehend mit der „Euthanasie“ im NS-Staat auseinandergesetzt und Hoche dabei kategorisch als fatalen Begriffspräger und Anstifter von massenmörderischen Handlungen im Umgang mit „Ballastexistenzen“ und „geistig Toten“ vorgestellt hatte. In einer Rezension, die 2001 in IASL erschien, distanzierte sich Thomas Müller (mit Klee) von Müller-Seidels Einschätzungen noch einmal ausdrücklich: „Nach Alfred Erich Hoche existiert ,lebensunwertes Leben‘; und die Vernichtung dieses ,lebensunwerten Lebens‘ widerspricht seinen Auffassungen zufolge nicht der ärztlichen Ethik.“

Anders als Müller-Seidel wollten sich also andere nicht auf den reuigen Hoche einlassen, ihm trotz seiner Wandlung keinerlei Empathie entgegenbringen. Aber das könnte sich ändern. Soeben hat die Bundeskulturstiftung „Empathie“ zum Jahresthema 2021 erhoben. Als unsichtbaren Paten dafür könnte man auf Wilhelm Dilthey hinweisen, dessen Kritik der historischen Vernunft zentral vom „Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen“ handelt.

Dass Müller-Seidels Empathie gegenüber Hoche, der sich 1943 das Leben nahm, trotz der fragwürdigen und dem Nationalsozialismus nahen Einstellungen, die der Arzt früher vertrat, keineswegs mit einer Zurückhaltung des entschieden kritischen Umgangs mit der NS-Zeit einherging, zeigt jedenfalls sein 1988 veröffentlichter Aufsatz über eine andere wissenschaftliche NS-Gestalt, die sein Fach noch heute beschäftigt, zuletzt auch Willi Winkler in Das braune Netz (2019). Der Germanist Hans Schneider, später Hans Schwerte, hatte in einer spektakulären Aktion nach 1945 seine Tätigkeit im Amt Rosenberg in eine steile Karriere zum Rektor der TU Aachen verwandelt. Nicht zuletzt sein germanistischer Bestseller über Faust und das Faustische von 1962 hatte in rätselhafter Brillanz interpretiert, was er, Schneider-Schwerte, selber mitgetragen hatte. Müller-Seidel teilte das allgemeine Entsetzen bei der Aufdeckung des Geschehens. Aber er erinnerte auch an Schwertes Lehrer, den einflussreichen völkischen Literarhistoriker Josef Nadler, dessen Exklusionspathos die Jahrzehnte zwischen 1912 und 1945 populär begleitete. Folgerichtig zitierte Müller-Seidel dazu die fatale kunstkritische Schrift Entartung (1892/93 in zwei Bänden erschienen) des Mediziners Max Nordau. Mit der Anlehnung an herrschende Degenerationstheoreme bot Nordau eine grausame Blaupause für die Aussonderungs-Manie der Gesellschaft, Jahrzehnte vor den eigentlichen Auslöschungen lebendiger Menschen. Das Amalgam von pseudowissenschaftlicher Ambition und primitivster Sozialregung schaffte den kulturellen Boden für Hoches Fanatismus.

Wer sich heute mit dieser historischen Problemzone befasst, steht vor einer Zone der Gegenwart. Die umkämpfte Corona-Politik hat weltweit zu einem Richtlinien-Konflikt zwischen Wissenschaft und Lebenswelt geführt. Anders als unter Hitler entscheidet sich die Politik heute, unter Berufung auch auf die Wissenschaft, weitgehend eindeutig für den Schutz schwacher und gesundheitlich besonders gefährdeter Menschen. Aber der Druck von Wirtschaft und Autokratentum wächst täglich. Und auch er legitimiert sich durch Wissenschaft, wird aber zugleich befeuert durch die „soziale Software“: den legitimen Lebenswillen der Jugend, Kontakthunger der Erwachsenen oder die mediale Frustration der Kulturbranche. Die konfliktreichen Auseinandersetzungen mit Corona sind dabei auch eine Generalprobe für die kommende Klimapolitik. Wieviel szientifisches Diktat muss die Gesellschaft akzeptieren, wenn doch die wenigsten Menschen die Regeln dieser Disziplin verstehen? Und widerspricht die wissenschaftliche Grundregel von „trial and error“, also von Kritik, Korrektur, Umdenken und Handlungsrevision, nicht den alten Wünschen nach einer stabilen politischen Leitung und den Bedingungen einer auftragsgebundenen Ökonomie? Wie lässt sich mit solchen Konflikten und Widersprüchen in einer massentauglichen Weise umgehen? Eine wissenschaftliche Navigation der Corona- wie der Klimakrise, möchte man mit Müller-Seidel sagen, wird nicht ohne Empathie für die Laien gelingen. Und auch nicht ohne Empathie für hilfsbedürftige Menschen, für die kommenden Generationen, für jetzt schon bedrohte Völkerschaften oder Gesellschaftsgruppen weltweit, denen der technologische Umbau das Handwerk entzieht. Empathie sollte aber auch jenen nicht verweigert werden, die wie Hoche fragwürdige Positionen vertreten haben, diese jedoch zu revidieren bereit waren oder sind.

Literaturhinweise

Walter Müller-Seidel: Alfred Erich Hoche. Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur. Vorgetragen in der Gesamtsitzung vom 30. Oktober 1998 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsbereichte. Jg. 1999, H. 5). München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (in Kommission bei C.H. Beck) 1999.

Erneute Veröffentlichungen in:

Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik. Herausgegeben und eingeleitet von Gunter Reiß. Berlin: De Gruyter 2017. S. 119-177.

Und in:

Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Marburg an der Lahn: LiteraturWissenschaft.de (online) 2018 (erscheint gedruckt 2021).