Endlich angekommen

Judith Hermann lässt in ihrem Roman „Daheim“ ihre Figuren ein Zuhause finden

Von Marieluise LabryRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marieluise Labry

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Meisterin der Kurzgeschichten hat ihren zweiten Roman geschrieben und lässt ihre Figuren in der Mitte des Lebens zurück- und nach vorne blicken. Der Roman Daheim beginnt mit einer Erinnerung an eine Begebenheit vor fast 30 Jahren. Der Protagonistin, die ein tristes Leben führt und in einer Zigarettenfabrik arbeitet, wird eines Tages ein Job als Assistentin eines Zauberers angeboten, der auf Tournee mit einem Kreuzfahrtschiff Richtung Singapur gehen will. Sie lehnt ab. Eine Erinnerung, die nach langer Zeit wieder auftaucht und fragil wirkt, fast nicht echt und wie ausgedacht erscheint. War das ein Wendepunkt oder einfach nur irgendein Moment in ihrem Leben? Diese kurze skurrile Episode knüpft in ihrer Art an die Kurzgeschichten aus Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster an.

Zeitsprung in die Gegenwart: Sie ist 47 Jahre alt und hat sich von ihrem Mann Otis getrennt. Ihre Tochter Ann ist ausgezogen und auf Reisen gegangen. Sie zieht ans Meer, in einen Ort auf dem Land, um dort in der Kneipe bei ihrem Bruder zu arbeiten. Erzählt werden ein Winter, Frühling und Sommer. Viel Alltag passiert, der nicht besonders aufregend erscheint. Doch Judith Hermann schafft es, mit ihrer lakonischen Sprache und knappen Sätzen, eine ungeheure Dichte zu erschaffen. Der schmale Band von 192 Seiten entfaltet im Inneren ein Universum, das die existenziellen Fragen des Lebens verhandelt: Wohin wollen wir gehen? Wann kommen wir an? Wem können wir vertrauen? Und wie zuverlässig sind unsere Erinnerungen?

Judith Hermann schafft etwas Großes mit ihrem Roman, der nicht nur für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, sondern auch schon als Roman des Jahres gehandelt wird. Zu Recht, denn Judith Hermann bleibt ihren Figuren zwar treu, lässt ihnen aber auch Raum zur Entwicklung. Der Roman ist voller Überraschungsmomente: Grausamkeiten und Abgründe, die leicht und leise erzählt werden, fließen in die Banalitäten des Alltags ein.

Sascha, der Bruder der Protagonistin, verliebt sich in eine junge Frau, die in ihrer Kindheit schwere Misshandlungen erlebt hat. Er kümmert sich um sie, will sie umsorgen, doch sie hat ihre Geheimnisse und bleibt unnahbar. Seine Schwester wiederum freundet sich derweil mit der Nachbarin Mimi an, einer Künstlerin, deren Familie einen großen Schweinehof in der Nähe besitzt, um den sich ihr Bruder Arild allein kümmert. Die fünf Figuren sind verschroben und eigen, passen nicht zueinander und finden doch einander und geben sich gegenseitig Halt im Leben.

In der Ferne sind der Ex-Mann Otis und die Tochter Ann. Otis sammelt alles und ist jederzeit auf eine Katastrophe vorbereitet. Seine Wohnung gleicht einem bis unter die Decke vollgestopften Archiv. Otis und die Protagonistin schreiben einander. Sie leben zwar getrennt, sind aber durch ihre Tochter und die vielen gemeinsamen Erinnerungen miteinander verbunden. Ann geht ihren eigenen Weg und schickt ihren Eltern alle paar Wochen ihre GPS-Daten. Was sie tut und mit wem, erzählt sie nicht.

Insgesamt strahlt der Roman Ruhe aus. Niemand hat Antworten auf die vielen Fragen, die auch nach der Mitte des Lebens noch da sind. Das ist aber nicht schlimm, da dieser Zustand akzeptiert werden kann und so die Figuren vielleicht endlich ankommen und ein Zuhause finden können – für`s Erste zumindest.

Titelbild

Judith Hermann: Daheim. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
192 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970357

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