Poesie und Politik

Anhand sechs Porträts tschechischer Schriftsteller präsentiert Reiner Kunze die unmittelbare Bedrohung poetischer Aufrichtigkeit durch ein totalitäres Regime

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn ich überhaupt begriffen haben sollte, was Poesie ist, dann verdanke ich es tatsächlich vor allem Autoren des tschechischen Poetismus und Jan Skácel“, so hatte es der Schriftsteller Reiner Kunze in einem Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Arturo Larcati formuliert.

Reiner Kunze gehört zu den bedeutendsten Autoren deutscher Sprache. Sein Werk wie auch sein Lebenslauf bildet zugleich die kulturelle, politische wie auch private Tragödie einer deutsch-deutschen Teilung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Zur tschechischen Literatur hatte den 1933 im sächsischen Oelsnitz geborenen Schriftsteller seine spätere Ehefrau geführt. Als damalige tschechoslowakische Staatsbürgerin hatte sie im Rundfunk Gedichte des DDR-Schriftstellers Reiner Kunze gehört und den brieflichen Kontakt aufgenommen. In der Folge setzte ein grenzüberschreitender Austausch von über vierhundert Briefen ein, in welchem sich die beiden nicht nur menschlich näherkamen. Reiner Kunze lernte tschechische Dichter und deren Verse kennen, von denen er bislang keine Ahnung hatte. Er war von der Ausdrucksstärke, der bildhaften Kraft und einer reichhaltigen Phantasie überwältigt.

Bald entstanden seine ersten Übersetzungen, die er in Sammelbänden vorlegte. Der Wind mit Namen Jaromír (1961) war noch in der DDR erschienen, jedoch bald eingestampft worden. In der Bundesrepublik wurden die Bände übersetzter tschechischer Schriftsteller Widmungen (1963) und Die Tür (1964) veröffentlicht. Als sich Kunze in der DDR immer mehr politisch motivierten Schwierigkeiten ausgesetzt sah, war es ihm eine Genugtuung, seine Gedichte in der benachbarten Tschechoslowakei veröffentlichen zu können. In den 1960er Jahren war das kulturpolitische Klima der ČSSR, im Gegensatz zur DDR, von vorsichtigen Öffnungen gekennzeichnet.

Die tschechoslowakischen Dichter würdigten Reiner Kunzes Wirken mit der Verleihung des Übersetzerpreises des Verbandes der tschechoslowakischen Schriftsteller im Jahr 1968. Besondere Verdienste hat er sich um die Erschließung des Werkes von Jan Skácel erworben, dessen Verse er über die Jahre hinweg in kollegialer Solidarität auf eigenen Dichterlesungen vorgetragen hatte. Zudem legte er unter anderem die von ihm übersetzten Sammlungen Fährgeld für Charon und wundklee vor. Tief beeindruckt rühmte Peter Handke den getroffenen Ton in Kunzes „märchenhaft glücklichen Übersetzungen“. Nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ hatte kein geringerer als der tschechische Dichterpräsident Václav Havel auf die menschliche wie auch produktive „Wahlverwandtschaft“ der „Dichter Jan Skácel und Reiner Kunze“ hingewiesen.

Im Laufe vieler Jahrzehnte hat Reiner Kunze Verse von annähernd siebzig tschechischen Dichtern übersetzt und in Zeitschriften und Herausgaben veröffentlicht. Auch im vorliegenden Heft Vor unserer Schwelle liegen einige Übertragungen vor und vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte erklärt es sich, warum er dieses Bändchen mit einem Dank an seine Frau „für ihre lebenslange sprachpraktische Unterstützung“ abschließt. Zugleich hat es sich Reiner Kunze hier zur Aufgabe gemacht auf „Tschechische Dichterschicksale nach der kommunistischen Machtübernahme 1948“ aufmerksam zu machen. In sechs kurzen Porträts skizziert er furchtbare Umstände, denen so bedeutende Persönlichkeiten wie Záviš Kalandra, Ivan Blatný, František Halas, Konstantin Biebl, Jan Zahradníček oder Vladimír Holan ausgesetzt waren. Ihnen war das Schicksal der Hinrichtung, erzwungener Selbsttötung, langjähriger Kerkerhaft unter entsetzlichen Bedingungen oder auch politisch verordnete Isolation oder Verfolgung nicht erspart geblieben.

Während im heutigen Gesamtdeutschland der auf die DDR bezogene Begriff „Unrechtsstaat“ unter Zuhilfenahme verquaster politischer Definitionen bis in die bürgerliche Mitte hinein zurückzudrängen versucht wird, ist im Nachbarland Tschechien die Bezeichnung „Totalität“ für die Jahrzehnte des „real existierenden Sozialismus“ in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen worden.

Mit dieser poetisch-politischen Dokumentation verneigt sich Reiner Kunze vor den schrecklichen Schicksalen seiner tschechischen Kollegen. Die Geschichte lehrt, dass es nicht zuletzt die Wortkünstler waren, die am Ende vom Räderwerk totalitärer Macht erfasst worden sind. Schließlich wird vor dem Hintergrund seines eigenen Schicksals als Dichter in der DDR somit nachvollziehbar, warum Reiner Kunze in seinen aktuellen Wortmeldungen mit sensibler Vehemenz auf ideologisch motivierte Zugriffe der verwendeten Sprache reagiert. Das Bändchen Vor unserer Schwelle ist, wie die meisten Publikationen der Edition Toni Pongratz vom Autor signiert und in kleiner, nummerierter Auflage erschienen.

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Reiner Kunze: Vor unserer Schwelle. Tschechische Dichterschicksale nach der kommunistischen Machtübernahme 1948.
Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 2020.
15 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783945823125

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