Unser Glaube an die Kausalität

Charles Tilly analysiert kommunikative Begründungsstrategien in „Why?“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der angelsächsische Philosoph David Hume, ein skeptischer Empiriker, kritisierte bereits im 18. Jahrhundert unser Verständnis von Kausalität. Wir bilden bis heute aus einer Reihe gleichförmiger Beispiele, die auf dasselbe Problem bezogen sind und denen dasselbe Ereignis folgt, einen Begriff von Ursache und Wirkung beziehungsweise Verknüpfung. Aber ist das, was wir kausal nennen, wirklich kausal bedingt? Bestehen diese Verbindungen in der Wirklichkeit oder bilden diese neuen Vorstellungen nur unsere Art zu denken ab? Was Hume in Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand anschaulich darstellte, war das Bestreben, umfassend in den Kategorien der Kausalität zu denken. Der US-amerikanische Soziologe und Historiker Charles Tilly, der von 1929 bis 2008 lebte, hat in dem 2006 erstmals publizierten und nun übersetzt vorliegenden Buch über zahlreiche Begründungsmuster nachgedacht, die sowohl unter Menschen im Alltag, in der Politik und in Natur- und Geisteswissenschaften bestehen, ihre Plausibilitäten dargelegt und einzelne Modelle erörtert.

In der Gegenwart etwa gewinnt der Band durch bestimmte Themen – wie die Ursachen, Folgen und Konsequenzen der Corona-Pandemie – eine neue Bedeutung. Auch prominent vertretene „Fake News“, die als „alternative Fakten“ zu Zeiten der Präsidentschaft von Donald Trump präsentiert wurden, entsprechen einem offenbar konstitutiven Bedürfnis nach nachvollziehbaren Deutungsmustern, selbst wenn diese die objektive Wirklichkeit verzerren oder konterkarieren. In der Bundesrepublik Deutschland könnten so etwa im Jahr 2021 auch mehr Menschen an rational konstruierte Formen der Kausalität glauben als an den christlichen Gott.

In der Einführung wird von Thomas Hoebel und Stefan Malthaner dargelegt, dass Charles Tilly dem Muster der narrativen Deutung viel Aufmerksamkeit geschenkt hat:

Es scheint fast, als traute er seinen eigenen empirischen Ergebnissen und Argumenten nicht recht über den Weg, solange er sie nicht in einer detaillierten, lebendigen Erzählung über tatsächliche Menschen fassen kann. […] Wenn [Sozialwissenschaftler] ein Geschehen erzählen, müssten sie sich bemühen, reflexiv und kritisch auch komplexe Verlaufsmuster, Zufälle und nicht intendierte Effekte kollektiven Handelns zu erfassen.

Es gehe Tilly darum, so die Autoren, die „situative Angemessenheit von Begründungen und die damit verknüpfte Beziehungsqualität zwischen den Beteiligten“ zu berücksichtigen. Zugleich weise er – in unterschiedlichen Wissensgebieten – auf die Aspekte der fachlichen Konstruktion von Begründungen hin, ohne als Konstruktivist aufzutreten. Tilly besitzt sozusagen Bodenhaftung. Er ist ein Realist, der die Wirklichkeit nicht bestreitet, aber von den Grenzen menschlicher Erkenntnis überzeugt ist. Viele Bereiche der Forschung etwa müssen auch Aspekte der Kommunikation einbeziehen, um ihre Resultate öffentlich zu vermitteln und verständlich zu machen. Die Nutzung der Kausalität gehört dazu.

Charles Tilly bezeichnet das „Nennen von Gründen“ eine „soziale Aktivität“, zugleich beschäftigt ihn die „Frage nach dem Warum“, also die Präsenz von Kausalität im menschlichen Leben. Er beschreibt so die Versuche von „unmittelbar Beteiligten“, für den Terrorakt vom 11. September 2001 Gründe zu finden, als Teil eines persönlichen Verarbeitungsprozesses für das „Desaster“:

Als Augenzeugen am World Trade Center und am Pentagon nach Gründen für das Geschehene suchten, folgten sie einem universellen Antrieb. Wir können Menschen auch als Gründe angebende Tiere bezeichnen. Während manchen Definitionen zufolge auch andere Primaten Sprache und Werkzeuge nutzen und sogar eine Art Kultur entwickeln, geben allein Menschen schon von klein auf Begründungen an oder fordern Gründe – und tun dies dann ein Leben lang. 

Weder „bedeutende Meinungsunterschiede“ noch „allgemeine intellektuelle Diskussionen“ interessieren Tilly, sondern der „soziale Prozess des Begründens“. Er möchte auch nicht „politische Fragen“ klären. Die meisten Leserinnen und Leser werden dankbar dafür sein, dass nicht noch ein weiterer kluger Kommentar zur Weltpolitik erfolgt. Gründe würden – scheinbar paradoxerweise – auch Menschen kommunikativ wie sozial verbinden, wenn diese Gründe „schwammig, fadenscheinig, aufgesetzt oder völlig aus der Luft gegriffen sind“. Die Beteiligung aller am Diskurs ist eine Gemeinsamkeit.

Als Formen von Begründungen nennt Tilly Konventionen, also gesellschaftlich breit akzeptierte „Gründe für Versäumnisse“, darüber hinaus Geschichten als „erklärende Narrative“, Codes, wozu „richterliche Urteilssprüche“ gehörten und fachliche Erklärungen, etwa von Radiologen und Chirurgen, die nachweislich den Bruch von Gliedmaßen erkennen und bestimmen können. Besonders Konventionen bestimmt er als relativ relevant, oft situationsbezogen und wissenschaftlich selten belegbar. Bei Geschichten hingegen werden teilweise plausible Begründungen geliefert, aber auch „übernatürliche Wesen und geheimnisvolle Kräfte“ mitunter bemüht – oder okkulte Verschwörungsfantasien. Grundsätzlich ist Tilly der Auffassung, dass die „Akzeptanz von sozialen Begründungen“ in einem engen Zusammenhang zu den „sozialen Beziehungen“ stehe. Die Beachtung also des Kontextes ist in jedem Fall erforderlich: „Gründe rechtfertigen Praktiken, die mit anderen Gründen und/oder Definitionen der Beziehung unvereinbar wären.“

Besondere Wertschätzung bringt Charles Tilly den narrativen Formen der Begründung entgegen:

Als Lehrkraft stütze ich mich tagein, tagaus auf Geschichten. Sie ermöglichen es, ein einzelnes Element oder einen einzelnen Zusammenhang zu verdeutlichen, anstatt das verwirrende Chaos in Gänze auf einmal darzulegen. Ob wahr oder nicht, Geschichten erleichtern die menschliche Kommunikation.

Wird aber hier nicht die Wahrheitsfrage suspendiert? In einer Zeit, in der immer wieder der Wert der Authentizität hervorgehoben wird, erweist sich das zumindest als diskutabel. Dass etwa ein Literat zwischen „Dichtung und Wahrheit“ changiert und beides ideenreich verknüpft, wird eher akzeptiert, als wenn ein Prediger Missionseifer wecken möchte und erfundene Episoden charismatisch kundtut. Geschichten, wie sie Tilly versteht, dienen auch der Beziehungspflege, doch er spricht von „wirksamen Geschichten“, nicht von wahren Begebenheiten: „Geschichten stellen Akteure, Aktionen, Ursachen und Wirkungen vereinfacht dar. Die Begründungen, die sie liefern, gewinnen durch Vereinfachungen Klarheit.“

Wichtig ist auch das Gespür für die Situation, etwa in Gesprächen von ärztlichen Fachkräften mit schwerkranken Personen:

Die medizinische Fachkraft, die [einen Prozess in Gesprächsform] anstößt, verkündet nicht einfach ex cathedra eine wissenschaftliche Meinung. Sie redet mit den Betroffenen, um sie zu überzeugen und das aus ihr sich ergebende Vorgehen zu akzeptieren.

Das gilt auch für Gespräche mit Todkranken. Tilly weist daraufhin, dass Menschen, die Schwerstkranke mit „äußerstem Fingerspitzengefühl“ behandeln möchten, um sie emotional zu schonen, diese Personen gerade dadurch verletzen. Daher empfiehlt er, auf Beschönigungen jeglicher Art zu verzichten und sich stattdessen mit dem Gespür für die Person und die Situation zu äußern: „Gründe, die von den meisten Menschen ernstgenommen werden, kommen im Gewand von Geschichten daher.“

Codes hingegen ermöglichen eine eher institutionalisierte Form der Kommunikation in bestimmten Bereichen der Gesellschaft – etwa in Gestalt von Regeln, Verfahrensweisen und Ordnungsprinzipien in festgelegten Abläufen, so bei Rechtsstreitigkeiten. Auch auf „fachliche Erklärungen“ kommt Charles Tilly zu sprechen. Er nennt hier medizinische Studien oder Modelle, die „neuere Forschungsergebnisse“ versachlichen sollen. Mögliche Nebenwirkungen von Impfstoffen oder Medikamenten wären aktuelle Beispiele. Die Uneinigkeit unter Forschenden ist dabei eher ein Ausdruck von wissenschaftlicher Normalität. Sehr viel mehr Diskussionsstoff bieten „Rückkoppelungseffekte“ in den Sozialwissenschaften. Darstellungen können leicht popularisiert und politisiert, damit instrumentalisiert werden, etwa wenn Zusammenhänge zwischen Armut und Gewalt behauptet werden oder wenn – wie in einigen Bereichen der katholischen Theologie vor kurzer Zeit bis in Fachpublikationen hinein sichtbar – aus sexuellen Missbrauchsfällen der absurde Generalverdacht gegenüber zölibatär lebende Personen überhaupt erwächst. Man kann in diesem Zusammenhang auch an die problematischen und fragwürdigen Thesen des ehemaligen SPD-Politikers Thilo Sarrazin im Zusammenhang mit den Auswirkungen von Migration denken.

Charles Tilly sensibilisiert allgemein gegen Vereinfachungen im Mantel der Wissenschaft und rät zur vorsichtigen Skepsis gegenüber Erklärungsmodellen in „Ursache-Wirkung-Beziehungen“:

Dass fachliche Erklärungen taugliche Darstellungen der Disziplinen liefern, auf die sie zurückgreifen, garantiert keineswegs ihren unstrittigen Wahrheitsgehalt. Dieser hängt vom Wahrheitsgehalt der Disziplinen innerhalb ihrer gewählten Erklärungsbereiche ab, von den Fragen, welche die Urheber fachlicher Darstellungen jeweils adressieren, und davon, inwieweit beide zusammenpassen.

In diesem instruktiven Band über Begründungsmuster, mit besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften, leistet Charles Tilly einen wertvollen Beitrag für ein aufgeklärtes Denken in der Gegenwart. Er leitet ebenso zu einer kritischen Prüfung der eigenen Meinungen und Überzeugungen an und zeigt Umsicht, wenn er sich analytisch und sorgfältig wie ertragreich mit unseren Formen der Diskussion und Verständigung im Alltag, in der Gesellschaft, in den Wissenschaften und auch in der Politik beschäftigt. Dieses empfehlenswerte Buch verdient große Beachtung, auch weit über die Sozialwissenschaften hinaus.

Titelbild

Charles Tilly: Why? Was passiert, wenn Leute Gründe angeben… und warum.
Aus dem Englischen von Enrico Heinemann.
Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2021.
232 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783868543414

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