Prognostische Literatur
Luiz Ruffatos „Sonntage ohne Gott“ erzählt von kurzen Aufstiegen und langen Abstiegen in Brasiliens gnadenloser Gesellschaftshierarchie
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseCataguases – die Stadt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais lastet wie ein Fluch auf den sechs Protagonist*innen im Erzählband Sonntage ohne Gott (Domingos sem Deus). Es handelt sich um den letzten Teil des fünfbändigen Zyklus Vorläufige Hölle (Inferno provisório) des brasilianischen Autors Luiz Ruffato, der übrigens selbst aus der verfluchten Stadt stammt und zu den prominentesten Autoren der brasilianischen Gegenwartsliteratur zählt. Spätestens nach seiner Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Ehrengastland Brasilien im Jahr 2013, wurde auch ein deutsches Publikum auf ihn und ein Brasilien aufmerksam, in dem Raubtierkapitalismus nicht nur bloß als Metapher wirkt, wie es in Ruffatos Rede heißt. Die brasilianische Geschichte stütze sich fast ausschließlich auf die ausdrückliche Negation des Anderen durch Gewalt und Gleichgültigkeit. Rassendemokratie entlarvt Ruffato als Mythos. In der Literatur und damit auch in seiner Funktion als Schriftsteller sieht er allerdings die Chance zur Veränderung.
Für seine Werke hat Ruffato eine Lücke in der brasilianischen Literatur entdeckt: Die Welt der urbanen Arbeiter*innen und die gnadenlose Hierarchie Brasiliens. Vorläufige Hölle, die fünf Teile schrieb er noch während der Amtszeit Lulas bzw. Rousseffs zwischen 2005 und 2011, skizziert die Geschichte Brasiliens seit der Industrialisierung der 1950er Jahre bis heute und lässt sich als eine Art Epos des brasilianischen Proletariats bezeichnen. Nun ist auch der letzte Teil in der Übersetzung von Michael Kegler erschienen, der sich in sechs kurzen Erzählungen individuellen Schicksalen widmet. Dabei zeigt sich nicht nur die Stadt Cataguases als verbindendes Element: Entweder ballen sich die Schicksalsschläge der Protagonist*innen auf dramatische Weise oder ihr Leben verläuft so eintönig und unaufgeregt, dass es mindestens genauso dramatisch ist.
Da ist zum Beispiel Herr Valdomiro, dessen größter „Triumphbogenmoment seines Lebens“ ein Foto aus dem Jahr 1958 ist, das ihn nach dem Abschluss der vierten Klasse zeigt. Er träumt immer wieder von einer Rückkehr in die Heimat, doch als er endlich zurückkehrt, findet er selbst das Grab seiner Mutter nicht mehr. Wie Herr Valdomiro hat auch Ana Elisa Minas Gerais verlassen, um ihren eigenen Weg zu gehen und sich in der Nähe von São Paulo niederzulassen. Als 50-Jährige und mehrfache Mutter erträgt sie ihr Leben nur noch mit Beruhigungsmitteln. Ihren Mann hat sie „altersmäßig überholt, schwarze Wellaton-Tönung lügt über die grauen, schütteren, brüchigen Haare hinweg, das Pochen im Kopf, Falten und Krähenfüße und Cellulitis“. Er sucht sich Geliebte, verschwendet das Geld, kommt immer später nach Hause. Sie flüchtet sich in eine Glaubensgemeinschaft und wird eines Tages nach einem Zusammenbruch von einem Krankenwagen nach Hause gebracht.
Eine Dame, die so alt ist, dass sie niemanden mehr kennt, mit dem sie auf der Praça ein Gespräch anfangen könnte und die von ihren „alten Sandalen tastend unter den Licaniabäumen hindurch“ geführt wird, verliert sich während einer Busfahrt in Erinnerungen an verstorbene Familienmitglieder oder die Abwege ihrer Kinder. Sie lebt bei der Familie ihres jüngsten Sohnes, der am Busbahnhof Uhren und Wecker verkauft: „Das war es, was ihr geblieben war“ – heißt es lakonisch und ebenso traurig am Ende.
Sandra aus Cataguases hatte dagegen „Glück“ – wie der Titel der Erzählung verrät: Sie schafft es an die Praia do Botagofogo in Rio de Janeiro. Als die schwarze Hausangestellte während des Karnevals ungewollt schwanger wird, geht sie schließlich zurück nach Cataguases, um Jahre später erneut aufzubrechen und wieder enttäuscht zu werden: Der falsche Mann, der am Ende sogar ihren Modeschmuck mitnimmt, eine weitere Schwangerschaft und schließlich Aids – da bleibt nur erneut die Rückkehr nach Cataguases. Minas Gerais verbindet auch einen Familienvater mit Autopanne und einen Mechaniker, der einen 24 Stunden-Reifenservice anbietet und sich zwischendurch den Mangos in seinem Garten widmet „bevor diese unnützerweise am Boden zerplatzten oder Bem-Te-Vi-Vögel sie mit ihren Schnäbeln verdarben“. Das Gespräch mit dem Familienvater rüttelt Erinnerungen an seinen Heimatort in Minas Gerais wach und freimütig erzählt er, wie er sich davor drückte, sein Kind anzuerkennen und wie das schlechte Gewissen ihn schließlich aus Minas vertrieb.
Am Ende steht die Geschichte eines ursprünglich aus Cataguases stammenden Journalisten, der sich hochgearbeitet hat, geschieden ist, in São Paulo lebt und am letzten Tag des Jahres an einem Marathon teilnimmt. In Rückblenden denkt er an seine Jugend und seine Familie in Cataguases zurück. Fast protokollartig werden seine Besuche in der Heimat dokumentiert bis der Erzähler am Ende zu dem Marathonläufer zurückkehrt, der „all das nur noch vergessen“ will.
Sonntage ohne Gott versammelt Erzählungen über Ausbrüche, kurze Aufstiege und lange Abstiege, die Ruffato aus unterschiedlichen Perspektiven entfaltet und so ein mehrstimmiges Porträt brasilianischer Arbeiterfamilien skizziert. Dabei sind besonders die vielfältigen literarischen Verfahren zu betonen, die Ruffatos einzigartigen Stil ausmachen: Rückblenden, innere Monologe, Ellipsen oder auch Onomatopoesie, um zum Beispiel die Unruhe einer „flitzenden Mücke“ zu imitieren. Typografische Verfahren wie Fett- oder Kursivdruck oder der Einsatz anderer Schriftarten zur Markierung von Eigennamen, Zeitsprüngen, Gedankengängen oder auch Rede (die häufig auch unmarkiert bleibt), sorgen für ein außergewöhnlich dynamisches Leseerlebnis. Die teilweise Atemnot verursachenden Satzgebilde oder handgefertigte Ausdrücke wie „palavrório bem-te-vi“ („‚Lang nicht geseh’n‘-Plaudern“) oder „sapaiada batucando foi-não-foi-foi-não-foi“ („wo noch Kröten geht-nicht-geht-nicht-geht-nicht trommelten“) zu übersetzen, ist eine wahre Herausforderung: Michael Kegler hat hier bemerkenswerte Arbeit geleistet und alles getan, um diesen besonderen Ruffato’schen Stil zu erhalten.
Ruffato hat Literatur als Seismograf beschrieben und tatsächlich scheinen seine Texte Vorboten zu sein für ein von sozialer Ungleichheit, Gewalt, Korruption und Machismo geprägtes Brasilien der Bolsonaro-Ära. In seinem noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman O Verão Tardio – wieder einmal kehrt ein Protagonist nach Cataguases zurück – wird der mangelnde Austausch zwischen den sozialen Schichten Brasiliens thematisiert und die Frage nach einer gemeinsamen kollektiven Identität in der Zukunft aufgeworfen. Vielleicht wird sich mit der anstehenden Wahl im kommenden Jahr und der Rückkehr Lulas in Brasilien einiges ändern und vielleicht findet man darauf bereits jetzt eine Antwort: Ein Blick auf Ruffatos prognostische Literatur lohnt sich bestimmt.
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