Das Leben als ein ewiges Fließen

Mit Wolfgang Welschs „Im Fluss“ der intrinsischen Bewegung auf der Spur

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dachten wir nicht immer, alles Seiende wäre aus sich heraus stabil und würde erst im Nachhinein Veränderungen unterliegen? Haben wir nicht angenommen, die Dinge um uns herum und unser personelles Selbst hätten eine inhärente Festigkeit, die hie und da von Bewegung und Beeinflussung touchiert wird, aber an und für sich fest und geformt bleibt? In einem solchen Denken fühlt sich der Mensch des abendländischen Raums gemeinhin zu Hause. „Wir glauben, dass Dinge, feste Gegenstände, eben Substanzen das Primäre seien, und dass sich an diesen dann erst sekundär Bewegungen und Veränderungen abspielten.“ Schon immer gab es jedoch auch Denker, wie beispielsweise Arthur Schopenhauer, die das Prozesshafte des Seienden sahen. Ebenso blickt Wolfgang Welsch auf die Welt, wenn er postuliert:

Dinge sind, was sie sind, nicht an sich, nicht aus sich selbst. […] Ein jedes Seiende ist, was es ist, vielmehr durch die Prozesse, die zu ihm geführt haben und durch die Relationen, in denen es steht. Nimmt man diese vermeintlich externen Bedingungen weg, so zeigt sich sogleich, dass das scheinbare Ansich, das Wesen, schlicht zusammenbricht, verdampft.

Alle Organismen, uns eingeschlossen, existieren, weil sie perfekt an die Erdatmosphäre angepasst sind. Wäre dies nicht der Fall, würde der Zellinnendruck dem Atmosphärendruck nicht standhalten können. Diese Relation ist demnach maßgeblich dafür, dass wir hier auf der Erde so selbstverständlich jeden Tag einen Fuß vor den anderen setzen können. Die oftmals als eine äußerliche Bedingtheit und somit nicht als dem eigenen Leben inhärent begriffene Umwelt erscheint bei genauem Hinschauen als eine innere Bedingtheit. Mehr noch, sie ist essenzielle Bedingtheit.

Was existent Seiend erscheint, nennt Welsch daher „Transitknoten“. Übergang, Veränderung und der beständige Strom dessen leiten ihn zu der Ansicht, dass unserem Leben Relationen zugrunde liegen und es selbst ebenfalls eine Relation ist. Wenn nichts an sich existiert, bleibt das Prozesshafte als das sichtbare Merkmal des Seienden evident.

Dass dem so ist, wird leicht greifbar beim Blick auf die eigene Biografie. Das Kind, das einst war, gibt es nicht mehr. Gleichwohl ist es nicht fort, sondern hat sich in mehreren Übergängen in den Menschen verwandelt, der sich heute erwachsen nennt. Auch dieses Erwachsensein ist jedoch kein endgültiger Fixpunkt und kein Ende im Prozesshaften. Die Existenz kennt keinen Fixpunkt in dem Sinne, wie unser Denken einen solchen bestimmen lässt. Je nachdem, wann und wo immer wir ihn setzen wollen. Aus dem Erwachsenen wird bei langer Lebensdauer ein Hochbetagter, ein Greis. Und selbst dieser unterliegt weiterhin der prozesshaften Veränderung von allem. Da unsere Lebensform eindeutig dem Prozesshaften entspricht statt dem „alten Substanz- und Stabilitätsideal“, plädiert Welsch für eine Umstellung im Denken.

Zunächst jedoch wirft er einen Blick zurück und rekapituliert das anthropische Prinzip, das in der Moderne zu einer Kluft zwischen Mensch und Natur führte. Kurzgefasst, wenn der Mensch der Umwelt fremd ist, dann ist es nur folgerichtig, dass sein Verhältnis zu ihr von der Bedeutung, die er ihr als selbsternannter Mittelpunkt zuteilt, bestimmt ist. Inzwischen hat sich längst herausgestellt, dass „weder der Mensch ein weltfremdes Wesen noch die Natur geistlos [ist]“.

Unser reflexiver Geist ist die höchstentwickelte Form eines grundlegenden Musters, das sich schon in der kosmischen und biotischen Evolution findet und geradezu als Treiber dieser Evolution angesehen werden kann. Geist ist potenzierte Selbstorganisation und Selbstbezüglichkeit, und diese hat die Entwicklung des Kosmos schon seit Langem bestimmt […].

Wenn Geist „ein Produkt der natürlichen Evolution“ ist, dann kann der Mensch nicht getrennt sein von diesem Prozess. Und in diesem prozesshaften Verlauf ist er konsequenterweise verbunden mit der ihn umgebenden Welt, die ebenso Teil des Prozesshaften ist. Der alte Gegensatz von Mensch gleich Geist versus Natur gleich Geistlosigkeit ist nicht zuletzt durch Forschungen der Naturwissenschaft obsolet geworden. Bei Welsch heißt es: „Der Mensch ist intrinsisch naturaffin, und die Natur intrinsisch geistaffin.“

Um den Dualismus zu überwinden, schlägt Welsch einen Mittelweg vor, ausgehend vom Selbstverständnis der Menschen als „Organismen“. Solch ein Selbstverständnis muss dabei über die eigene Kreatürlichkeit hinausweisen und auch alle/s andere/n ebenfalls als Organismus begreifen. Über diese Schnittstelle „sind wir aktiv und eingebunden zugleich“ und zudem „mit dem Schicksal anderer Organismen verbunden“. Damit „schwenken wir auf einen Denk- und Empfindungsweg des Lebens ein – zwischen bloßer Materialität und reiner Spiritualität“.

Welsch bewegt nicht weniger als die alte Frage neu: ,Was ist der Mensch‘? Wir wissen schon, er steht als naturhafter Organismus zwischen Geist und Materie. Als Kulturorganismus ist er Kosmopolit, ist geprägt von Interkulturellem und Transkulturellem. Als Evolutionsorganismus lebt er in einem Verbund mit Mikroorganismen, Tieren und Pflanzen, die nicht das vermeintlich Andere sind, sondern integrativer Bestandteil seines Daseins. Als ein Beispiel führt Welsch hierfür an, dass der menschliche Organismus durch Billionen von ihn besiedelnden Mikroorganismen erst überhaupt lebensfähig ist. Sie schaffen also die Voraussetzung seiner körperlichen Existenz. Die Entwicklung des Menschen auf der Erde fand nicht losgelöst von der Entwicklung der Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen statt. Sie bedingten und bedingen sich gegenseitig.

Obsolet wird die Denktradition des modernen Dualismus, in der dem Menschen eine höhere Stufe zugebilligt wurde als allen anderen Organismen insofern, als nicht erst durch den Menschen die Welt ihre Bestimmung und ihren Wert erhält. Der Mensch ist darin ein aktiver Teil. Alle anderen sind jedoch ebenso aktiv. So führte der Landgang der Tiere zu einer Veränderung der Vegetation und damit auch zu einer veränderten Umwelt für alle Lebewesen. Die Annahme, der Mensch lebe in einer „vom Anderen“ abgekapselten Welt, entpuppt sich bei näherem Hinschauen als nicht haltbar. Dazu genügt ein Blick auf unsere Nahrung. Sie zeigt uns die Allianz mit Pflanze, Tier und Kosmos, indem keines vom anderen getrennt existieren und einander ernähren könnte. Sonnenlicht, Wärme, Regenwasser sind nötig, um Gemüse, Obst und Grünes zu produzieren. Das ernährt uns sowie die Tiere und Pflanzen.

Auch in der Moderne gab es durchaus Bemühungen, den Dualismus Mensch/Tier, der symbolhaft für Geist/Materie stand, aufzubrechen. Freilich ohne großen Effekt. Welsch resümiert die wichtigsten Positionen und kommentiert sie. Die „Animal Studies“ unserer Zeit hält Welsch für einen wichtigen Baustein, uns unsere Verbundenheiten und Abhängigkeiten bewusst zu machen. Allerdings plädiert er dafür, eben diese Allianzenforschung auf sämtliche Organismen auszudehnen, auf Organisches und sogar auf Anorganisches.

Mit der Denktradition des Dualismus korrelierte die Denktradition der Überlegenheit, die auf dem Lob des menscheneigenen Instruments des Denkens selbst fußte. Welsch zieht entsprechende Traditionen zur Prüfung seiner Hypothese heran und kommt zu dem Schluss, dass „Superioritätsfantasien“ ausgeträumt sind. Der Mensch ist „in die Prozesse der Natur und der Evolution eingebunden – und zwar auf der gesamten Wegstrecke der kosmischen, biotischen und kulturellen Evolution“. Da ihn auch das Denken nicht aus dieser Verflochtenheit lösen kann, reiht er sich in die Allianzen der Lebewesen ein. Bescheidenheit gewinnt vor Exklusivität. Alles, was der Mensch geschaffen und geschafft hat, auf den Mond fliegen, das Internet erfinden etwa, beruht nicht etwa auf seiner „Sondernatur“, wie Welsch betont, sondern geht zurück auf seine „evolutionären Potenziale“, die er bestens genutzt und fortentwickelt hat.

An dem Punkt, an dem wir heute stehen, erkennen wir jedoch auch die Problemfelder, die wir selbst zu verantworten haben. Stichwort „Anthropozän“: Es

signalisiert eine grundlegende Ambiguität. Nämlich erstens, dass der Mensch durch seine Technik die Erde in einem zuvor nicht denkbaren Ausmaß umgestaltet – so sehr, dass zu vermuten steht, dass künftige Geologen unsere Zeit als diejenige bezeichnen werden, in welcher der menschliche Einfluss zum bestimmenden Faktor für die Verfassung der Erde geworden ist.

Der Terminus Anthropozän wirft mithin nicht nur ein Schlaglicht auf die geologische Bestandsaufnahme, sondern hallt als „Warn- und Weckruf“ in unseren Ohren. Bislang verhallt er, wie Welsch eindringlich mahnt. Das, was getan wird, um der Katastrophe zu entgehen, dient mehr der Kaschierung von Problemzonen denn als tatsächliche Wende. Der Mensch verbraucht mehr als die Erde nachliefern kann. Sein Appetit auf Ressourcen ist ungezügelt; Bescheidung augenscheinlich eine Kreisquadratur. Noch bevor die Jahresmitte erreicht ist, nämlich Anfang Mai, haben die Menschen in Deutschland ihr jährliches Kontingent an Ressourcen, welches die Erde bieten kann, aufgebraucht.

Wolfgang Welsch schließt seine Überlegungen mit einem Blick auf den Begriff „Identität“. Er legt dar, wie das Monolithische hierin eine Theorie ist, die das tatsächliche Transkulturelle eines lebendigen Organismus nicht abbilden kann. In der so genannten „Identität“ bildet sich das Fließen ebenso stark ab wie im Kulturellen oder Evolutionären. Das Leben selbst und das beständige Interagieren mit anderen Menschen, Landschaften, sozialen und kulturellen Umfeldern bildet in diesem Prozess das aus, was wir gemeinhin unter „Identität“ subsumieren. Da die Prozesse wechselhaft und andauernd sind, ist es auch die Ausbildung oder Ausgestaltung der „Identität“.

„Im Fluss“ sein, das heißt bei Welsch, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass alles ineinandergreift und ineinander übergeht und dies ein unabschließbarer und unabgeschlossener Prozess ist. Veränderlichkeit ist die uns inhärente und intrinsische Bewegung, der kein Organismus entkommt. Und so stellt sich die Antwort auf die Frage, was der Mensch nun sei, dieses oder jenes, dar als ein Drittes: Unser Leben zeigt sich als ein ewiges Fließen.

Titelbild

Wolfgang Welsch: Im Fluss. Leben in Bewegung.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
175 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783751805025

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