Ein „Impffan“ klärt auf

Der Virologe Hendrik Streeck berichtet in „Hotspot“ über Covid-19 und die Folgen

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neben Christian Drosten gehört Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, zu den bekanntesten Experten eines Fachgebiets, das in Deutschland vor der Corona-Pandemie nur wenig öffentlich wahrgenommen wurde. Die beiden Virologen sind mittlerweile als prominente Gesichter diesseits und jenseits der Kontroversen, die sich im Lauf der bleibend besonderen Zeit ergeben haben, auch oft persönlich angefeindet worden. Professor Streeck, ein international renommierter Aids-Forscher, berichtet in seinem Buch anschaulich, präzise und verständlich über den Gang der Corona-Ereignisse, die bis heute die Welt in Atem halten. Zudem liefert er sach- wie fachkundig virologische Einsichten, die auch zu einer Entdämonisierung der Covid-19-Erkrankung beitragen können.

Wenn eines Tages die Geschichte dieser Ausnahmesituation wissenschaftlich dargelegt wird, könnte auch der von Streeck genannte Begriff „Infodemie“ Beachtung finden, nämlich die Instrumentalisierung und öffentlichkeitswirksame Verbreitung von furchteinflößenden Bildern. Streeck stand in Kontakt zu den Kollegen in Wuhan, als über die sozialen Medien „Szenen, die das chinesische Staatsfernsehen nicht zeigte“, verbreitet wurden:

Doch viele Bilder waren falsch. Die Menschen, die umkippten, starben nicht an dem neuen Virus; es waren zum Teil alte Aufnahmen und der Grund zum Beispiel ein Herzinfarkt. […] Aber wer wusste schon, was stimmte oder nicht. Hier begann bereits eine Infodemie, die sich durch die gesamte Coronakrise ziehen sollte.

An spektakulären, angstmachenden Stories fehlt es nicht, die zugehörigen Fotos machten sprachlos. Auch viele Zeitgenossen, die sich der Gefährlichkeit der Krankheit bewusst sind, sehen die Berichterstattung über die Pandemie heute skeptisch. Von Sensationsgier und -lust scheinen auch öffentlich-rechtliche Medien nicht gänzlich frei gewesen zu sein. SARS-CoV-2 war für Wissenschaftler anfangs „schwer einzuschätzen“: „Aus China kamen Bilder Schwerstkranker auf Intensivstationen, Wuhan wurde unter Quarantäne gestellt. Je mehr dieser Bilder und Meldungen von schweren Verläufen die Menschen erreichten, umso größer wurde die allgemeine Unsicherheit.“ In Deutschland wie in Europa bestand ein Maskenmangel. Masken wirken gegen die „Aerolisierung“, schützen den Träger, wenn „die Verteilung von Virusmaterial durch kleinste Luftpartikel“ erfolgt. Auch ein weiteres Problem benennt Streeck, die Schuldfrage und, damit verbunden, die Stigmatisierung der Infizierten:

Dieses Phänomen, nicht den Erreger als den Feind zu erkennen, sondern die Infizierten dazu zu machen, ist eine alte traurige Verhaltensweise des Menschen. Bei der Pest sollten es die Juden gewesen sein, und HIV-Infizierte haben weltweit immer noch mit Stigmatisierung und Diskriminierung zu kämpfen.

Diese vergleichende Reihung wirkt indessen – und nicht nur rhetorisch – übertrieben. Am Anfang der Pandemie stellten sich Fragen nach den Bedingungen der Ausbreitung des Infektionsgeschehens, nach den Symptomen, nach der Immunität und nach den Reaktionen des Immunsystems. Streeck fuhr am 3. März mit etlichen Kollegen nach Heinsberg: „Wir hatten das Gefühl, in die rote Zone zu fahren, in einen Sturm, obwohl es eigentlich ganz ruhig war. […] Die Straßen wirkten verlassen und wie unter einer Glocke.“ Impertinente Medienvertreter hatten die kleine Stadt bereits wieder verlassen.

SARS-CoV-2 gehört zu den „respiratorischen Viren“. Streeck klärt darüber auf:

Die Virologie unterscheidet zwischen behüllten und unbehüllten, also nackten Viren, wobei die nackten Viren häufiger durch Schmierinfektion übertragen werden. Beispiele dafür sind das Rotavirus oder Norovirus. Von diesen beiden Viren kennt man die Schmierinfektion nur zu gut. […] SARS-CoV-2 ist jedoch ein behülltes Virus. Vereinfacht gesagt, kann man es sich vorstellen wie einen mit Öl umhüllten Wassertropfen; wenn er mit Seife in Berührung kommt oder austrocknet, wird er zerstört.

Deswegen hält Streeck auch die weithin bekannten AHA-Regeln für sehr vernünftig. So wie eine Konferenz ein „idealer Ort“ für eine „großflächige Verteilung von Viren“ sei, so verhalte es sich auch mit Feiern – wie der Karnevalssitzung im Kreis Heinsberg –, die dann zu „Superspeadingevents“ würden: „Seit SARS-CoV-2 sich weltweit verbreitete, konnte man beobachten, dass es immer dann zu einem sprunghaften Anstieg an Infektionen kam, wenn viele Menschen auf wenig Raum zusammenkamen und eng beieinander waren. […] Superspreadingevents sind ein Charakteristikum der Coronapandemie.“ Das gelte auch für „Chorproben in Räumen mit schlechter Luft“ und überall dort, „wo fröhlich und laut gefeiert, gesungen, gelacht, lebhaft miteinander gesprochen, gerufen oder gar geschrien wird“.

Kritisch äußert er sich gegenüber dem „generellen Besuchsverbot“ in Krankenhäusern und berichtet auch von einer Frau aus dem Klinikum Bonn, die sich von ihrem sterbenden Mann verabschieden wollte und einen Coronatest machte:

Ich sehe noch vor mir, wie die Frau den ganzen Nachmittag über unter dem Fenster des Krankenzimmers saß, in dem ihr Mann lag, und auf das Ergebnis wartete. Als es schließlich kam und negativ ausgefallen war, durfte sie zu ihm und schaffte es noch, sich von ihm zu verabschieden, bevor er kurz darauf verstarb. Solche Momente vergisst man nicht.

Was Infizierte betreffe, so schreibt Streeck, dass es wichtig für ihn als Arzt sei, „zu den Menschen zu gehen und sich ein eigenes Bild von ihrem Zustand und der Erkrankung zu machen“: „Die öffentliche Diskussion hingegen wurde von Bildern bestimmt. Bildern von schwersten Krankheitsverläufen, halb nackten Patienten an Pumpen und Schläuchen auf Intensivstationen, gestressten Ärzten und überlastetem Pflegepersonal.“ Die „feineren Facetten der Erkrankung“ blieben außen vor, und die öffentliche Debatte wurde oft von „Schreckensvisionen“ bestimmt, von „ungesicherten Annahmen über das Virusgeschehen“: „Es war eine Infodemie, in der jeder meinte, es besser zu wissen als die Wissenschaft. Bald gab es 80 Millionen Hobbyvirologen.“ Hendrik Streeck plädierte früh für eine „Faktenbasis“ und erklärte: „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“ Eine Erkenntnis seiner Studien lautet: „Die sozialeren Menschen infizieren sich eher als die Menschen mit weniger Sozialkontakten.“

Eine erregte Debatte begann, als Streeck mit Blick auf die Heinsberg-Studie sagte, „dass das Virus nicht so tödlich sei wie befürchtet“. Politische Kontroversen nahmen Fahrt auf, die Protestbewegungen gegen die Corona-Maßnahmen sammelten sich. Streeck schreibt, er sei anfangs naiv im Umgang mit den Medien gewesen:

Jede Information, die dazu führen könnte, die harten Lockdownmaßnahmen infrage zu stellen, war schlichtweg nicht willkommen. […] Ich wollte Fakten schaffen – um als Teil des Puzzles aus vielen Studien und Forschungsergebnissen im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 zu einem besseren Verständnis des neuartigen Virus zu verhelfen.

Energisch wirbt Streeck darum auch für das Tragen von Masken, wie es in ostasiatischen Ländern seit Langem üblich sei:

Die Maske, die in Asien eine Verhaltensregel symbolisiert, nämlich die Pflicht, die Gemeinschaft zu schützen, und eine Erwartungshaltung, wie man von anderen behandelt werden möchte, wurde in Europa eher mit Empörung und Skepsis aufgenommen. Dabei galt als bewiesen, dass Masken dazu beitragen können, die Gefahr einer COVID-19-Erkrankung zu verringern.

Eindeutig bekennt sich der Virologe zu Impfstoffen, das sei das „beste Mittel in der Pandemiebekämpfung, denn es bringt den Körper dazu, sich selbst gegen das Virus zu wehren“: „Auch ich bin ein Impffan.“ Die Impfung könnte auch als ein Beitrag verstanden werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken: „Dazu gehört die Rücksicht auf Schwächere ebenso wie der Blick auf die ganze Gesellschaft. Und wir müssen damit leben lernen, dass wir nicht jede Gefahr bannen können. […] Wie gut wir auch unsere Welt der Menschen kennen mögen, die Welt der Viren und Erreger kennen wir immer noch viel zu wenig.“

Hendrik Streeck schildert anschaulich und differenziert die Corona-Situation aus virologischer Sicht, gleichzeitig macht er auf eine Reihe von Phänomenen aufmerksam, die jetzt und in den kommenden Jahren noch fachwissenschaftlich vertieft und gesellschaftspolitisch diskutiert werden müssen. Auch Religionsgemeinschaften und Sozialverbände waren hier auffallend still. Kritisch diskutiert werden müssen die nach meiner unmaßgeblichen Meinung unverantwortlichen Maßnahmen, die zur Vereinsamung von Leidenden in Krankenhäusern und Altenheimen führten, die in einzelnen Phasen der Pandemie nicht oder kaum Besuch empfangen durften. Wer hätte sich ein solches rigoroses Besuchsverbot von Menschen noch 2019 je vorstellen können? Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit einzelner Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurde und wird auch Angst geschürt, ungeachtet der Plausibilität bestimmter Regelungen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens.

Außen vor lässt Streeck den nahezu vollständigen Lockdown von Musik, Theater und anderen Kulturveranstaltungen – trotz funktionierender, bewährter Hygienekonzepte. Wir müssen und können mit Viruserkrankungen jetzt und künftig leben, aber wie wollen wir das tun? Das Leben war, ist und bleibt stets – lebensgefährlich und zugleich lebenswert. Dieses anregende, wichtige Buch von Hendrik Streeck verdient weite Verbreitung. Oder nicht? Man könnte den gelegentlich sehr emotional gefärbten Tonfall irritierend finden oder darüber verwundert sein, denn der Autor rechtfertigt – ein wenig zu oft – die Relevanz seiner Heinsberg-Studie, die auch oft kritisch, mitunter polemisch kommentiert wurde. Dass er aber vor Corona nicht medienerfahren und mit manchen Kommentaren nicht einverstanden war, sei ihm zugestanden. Manches aber – und Personen des öffentlichen Lebens erfahren das nicht selten – müssen auch öffentlich sehr präsente Wissenschaftler*innen in der medialen Öffentlichkeit aushalten und ertragen.

Titelbild

Hendrik Streeck: Hotspot. Leben mit dem neuen Coronavirus.
Piper Verlag, München 2021.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783492071031

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