Hatespeech, Shitstorm und weiter …?

Ein Tagungsband von Anna Kathrin Bleuler und Manfred Kern widmet sich der „Poesie des Widerstreits“ in der mittelalterlichen Literatur

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitunter ist es tatsächlich so, dass ein Rückgriff auf Friedrich Nietzsche angebracht erscheint, der bekanntlich die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ diagnostizierte. Und in der Tat ist es eine ebenso triviale wie naheliegende Vermutung, dass (fast) alles schon einmal dagewesen sei. Und so mutet auch das Thema des vorliegenden Bandes an, der das Resultat zweier Salzburger Tagungen beinhaltet, die im Oktober 2015 sowie im Juni/Juli 2016 stattgefunden haben und zum einen mit Poesie des Widerstreits – dem Buchtitel –, zum anderen mit Kunstpolemik – Polemikkunst überschrieben waren. Aus mediävistischer Perspektive besonders bemerkenswert ist hierbei, dass auch in diesem Feld ‚das Mittelalter‘ beziehungsweise mittelalterliche Literaturproduktion nicht bloße Tradierung und damit in letzter Konsequenz ‚Versteinerung’ darstellt, sondern immer wieder Brüche und Neuansätze zu beobachten sind. Diese wurden häufig genug nicht nur von einer konservativer eingestellten Rezeptionsgesellschaft als polemisch empfunden, sondern setzten den Habitus des Widerständig-Widerborstigen ganz bewusst als Medium für die Präsentation des Neuen ein – was bedeutet, dass die dichterische und allgemein künstlerische Avantgarde bereits im Mittelalter agitierte und polemisierte, um die eigenen künstlerischen Haltungen und Ideale durchzusetzen.

Ein wichtiger Aspekt der vorliegenden Publikation wird bereits in der Einleitung angesprochen und läuft letztlich darauf hinaus, (Kultur-)Geschichte und damit natürlich auch literarische Tradierung als Kontinuum zu sehen. Oder wie der Rezensent bei diversen Einführungsveranstaltungen anzumerken pflegte: Menschen in Mitteleuropa etwa gingen natürlich nicht am 31.12.499 in der Spätantike zu Bett, um dann am 1.1.500 im Frühmittelalter aufzuwachen. Herausgeberin und Herausgeber präsentieren dies hier freilich sehr viel eleganter. Wichtig ist: Zum einen wurden Epochengrenzen zeitgenössisch gar nicht wahrgenommen, zum anderen – das ist für das Selbstverständnis der Partizipation an Kultur noch relevanter – waren sie nicht einmal erwünscht. Ausgeführt werden diese Überlegungen anhand zweier Gleichnisse. So geht es zum einen um das ‚Bienengleichnis‘, also um die Vorstellung zeitgenössisch-mittelalterlicher Textentstehung, gespeist aus der Sammeltätigkeit aus Quellen der (eben nicht als andere Epoche empfundenen) Antike. Interessant ist hier auch der Hinweis, dass sich dieser Vergleich bereits bei Seneca findet, der damit auf das römische Epigonat griechischer Quellen abhebt. Das andere Bild ist das der Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen, sich also des Vorhandenen bedienen, um daraus – letztlich aber wohl nur bedingt – Eigenes zu formen. Dieser Vergleich ist womöglich noch düsterer, macht aber daneben auch deutlich, wieweit Kultur als Kontinuum angesehen wurde – und zwar im Sinne einer Unabdingbarkeit und nicht einer Art ‚Hypothek‘. Erst wesentlich später setzte sich dann die Notwendigkeit der absoluten Originalität als Voraussetzung für die Wertung von Kunst durch. In diesem Zusammenhang ist es durchaus bemerkenswert, dass die, insbesondere digitale, Sample-Kultur der Gegenwart hingegen ausgerechnet das Sich-Bedienen am Vorhandenen als wichtigen Aspekt von Kunst begreift.

Zurück aber zum eigentlichen Werk. Abgesehen von der umfangreichen und äußerst lesenswerten Einleitung sind insgesamt sechzehn Beiträge zusammengetragen worden. Um es gleich vorwegzunehmen: Etwas irritierend ist hier das Fehlen einer leitenden Binnengliederung, und auch eine chronologische Ordnung der Themen findet sich nicht. So wird etwa der Parzival Wolframs von Eschenbach nach Dante und Petrarca thematisiert, allerdings wiederum vor einer Betrachtung zu Giovanni Boccaccios Corbaccio. Gewählt wurde eine alphabetische Folge der Beiträgerinnen und Beiträger, die sicherlich auch einen Ordnungsfaktor darstellt, aber eben nicht sonderlich zielführend ist, auch wenn die Leserinnen und Leser selbstverständlich in der Lage sind, die Titel der Beiträge zu lesen. Dies ist gerade angesichts der wohl auch für die zugrunde liegenden Tagungen gültigen Einteilung solcher Konferenzen in verschiedene Sektionen verwunderlich, aber kein wirklich gewichtiger Einwand.

Anna Kathrin Bleuler beschäftigt sich nach der gemeinsam mit Manfred Kern verfassten Einleitung im ersten thematischen Beitrag passend zum Buchtitel mit Polemik und Etablierung in der mittelhochdeutschen Lyrik. Als Ausgangspunkt hierfür dient das Minne-Kreuzlied Mîn herze und mîn lîp, diu wellent scheiden Friedrichs von Hausen, das in diese hybride Literaturgattung einführt, wobei die Verfasserin in der Hinführung den Gattungsbegriff stark problematisiert. Dies geschieht zwar mit einem Hinweis, diese Zuordnung sei keine zeitgenössische, dabei verliert sie jedoch aus dem Blick, dass das letztlich für die meisten anderen literarischen Zuordnungen mittelalterlichen Schreibens ebenso gilt. Unter der Fokussierung auf Mîn herze und des zumindest impliziten Einbeziehens anderer Texte, die sie dieser Sparte zuordnet, gelingt es Bleuler, die inneren Spannungen des Textes in ihren artifiziellen wie gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen und damit die Frage nach etwa der Problematik zwischen persönlicher Verbundenheit und gesellschaftlicher Erwartungshaltung zu thematisieren – eine Konstellation, die gewissermaßen Ewigkeitscharakter besitzt. Konkurrenz- und Konfliktsituationen konnten demnach, so die Autorin, „in der mittelhochdeutschen Lyrik poetische Anschlusskommunikation provozieren“. Aber, das sei hier angefügt, eben nicht nur dort.

Der bereits angedeutete Aspekt des thematischen Springens wird daran deutlich, dass der nachfolgende Beitrag von Brigitte Burrichter, Ces fols menestrels, sich mit der Spielmannsschelte in altfranzösischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts befasst, die nun herzlich wenig mit den Kreuzzügen beziehungsweise der literarischen Verarbeitung dieser Waffengänge und ihren gesellschaftlichen Begleiterscheinungen zu tun hat. Dieser knappe Beitrag führt die Realität der zwischen Autoren und Interpreten – zumeist eben sogenannten Spielleuten – herrschenden Aversion und auch gelegentlichen Rivalität zwischen ihnen vor Augen. Es geht dabei nicht zuletzt um die Frage der richtigen Lesart oder besser: der korrekten Interpretation und damit neben dem Aspekt der Originalität auch um den der Urheberschaft. Hier scheinen ebenfalls Parameter auf, die in gewisser Hinsicht überzeitlich sind und auch gegenwärtig noch Gültigkeit haben.

Susanne Friede wiederum führt zurück in den Zeithorizont der Kreuzzüge, bleibt dabei aber im frankophonen Raum und führt in Narrative Strategien der Polemik in französischen Texten von 1175 bis 1185 ein. Wesentlich ist hier die Polemik als gesellschaftliche beziehungsweise gesellschaftsstabilisierende „Waffe“, was die Autorin anhand der Beobachtung der literarischen Artus-Tradition – vornehmlich anhand des „Perceval-Motivs“ – und der romanhaften Adaption der Alexander-Überlieferung deutlich macht. In diesem Zusammenhang gut nachvollziehbar ist das Argument, literarische Unruhen seien gerade in Umbruchzeiten zu beobachten; zumindest aber kann diese literarische Polemik der „Selbstvergewisserung der eigenen Existenzbedingungen und Handlungsmaximen“ dienen.

In der Tat epochenübergreifend ist der Beitrag Latein oder Volkssprache? von Andreas Hammer, der sich der Polemiken zu einer ‚Glaubensfrage‘ in der geistlichen Literatur von Otfrid von Weißenburg bis zu Martin Luther und Leo Jud annimmt. Hier wird zunächst auf die Problematik einer Übersetzung hinsichtlich der potenziellen Verfälschung nicht nur der Kerninhalte, sondern der vollständigen theologischen Überlieferung hingewiesen. Eine Kernfrage, die in allen Offenbarungsreligionen, in denen von einem dezidiert göttlichen Ursprung der heiligen Texte ausgegangen wird, besteht. Mit Rückgriff auf die karlische Frankfurter Reichssynode von 794 wird eine für die (vor-)deutschen Dialekte erfolgte Legitimation der Übertragung heiliger Texte in die Volkssprache zitiert, aber zugleich auch auf Skepsis demgegenüber und die damit verbundenen Problematiken verwiesen. Dass Otfrid eine Übertragung wagte, hatte rein pragmatische Gründe, denn das Primat des Lateinischen wurde von ihm offenbar nicht angezweifelt. Erst die Reformationsbewegung und hier zuvorderst die quellenkritische Arbeit Luthers konnte, so Hammer, eine wirkliche Emanzipation sowohl in sprachlich-literarischer als auch theologisch-gesellschaftlicher Hinsicht bewirken.

Ein faszinierender, weil weitgehend übersehener respektive schlicht unbekannter Aspekt mittelalterlicher literarischer Produktion und Rezeption wird von Danièle James-Raoul aufgegriffen, indem unter dem Titel Die Moderne-Debatte in den mittellateinischen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts eine Art ‚Renaissance vor der Renaissance‘ vorgestellt wird. Anhand von – im vorliegenden Aufsatz natürlich nur ansatzweise wiedergegebenen – stilistischen und auch strukturellen Parametern wird eine, offenbar recht kurzlebige, Fokussierung auf eigentlich antike (Text-)Traditionen in der Phase des frühen Hochmittelalters nachgewiesen oder zumindest sehr wahrscheinlich gemacht. Diese nahm in vielem die Renaissance vorweg, mutete aber im Kontext der literarischen Standards dieser Zeit als zu ‚modern‘ an, um sich durchsetzen zu können beziehungsweise Bestand zu haben. Wesentlich war dabei nicht der Gegensatz, sondern die Nachfolge – ein Parameter, der angesichts des nicht zuletzt durch eine politisch-militärische Dominanz Zentraleuropas gewonnenen Selbstbewusstseins kaum dauerhaft sein konnte.

Manfred Kern weist in seinem Beitrag Nomen indelebile nostrum. Poetische Etablierung im Wettstreit der Namen auf die bereits schon angedeutete Problematik beziehungsweise auf das Skandalon der Urheberschaft hin. Unter Rückgriff auf die eingangs angesprochenen Bienen- und Zwergen-Gleichnisse ist die Frage der Urheberschaft bereits angesprochen und kontrovers diskutiert worden; dem Autor geht es allerdings darum, die in den Texten erfolgte namentliche Zuordnung über die Frage der Urheberschaft hinaus als Element einer kulturell-gesellschaftlichen Positionierung erkennbar zu machen. Für den Verfasser von derlei Texten ist dies laut Kern eine Art literarischer Statussetzung, „auf dass sein Name unzerstörbar bleibe“.

Offenkundig ganz andere Phänomene der dichterischen Polemik werden von Dorothea Klein aufgegriffen, die Verdeckte Parodie und Polemik im Minnesang untersucht. Dies geschieht anhand der Untersuchung einzelner Texte Hartmanns von Aue, Walthers von der Vogelweide sowie Heinrichs von Morungen. Wesentlich ist, dass die Autorin nicht ausschließlich die ‚klassischen‘ Texteditionen heranzieht, sondern eine kritische Lesart präferiert respektive durch Textvariationen selbst entwickelt, anhand derer der polemisch-parodistische Aspekt dieser Minnetexte überhaupt erst erkennbar wird, denn die „kritische Sichtung der Überlieferung […] kann[…] methodischen und literaturhistorischen Gewinn gleichermaßen erbringen“.

Mit Norbert Kössinger (Die deutschsprachigen Paternoster-Parodien aus dem 14. und 15. Jahrhundert) wird der gefährliche Boden der Blasphemie betreten, denn als solche wurden die jeweiligen Texte in ihrer Zeit sicherlich gesehen. Den Einstieg bildet jedoch das (fast) zeitgenössische Kapital unser eines gewissen Reinhold Oberlercher (die Relativierung erfolgt offenbar, weil der Alt-68er mittlerweile am anderen Ende des politischen Spektrums beheimatet ist), das die Grundstruktur des Vaterunser aufgreift, aber selbstverständlich nicht sakrales Hoffen und Bitten, sondern die Verehrung des Kapital(ismu)s zum Thema hat. Nach weiteren modernen Parodien beziehungsweise Anleihen an der Vaterunser-Tradition werden drei spätmittelalterliche Parodien in den Blick genommen: die sogenannte Paternoster-Parodie, Des Buoben Paternoster sowie Des Wucherers Paternoster. Die entsprechenden ‚Gebete‘ dienten der Intention, geübte kirchliche Praxis zu hinterfragen beziehungsweise in ein kritisches Licht zu setzen. Dass dabei durchaus auch blasphemische Aspekte mit hineinspielten, ist zumindest implizit der Fall gewesen, nicht zuletzt aber war es gutes pädagogisches Denken, das zumindest indirekt transportiert wurde. Denn bei den erkennbaren Brüchen „schwingen (auch) deutliche polemische Untertöne mit, die sich gegen das ‚automatisierte‘ Herunterleiern des Gebetstextes sowie gegen die Ablenkungen vom andächtigen Sprechen des Gebets richten“.

Zeitnah, aber geografisch deutlich entfernt thematisiert Peter Kuon Theorie und Praxis der aemulatio bei Petrarca und Dante. Hier geht es zunächst – erinnert sei zum wiederholten Male an Bienen, Zwerge und Riesen – um die Frage von Originalität beziehungsweise produktiver Aneignung des Vorhergehenden, also in erster Linie antike Texte. Erläutert werden dankenswerterweise die Unterschiede zwischen aemulatio und imitatio, wobei Letztere der – so argumentiert auch der Autor – vermeintlich ‚mittelalterlichere‘ Ansatz sein soll. Im Spannungsfeld zwischen dem Wirken Dantes, der für das Mittelalter reklamiert wird, und des ‚frühneuzeitlich-humanistischen‘ Petrarca werden Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten nicht nur der beiden Dichterfürsten, sondern auch beider Begrifflichkeiten in den Blick genommen. Und trotz unterschiedlicher Grundpositionen, aber auch textproduktiver Unterschiede ist für Peter Kuon die gezogene Schlussfolgerung die einzig mögliche, denn „was die Technik der aemulatio betrifft, den Umgang mit den Modelltexten, die Subtilität des Verbergens und des Aufdeckens lässt sich […] kein grundlegender Unterschied zwischen dem noch mittelalterlichen Dante und dem schon humanistischen Petrarca erkennen“.

Mit beiden italienischen Dichtern geht es dann bei Alice Malzacher weiter, indem Dantes Vita Nuova sowie Petrarcas Canzoniere thematisiert werden, wobei die Dichtung Petrarcas in einen engen, durchaus auch imitatio-lastigen Kontext zu Dantes Vita Nuova gesetzt wird. Es ist der Autorin in diesem Zusammenhang um das ‚Sich-Abarbeiten‘ Petrarcas an den stilistisch-inhaltlichen Vorgaben Dantes zu tun, das auf der Grundlage allgemeiner vergleichbarer künstlerischen ‚Fernduelle‘ eigentlich allein aufgrund der Tendenz eines Abgrenzens äußerst polemisch durchgeführt sein müsste. Dies ist allerdings, so Malzacher, allenfalls bedingt so, denn es handelt sich um „eine kontrollierte Polemik, der einige textuelle Verfahren vorgeschaltet sind, die sicherstellen, dass sie ihr zerstörerisches Potential nur dort entfalten kann, wo sie richtig – und von den Richtigen – verstanden wird“.

Nach diesem frühneuzeitlichen, in gewisser Hinsicht also offenbar ‚gezähmten‘ Krieg führt Guillaume Oriol Von Schreibregeln zu Gefühlsregeln und behandelt damit den Entwurf einer Grammatik der Emotionen im dichterischen Wettstreit der Troubadours. Das hier erhobene – oder besser ausgedrückt: verfolgte – Postulat der troubadourischen Dichtung als einer dialogischen Dichtung legt es nahe, Widerstreit und Polemik in einem allgemeineren und dann keineswegs radikalen Sinne der troubadourischen Lebens- und Kunstwirklichkeit als unabdingbares Element zuzuschreiben. Dabei verweist Oriol unter anderem etwa auf die Troubadours Guirnaut de Salignac und Peironet, deren dialogischer und durchaus nicht unpolemischer Wettstreit durch die offenbar tatsächliche Call-and-response-Technik der beiden Konkurrenten verstärkt wurde, indem sie mit ihren Texten aufeinander Bezug nahmen. Die erkennbaren ‚Echos‘ sind bereits vom Grundsatz her angelegt, werden dann aber in Regelform zu gießen gesucht, „mit denen die widersprüchlichen Regeln eines Gefühlslebens ausgedrückt werden sollen“. Dies ist in sich ein Widerspruch, denn zumeist halten sich Gefühle im wirklichen Leben eben nicht an Regeln; es entspricht aber freilich vollkommen einer artifiziellen Notwendigkeit, um Gefühle – und dabei ist es gleichgültig, ob diese ‚echt‘ oder lediglich als literarisches Sujet imaginiert sind – überhaupt für die textliche Formalisierung transponierbar zu machen.

Rachel Raumann greift zum einen auf den frankophonen Traditionsstrang zurück, bezieht aber auch den germanischsprachigen Teil des ehemaligen Karolingerreiches mit ein, wenn unter dem Titel des gît gewisse lêre? die Klischees bei der Betrachtung französisch-deutscher Literaturbeziehungen in den Blick genommen und die mittelhochdeutschen Dichter als Moralisierer wahrgenommen beziehungsweise unter diesem Attribut diskutiert werden. Es geht hier vornehmlich um die deutsche Adaption der französischen (ursprünglich walisisch-britannischen) Artusmotive und insbesondere um die entsprechenden Adaptionen Hartmanns von Aue. Anliegen der Autorin ist es, die Vorstellung von der ‚Akklimatisierung‘ an die Verhältnisse in Zentraleuropa zu hinterfragen beziehungsweise als überholtes Klischee zu entlarven. Und die zughörige Frage wird auch prominent gestellt: „Wann wurden die Deutschen ‚lehrhaft‘ und ‚tiefsinnig‘?

Neben einem interessanten Beleg aus dem 13. Jahrhundert wird die zeitliche Einordnung hier auf eine recht überschaubare Spanne festgelegt – die des entstehenden respektive frühen Nationalstaatsdenkens. Zunächst wird die ironische Brechung durch Heine ins Feld geführt, um dann mit Gotthold Ephraim Lessing und Georg Gottfried Gervinus (zu) späte Kronzeugen für einen eindeutigen Paradigmenwechsel hinsichtlich gesellschaftlicher und Moral anzuführen. Aber ist das Ganze wirklich ein ‚nachgeborenes‘, vollkommen sinnfreies Konstrukt? Wer weiß. Zumindest ist das Ganze aber ein weiterer Beleg dafür, dass Wissenschaft und wissenschaftliche Bewertung keineswegs im gesellschaftlichen ‚luftleeren Raum‘ stattfinden, sondern definitiv von den gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen (mit-)bestimmt werden.

Für Permanent-Depressive ist der Beitrag Ursula Schaefers (Inszeniertes Scheitern. Geoffrey Chaucers Tale of Sir Topas) sicherlich nur auf den ersten Blick das Ziel ihrer Träume und Befürchtungen, geht es doch nicht um einen spätmittelalterlichen Hiob, sondern um die literarische Parodie gesellschaftlicher Ansprüche und Erwartungen sowie insbesondere deren Nichterfüllung. Dieser Text Chaucers ist selbstverständlich nicht aus dem Kontext der Canterbury Tales herauszulösen, und so birgt der Gesamtkomplex den ‚Lösungsweg‘, den Ursula Schaefer unter Verweis auf ähnliche Ansätze Shakespeares verfolgt: „Chaucer wie Shakespeare parodieren das Alte vor dem Horizont des Neuen.“

In gewissem, allerdings sehr weitem Sinn ist dies auch Thema des anschließenden Beitrags von Martin Schneider (Können und Wissen in der Parodie des Weinschwelg), der den anonym überlieferten Weinschwelg hinsichtlich seiner Funktion als Parodie auf die Minnelyrik, aber in bestimmten Sequenzen auch auf die zeitgenössische ‚Hochliteratur‘ im Allgemeinen untersucht. Martin Schneider arbeitet dabei neben Wort- beziehungsweise Formulierungsanlehnungen dieses Textes allgemeinere strukturelle Umformungen oder – besser gesagt – variierende Adaptionen heraus, die den Text als mehrfach gebrochen auszeichnen. Die parodistische Brechung im Weinschwelg ist eine mehrfache, denn es werden auf der ersten Ebene stilistische Elemente aus einem ‚höherwertigen‘ Kontext ins Triviale transponiert, auf der nächsten gerade durch den erkennbaren Aspekt des Eigenlobs des virtuosen, wenngleich imaginären Zechers die im Text getroffenen Wertungen unterlaufen. Schneider gelingt es adäquat, die Parodie der Parodie zu entwickeln – und das anstehende Glas Wein entweder zu vergällen oder doch zu einem abgehobeneren Genuss werden zu lassen.

Ernsthafter geht es bei Tina Terrahe (Streiter, Denker, Diplomat. Gawan und die Dekonstruktion des âventiure-Ritters im Parzvial Wolframs von Eschenbach) zu, die sich der Darstellung der Gawan-Figur bei Wolfram annimmt, dabei aber auch andere mittelhochdeutsche Artus-Überlieferungen miteinbezieht. Die ambivalente Gestalt Gawans, dessen Handeln im Parzival Wolframs als säkulare Parallele zum Streben und Tun des eigentlichen Helden aufgebaut ist, bietet auf eben dieser diesseitsorientierten, höfischen Ebene diverse Brechungen, die aus (post-)moderner Sicht womöglich als – bessere? – Alternative zum Heilsstreben des Titelhelden zu verstehen sein mag. Dieser Diktion folgt auch die Verfasserin, wobei allerdings die Absolutheit der Aussage, es könne „festgehalten werden, dass im Parzival sowohl auf narrativer Ebene als auch in Bezug auf die Figurenkonzeptionen jeder Erlösungsweg fragwürdig bleibt“, so nicht wirklich akzeptiert werden kann – gerade auch, weil den Aussagen Terrahes hinsichtlich der Komplexität und Heterogenität der literarischen Figuren zuzustimmen ist.

Mit Friedrich Wolfzettel und Boccaccios Corbaccio wird das Feld der Dante-Nachfolge und Autopolemik und damit wiederum die zeitliche Bühne der Frühen Neuzeit betreten. Dem Verfasser gelingt es, anhand ausgewählter Textbezüge und der adäquaten Argumentation das Faszinosum dieses literarischen Schrittes in die Moderne herauszustellen. Wohl nicht nur in der Entstehungszeit irritierende Aspekte Boccaccios literarischer Entfaltung erklärt Friedrich Wolfzettel durch das „Maß an Gewaltsamkeit, derer [sic!] es bedarf, um sich vom einstigen Ideal zu lösen“. Wenn doch nur alles so stringent zu erklären wäre.

Die Poesie des Widerstreits ist in der Tat nicht ohne ‚Widerstreit‘ zu lesen. Die eher irritierende Weise der An- und Zuordnung der Beiträge wurde bereits angesprochen, und mitunter hat es den Anschein, als sei der vorgegebene Rahmen nicht immer in stringenter Weise gefüllt worden. Neben vielem Neuen scheint immer wieder auch Selbstverständliches auf, sodass mitunter die Eulen gleich mehrfach nach Athen getragen werden. Gleichwohl ist das Buch auch als Ganzes lesenswert – und sei es, weil es zumindest implizit zum Widerspruch herausfordert. Zumindest ist es ambitioniert, Polemik und Widerstreit als grundsätzlich eher negativ besetzte Begriffe zum Thema zu machen, wobei es den Beteiligten durchaus gelungen ist, den jeweiligen Ansatz zu verdeutlichen. Auch im Hinblick auf die Materialität solide aufgebaut, mit einem hilfreichen Register versehen und mehr als nur eine neue Perspektive eröffnend, ist das Buch die Anschaffung oder – trotz des bei manchen Ideen möglichen inneren Widerstreitens – zumindest die nähere Beschäftigung wert.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Anna Kathrin Bleuler / Manfred Kern (Hg.): Poesie des Widerstreits. Etablierung und Polemik in den Literaturen des Mittelalters.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
VIII, 372, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347543

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