Romantische Mittelalterfiktionen – und mehr nicht?

Christian Buhr, Michael Waltenberger und Bernd Zegowitz untersuchen die „Mittelalterrezeption im Musiktheater“

Von Verena BrunschweigerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Brunschweiger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Catherine Cléments Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten und verkauft. Als die Rezensentin dieses Werk 1994 in der deutschen Übersetzung las, war das für das 14-jährige Mädchen eine Offenbarung: Feminismus und Oper. Hat man erst einmal Blut geleckt, kann man sich der Opernwelt niemals mehr entziehen. Allein die Mitwirkung im Extrachor bei Inszenierungen von Richard Wagners Feen und seines Fliegenden Holländers ist eine außergewöhnliche Erfahrung. Ebenso die Verkörperung eines Erdgeists in Heinrich Marschners Hans Heiling, bei der man ein Werk kennenlernt, das im Repertoire eher ein Schattendasein fristet – völlig zu Unrecht.

Um solche Opern geht es auch in der vorliegenden umfangreichen Neuerscheinung Mittelalterrezeption im Musiktheater. Wie es der Untertitel ankündigt, handelt es sich um ein stoffgeschichtliches Handbuch – und doch auch um so viel mehr. Die Rezensentin selbst beschäftigt sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Oper und musste bei der Lektüre dennoch feststellen, dass es Komponisten gibt (Komponist*innen? Leider nicht …), von denen sie vorher noch nie gehört hatte, obwohl sie ebenfalls eine Alcina-Version zu Papier brachten.

Das Handbuch arrangiert die Beiträge von 26 Autor*innen sinnvoll in drei großen Blöcken. Zuerst werden eng an mittelalterliche Historie anknüpfende Stoffe präsentiert, danach solche, die sich an Dichtungen des Mittelalters orientieren, und zuletzt jene, die sich an Werke neuzeitlicher Autoren anschließen. In einem Vorwort wird erläutert, wie die einzelnen Beiträge konzipiert sind: „Präsenz des Sujets“ informiert über die diversen Vertonungen, „Historische Schichten“ beleuchtet, welche Vorlagen wie benutzt wurden. Zudem liegt der Fokus natürlich auf dem literarischen Gehalt, es handelt sich schließlich nicht um ein musikwissenschaftliches Kompendium. Jeder Artikel wird durch eine „Werkliste“ abgerundet, die jeweils Komponist, Librettist sowie Datum und Ort der Uraufführung nennt.

Die vorgestellten Werke bilden dabei keinen chronologischen Rezeptionsprozess ab, sondern vielmehr „markante Verdichtungen des gesellschaftlichen Imaginären in der Überlagerung vielfältiger und je unterschiedlicher kultureller Bedingungen und Einflüsse“. Personenzentrierte Stoffe umfassen unter anderem Agnes Bernauer, Johanna von Orléans, Robin Hood und Wilhelm Tell.

Für Mediävist*innen vielleicht am Interessantesten sind die Punkte „2.3 Heroische Stoffe“ (Emma und Eginhard, Kudrun, Nibelungen, Wieland der Schmied) und „2.4 Höfische Stoffe“ (Artus, Aucassin und Nicolette, Lancelot, Lohengrin, Merlin, Parzival und Tristan). Aber auch die Ausführungen unter „2.5 Legendarische Stoffe“ (Der arme Heinrich, St. Franziskus von Assisi, Genoveva) und „2.6 Märchen- und sagenhafte Stoffe“ (Melusine, Turandot, Undine) sind ungemein aufschlussreich und ein pures Lesevergnügen, was man von rein wissenschaftlichen Publikationen sonst nicht immer behaupten kann. Auch als auf diesem Gebiet bewanderte(r) Leser*in erfährt man in jedem Beitrag etwas Neues.

Es fällt schwer, auszuwählen aus dieser Informationsfülle. Selten enthusiasmiert eine Neuerscheinung so sehr wie diese. Den Beitragenden ist für die bereichernden Stunden, die die Lektüre dieses Handbuchs beschert, zu danken. Jede(r) Mediävist*in weiß etwa um Wagners Versionen der Tristan- und Parzival-Dichtungen. Was aber wohl nicht viele wissen: „Der auch als Komponist tätige Wagner-Dirigent Felix Mottl reiht sich mit seiner Agnes Bernauer in eine Fülle von Mittelalter-Opern ein, die in der ‚deutschtümelnd[en] und chauvinistisch[en]‘ Nachfolge Wagners gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstanden sind. […] Mottls Frauenbild ist in der Zeit des Fin de siècle, die allmählich neuen Frauentypen (Femme fatale, Femme fragile) den Vorzug gibt, noch ganz dem Wagnerschen Erlösungstypus verhaftet.“ Anschließend werden Mottls Quellen analysiert. Die „kaum zu überschätzende Strahlkraft der mediävalen Musikdramen Richard Wagners“ wird trotz allem absolut adäquat problematisiert: „Roselius’ Gudrun bildet damit gewissermaßen den Schlusspunkt einer Tendenz zur nationalromantischen und nicht selten faschistoiden Ausdeutung des mittelalterlichen Epos.“ Wir erinnern uns: 1984 sah sich Herbert Rosendorfer in seinem Der Traum des Intendanten: Gedanken zur Musik veranlasst, dieses Werk Wagners zu dedizieren: „zugedacht in herzlicher Abneigung.“

Besonders erfreulich ist in diesem Kontext auch die Vorstellung des Komponisten Walter Braunfels (1882–1954), dessen Der Traum ein Leben am 24. Mai 2001 am Theater Regensburg szenisch uraufgeführt wurde (unter der Leitung von Guido Johannes Rumstadt mit der großartigen Sally du Randt als Mirza/Gülnare). Im Handbuch geht es um seine Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna. Auch Peter Tschaikowsky widmete sich der französischen Jungfrau ebenso wie Viktor Ullmann, wobei das Werk des zuletzt Genannten tragischerweise unvollendet bleiben musste, „weil er nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde“. Eine weitere Vertonung stammt von Nicola Vaccai, der Gesangsstudierenden vor allem wegen seines Metodo Pratico (di Canto Italiano) ein Begriff ist.

Wenn man sich Georg Friedrich Händels Alcina fünfmal im Theater anschaute, ist es natürlich in besonderem Maße spannend, herauszufinden, welche weiteren Komponisten Ludovico Ariostos Epos noch vertont haben und welcher Libretti sie sich dabei bedienten. Unweigerlich hofft man auf abenteuerfreudige Theaterleute, die Raritäten ausgraben und auf die Bretter bringen mögen. Schließlich will man ja auch nicht immer nur Giuseppe Verdis Otello erleben, sondern auch hin und wieder die Version Gioachino Rossinis mit drei anspruchsvollen Tenorpartien hören dürfen. Dank Sänger*innen wie Cecilia Bartoli wird der Schleier des Vergessens immer wieder gelüftet und man kommt in den Genuss von Arien oder ganzen Werken, die aus unerfindlichen oder tragischen Gründen lange Zeit nirgendwo präsent waren.

Das vorliegende Buch wird der ausgeprägten Interdisziplinarität gerecht, die Opern naturgemäß eignet. Man wünscht sich, dass seine Leserschaft Menschen aus Wissenschaft und Theaterpraxis gleichermaßen umfassen möge, denn nicht nur ein(e) Dramaturg*in, die/der Inspirationen für einen Text im Programmheft sucht, wird hier fündig, sondern auch jede(r) Germanist*in, jede(r) Musikwissenschaftler*in und jede(r) Sänger*in, der/dem der Sinn nach einer Repertoireerweiterung steht. Allein die Titelpartie des bereits erwähnten Hans Heiling ist eine wundervolle Baritonrolle, aber im Handbuch erfährt man, dass Guilbert aus Der Templer und die Jüdin ebenfalls eine Partie ist, die einen Studienauftrag lohnt. Und Marschner ist beileibe nicht der Einzige, der eine Ivanhoe-Oper komponierte.

Obwohl angekündigt wird, dass es weniger um die musikalischen Aspekte der vorgestellten Werke gehen wird, finden sich immer wieder erhellende Kommentare zu diesem Thema: „Die weiblichen Hauptpartien Undine und Berthalda, zwei Soprane lyrischen Typs, verkörpern zwar dramaturgisch ausgeprägte Gegenwelten, nicht jedoch musikalisch“ – was in der Tat höchst ungewöhnlich ist. Man denkt unweigerlich beispielsweise an Giacomo Puccinis Edgar, wo Tigranas tiefsamtiger Mezzosopran auch musikalisch doch sehr deutlich von Fidelias reinen Sopransphären differiert, um den Kontrast zwischen den beiden Frauenfiguren so stark wie möglich zu akzentuieren.

Ungeahnte Schmankerl in diesem Buch sind zudem bestimmte Wörter, die selten bis gar nicht in vergleichbaren Werken auftauchen: „unmetastasianisch“, „perzipierbar“, „Auratisierung“, „Dekuvrierung“, „tristanesk“, „depraviert“, „insipide“, „attrahieren“, „Desavouierung“ et cetera. Gerade bei der Lektüre von Norbert Abels’ auch inhaltlich beeindruckendem Merlin-Beitrag kommt man aufgrund der stilistischen Gestaltung nicht aus dem Schmunzeln heraus.

Man muss schon sehr angestrengt suchen, um das eine oder andere kleine Manko zu finden. Beispielsweise wird das Übersetzen nicht einheitlich gehandhabt, wobei sich die Frage aufdrängt, ob man kurze italienische Zitate für Opernenthusiast*innen wirklich überhaupt ins Deutsche bringen muss. Ein weiterer Wermutstropfen ist der Schluss von Tina Hartmanns Artikel über die Kreuzzüge: „Denn zum Gefolge der Kreuzfahrer gehörten nicht nur Wäscherinnen und Prostituierte, sondern auch viele Ehefrauen und Kinder.“ Dies gemahnt unangenehm an die Dichotomie Hure-Heilige, die ja nicht unbedingt evoziert werden müsste.

Es ist ungewöhnlich, an einem über 600 Seiten starken Band (inklusive Register und Literaturverzeichnis) so wenig kritisieren zu können, und das ist erfreulich. Insofern lohnt sich ein Blick in dieses Werk auf jeden Fall, allein schon, um die Zeit zu überbrücken, bis die aktuellen restriktiven Maßnahmen ganz aufgehoben sind, damit wir alle wieder in den Genuss von Live-Opernaufführungen kommen können – auch und gerade solcher Werke, die wir nicht schon mehrmals gehört, gesehen oder gestreamt haben.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christian Buhr / Michael Waltenberger / Bernd Zegowitz (Hg.): Mittelalterrezeption im Musiktheater. Ein stoffgeschichtliches Handbuch.
De Gruyter, Berlin 2020.
550 Seiten , 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110426106

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