Himmelsdichtung

Zum Tod der großen Poetin und Sprachkünstlerin Friederike Mayröcker am 4. Juni 2021

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Erst vor einem Jahr hat Friederike Mayröcker, die nur schreiben wollte, schreiben bis ins hohe Alter hinein, ihren letzten großartigen Band mit Texten veröffentlicht: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Der sprachlich kunstvolle Titel verweist darauf, dass Schreiben auch ein Schauen ist und aus Beobachtungen entsteht. Über ihr Schreiben am Morgen, unmittelbar nach dem Aufwachen, hat sich Mayröcker oft geäußert. Der Morgen beflügelte ihre Kreativität. So konnte sie ihre Träume der Nacht verarbeiten und die Entwürfe des vorangegangenen Tages fortführen. Die Morgenstunden vor allem – moosgrün verweist drauf – gaben ihr die physische und psychische Kraft zu schreiben.

Den Blick aus dem Fenster kennen Mayröckers Leserinnen und Leser aus den Vogel Greif-Gedichten und den vielen Veröffentlichungen davor und seither. Es ist ein poetisches Bild dafür, wie die Dichterin mit der Welt außerhalb ihres engen Lebenskreises Kontakt sucht. Der Blick aus dem Fenster öffnet zwar nur einen kleinen Wirklichkeitsausschnitt, ist aber eigentlich mehr als alles andere ein Blick in das Innere der Betrachterin selbst. Dort, in ihrer Sicht über die Welt und das Leben, entstanden die Gefühle und Gedanken, die sie, Sprachmagierin, die sie war, in bis dahin nie gehörte und nie gelesene Sprachbilder von einzigartiger Kraft und Schönheit „übersetzte“. Der Blick „hinaus“ erschließt einen weiten Raum: die Gegenwart, die in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden ist, aber immer noch intensiv wahrgenommen wurde, und die Vergangenheit, die sich zu einem unerschöpflichen Reservoir an Erinnerungen ausgeweitet hat.

Davon leben Mayröckers Bücher: Ort und Zeit bekommen in ihren Texten eine neue Bedeutung. Sie werden spielerisch überwunden und – ein poetisches Wunder – neu zusammengefügt, so dass sich vor den Lesern ein ganzes Leben entfaltet mit all seinen Höhen und Tiefen, krummen und geraden Linien, mit all seinen Abwegen und Verzweigungen, facettenreich, unerschöpflich und aufregend-spannend. Ihre vielen Bücher lassen die Leserinnen und Leser an der Fülle und dem Reichtum dieses Lebens teilnehmen: an den Erlebnissen der Kindheit, dem vertrauensvollen Verhältnis zu den längst verstorbenen Eltern, vor allem zur Mutter, an ihren Reisen und Bekanntschaften, an ihrer Liebe zur Musik und zur Malerei und natürlich zu Büchern und – das mehr als alles andere – an der unauslöschlichen Liebe zu dem Freund von einst, Ernst Jandl. In den über achtzig Jahren ihres Lebens als Schriftstellerin entstand ein dichterisches Werk, das seinesgleichen sucht: Prosa, Lyrik, Kinderbücher, Opernlibretti, Hörspiele, Essays und viele Texte, die zwischen Prosa und Lyrik changierend ein ganz eigenes, ein Mayröcker’sches Textgenre begründet haben.

Mayröcker schrieb über ihre Welt: über die Natur, über Familie und Freunde, über die Liebe, die Freuden des Lebens, über ihr Dichten und die Kräfte, die sie dazu antreiben, aber auch über die Kehrseite dieser Welt, die Abschiede von geliebten Menschen, die Einsamkeit, das Altern, die Beschwernisse beim Schreiben und über den Tod. Es ist eine dem Leben abgelauschte Dichtung. Sie verwandelt Wirklichkeit in Poesie.

Die Dichterin hat ihre Texte einmal als „murmelnde Literatur“ bezeichnet. Eine solche Literatur fordert Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen, die Bemühung des Lesers, sie zu verstehen, seine Sorgfalt im Umgang mit ihrer „Verletzbarkeit“ und Brüchigkeit. Sie kommt eher unaufdringlich daher, mit leiseren Tönen, ruhig und unaufgeregt selbstverständlich.

Mayröckers „murmelnde“ Literatur spricht die Leser nicht so sehr über eine Handlung oder eine Geschichte an, sondern vor allem über die Sprache: über Bilder, die Komposition des Textes, den Schreibstil, den Sprachrhythmus und Sprachfluss. Das macht die Lektüre ihrer Werke zu einem Leseerlebnis; die Texte sind dann in der Tat „beste Nahrung für die vertrocknete Seele“, wie es der österreichische Schriftsteller und Mayröckers Freund Bodo Hell einmal ausgedrückt hat.

Der kolumbianische Erzähler Gabriel García Márquez hat seiner Autographie den Satz vorangestellt: „Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ Der Satz gilt für Friederike Mayröcker in besonderem Maße. Mayröcker hatte keine aufregende Biographie außerhalb ihres Schreibens. Sie spricht manchmal von ihrer „Biographielosigkeit“: „Ich wollte, dass die Menschen, die meine Bücher lesen, nur auf das Werk zielen und nicht nachforschen, wie mein Leben verlaufen ist. Ich wollte verschwinden hinter meinem Werk…“ (KulturSPIEGEL 1/2015). Das Schreiben erst machte ihr Leben einzigartig, auch und vor allem weil es aus einer Flut von Erinnerungen an ein überreiches Leben schöpfen konnte.

„das Monströse des Todes, die Ungeheuerlichkeit, das Skandalon Tod“ (brütt oder die seufzenden Gärten)

Der Tod hat Friederike Mayröcker in unterschiedlicher Intensität ihr ganzes Schreibleben lang beschäftigt. Schon in den ersten beiden Texten ihrer Gesammelten Gedichte, 2004 von Marcel Beyer herausgegeben, taucht dieses Motiv auf. Auch der Text Dreizeiler, der sich an Goethes berühmtes Gedicht Wanderers Nachtlied anlehnt, greift das Motiv auf. Ähnlich wie dort geht es auch hier in schlichten Worten um den Tod, um das Werden und Vergehen in der Natur. Der Fliederbusch, eine Reminiszenz an den Innenhof des Hauses ihrer Großeltern in Deinzendorf, steht für ständigen Wandel. Er symbolisiert für die Autorin die Umwandlung des Menschen in Natur und deutet voraus auf ihr eigenes Ende:

Dreizeiler am 21.2.1978

es sprieszen immerfort die sanften
Toten aus Blumen Baum Gebüsch und Wald / bald
meinen Schatten wirft ein Fliederbaum

Der Tod ihrer Eltern in den 1990er Jahren hat Mayröcker tief berührt; in vielen Gedichten spricht sie von ihnen. Erschütternder noch und schmerzlicher als deren Verlust war für sie aber der Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl. Er stirbt am 9. Juni 2000 in Wien nach langer Krankheit an Herzversagen. Sein Tod hat sie in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Durch die Texte, die seit 2000 entstanden sind, ziehen sich die Klage um seinen Tod und die unendliche Trauer darüber als wiederkehrende Motive. Viele Texte, ganz ausdrücklich das Buch Requiem für Ernst Jandl (2001), sind dem Freund und Geliebten gewidmet und in noch mehr Texten ist er, oft mit dem Kürzel EJ oder dem liebkosenden Wort Ely/Elie oder mit dem einfachen „Du“, präsent. Vor allem aber sind der schmerzerfüllte Ton und die tiefe Melancholie, die Mayröckers Dichtung eigen sind, in dem Verlust des Lebensgefährten begründet. Mit seinem Tod wird der Tod auch in Mayröckers Leben zu einem überdeutlichen Menetekel.

Das folgende Gedicht, das am 21. Mai 2003 entstand, handelt von der Liebe und dem Schmerz des endgültigen Abschieds.

WÜRDE ALLES TUN FÜR DICH WENN
du nur lebtest!
als erstes würden wir zur Albertina,
ins Museumscafé dann zum FELDHASEN, 1 Blick
in dein Auge würde mir sagen ob du müde
bist oder ob es noch weitergeht. Weinen
würden wir trotzdem oft, weil
der Abschied noch vor uns läge –

Für Liebe und Abschied steht das Wort „Weinen“. Es drückt den Schmerz über den Verlust des Geliebten und die Angst vor einem Leben in der Einsamkeit aus. Und natürlich steckt in dem Wort auch das Wissen um das unabwendbare eigene Ende. „Weinen“ ist die Haltung verzweifelter Hilflosigkeit im Angesicht des vergehenden Lebens. Es ist kein Aufbäumen dagegen, sondern ein Sich-Fügen, ein Hinnehmen des Unabänderlichen, eine Akzeptanz der Unausweichlichkeit des Todes. Es drückt letztlich die Erfahrung der Flüchtigkeit des Glücks aus und legt den Schleier der Melancholie über das Leben.

Wie eng für die Dichterin Leben und Tod verbunden sind, zeigt das Gedicht Guten Morgen, das 1957 oder 1958 entstand. Die Schönheit der Natur und der Tod schließen einander nicht nur nicht aus, sondern gehören für die damals Dreiundreißigjährige wie selbstverständlich zusammen. Die Geste, mit der das Ich den Zweig in das Grab hinein-„biegt“, erinnert an die Geste, mit der Liebende sich Rosenzweige reichen. Die Schlusszeile enthält einen Anflug von Todessehnsucht.

Guten Morgen

guter Rosenbusch
mit meinem langen Arm
biege ich deinen schönsten Zweign
zu mir ins Grab

Trotz ihres hohen Alters war Mayröcker auch in den letzten Jahren noch zu erstaunlichen dichterischen Leistungen fähig. Bis in die letzten Tage ihres langen Lebens füllten Schreiben und die sorgfältige Überarbeitung des Geschriebenen ihren Alltag aus. Wenn man die Vielzahl der Veröffentlichungen allein seit 2000 betrachtet – es sind über zwanzig Publikationen –, kann man darüber nur staunen. Mayröckers Leben war Schreiben, und es war für sie eine besondere Fügung, dass es ihr so lang in diesem Maße, mit dieser Intensität und diesem sprachlichen Vermögen und Erfolg gelungen ist.

Aber natürlich spürte sie das Alter. Seit Jahrzehnten setzte sie sich in ihren Büchern damit auseinander, meist in einer schonungslos offenen Sprache, die immer wieder die eigene zunehmende Gebrechlichkeit beschreibt. Schon in brütt (1998) stehen Sätze, die sich mit der Erscheinung eines alternden Menschen auseinandersetzen:

Und was das Altern betrifft : nämlich daß hineingegriffen worden war in dieses Gesicht, in dieses mein Altersgesicht, ich glaube die Zeit habe hineingegriffen und ihre Spuren in ihm zurückgelassen, die düsteren Nischen der eingesunkenen Augen, die schlaffen Wangen : senile Bäckchen : Beutelchen eines Kleinkindes, aber heruntergerutscht in die untere Hälfte des Gesichtes, greisenhaft häßlich, clownesk, die vertrackten Nervenbahnen, die gemergelten Füße, der faltenverschnürte Leib.

Diesem scharfen unverfälschten Blick auf den eigenen Körper, der nicht vor der selbstentblößenden Darstellung von Altersgebrechen zurückschreckt, begegnet der Leser in zahlreichen Texten.

Die Einsicht in den tragischen Zusammenhang zwischen dem Versuch, etwas zu schaffen und zu gestalten, und der Hilflosigkeit gegenüber dessen „Zerstörbarkeit“ begleitet Mayröcker ihr ganzes Leben lang. Sie ist der Grund für die melancholische Grundstimmung ihres Schreibens. Dafür ist das Gedicht Alpensprache Rohrmoos, entstanden 2003, ein Beispiel. In dem Dorf Rohrmoos in der Schladminger Alpenregion verbrachten Mayröcker und Jandl, vor allem in den 1980er Jahren, Sommer für Sommer ihren Urlaub. In dem Gedicht ist dieser biografische Umstand nebensächlich. Rohrmoos wird zu einem Bild der Nähe und Vertrautheit zweier Liebender und gleichzeitig zu einem Ort tiefer Trauer, weil er, gerade wegen seiner besonderen Atmosphäre, den Liebenden die Endlichkeit und Begrenztheit ihrer Liebe eindrücklicher als jeder andere Ort bewusst macht. Die Liebe lässt sie ihr nahendes Lebensende als besonders schmerzlich erleben. Alpensprache Rohrmoos ist ein Liebesgedicht voller Innigkeit und gleichzeitig voller Trauer. Die überraschende Zeitform des Präsens in „setzen“ in der Schlusszeile gibt dem Gedicht eine über den Moment des Erinnerns hinausgehende Bedeutung:

damals im Gebirge August waren die Abende kühl aber
unsere Seelen brannten zählten nachts die Sterne am Himmel erkannten
den Groszen und Kleinen Wagen Kassiopeia und Venus schliefen
einander in Armen haltend am Morgen die bloszen
Füsze im Tau gebadet flügelschlagende
Wälder. Manchmal ins Städtchen hinunter um Honig zu holen Stifte
Papier und Wein zirpende Andacht. Wir
setzen uns mit Tränen nieder denn unser Leben war zu kurz

Jahre später stehen am Ende des Buches ich bin in der Anstalt (2010) ähnlich resignative Sätze über die Flüchtigkeit des Lebens: „ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der Reise sei nahe“.

Mayröckers Dichten wird im Alter mehr und mehr ein Schreiben gegen den Tod. Es ist der Versuch, mit Hilfe der Sprache dem Tod das entgegenzusetzen, was ihn vielleicht bannen, auf jeden Fall überdauern kann, nämlich Sprachkunst. Die vielen Namen und Bilder für den Tod lesen sich manchmal wie Beschwörungsformeln; als wollte sie mit Sprachmagie dem Tod zu Leibe rücken, sich von ihm befreien, ihn stellen und für immer bannen. So heißt es in dem Gedicht für Ernst Jandl (18. März 1990):

der Tod sage ich
diese vertrackte Haarnadelkurve eine Frivolität eine Verdammung sage ich

Und in brütt nennt sie den Tod den „Jenseitsvogel“, der seine Füße auf ihren „gebeugten Rücken“ setzt. Sie hadert mit ihm und scheut nicht vor wilden Beschimpfungen zurück: „ich küsse den Tod : ich hasse den Tod, ich verpasse ihm den TODESKUSS, es ist 1 Unrecht 1 Frevel 1 Skandal, daß es den Tod gibt“. Ein paar Zeilen später schreibt sie:

voller Wut und Verwilderung bin ich, angesichts dieser Ausweglosigkeit des eigenen Todes […]

Daß wir uns, daß wir einander, du und ich […] einmal alle verlassen (aufgeben) müssen, ist wohl der ärgste Mißgriff, der schlimmste Hohn, der grimmigste Fehler in der sogenannten Schöpfungsgeschichte.

In Requiem für Ernst Jandl (2001) bedenkt sie den Tod ebenfalls mit Schimpf und Schmäh: „jammervoll ist der Tod, erbärmlich ist der Tod, viele Schmählichkeiten sind der Tod, 1 Zerbrecher und Verstörer ist der Tod“.

Und einmal schreibt sie in einer fast frivolen Weise vom Tod, in der die Verzweiflung über das unausweichliche Ende scharf zum Ausdruck kommt: „Dort hinten hinter mir da hockt die grosze Angst: Schmachtlocke Tod“ (dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif).

Mit jeder Veröffentlichung in den letzten Jahren wird diese Auseinandersetzung mit dem „Jenseitsvogel“ aggressiver und verzweifelter. Mayröckers Unverständnis für die Endlichkeit des Menschen schlägt sich zuweilen in bizarren Formulierungen sowohl in ihren Texten wie auch in Interviews nieder. So sagt sie 2008 in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau auf die Frage, ob sie sich je mit dem Tod versöhnen könne: „Nein, nein. Der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herabsetzung des menschlichen Lebens. Und der große Stachel des Todes ist, dass man nicht weiß, wohin es geht.“

Und dennoch findet sie Trost. In berührender Weise wendete sie sich an den Geliebten von einst und beschwört und erfleht dessen Nähe in der Stunde des Sterbens: „Du hilfst mir, sage ich, du mein Behüter, wir helfen uns wechselseitig beim Sterben, nicht wahr, du wirst da sein, wenn ich rufe nach dir, sage ich zu Ernst Jandl aber du fehlst mir sehr, wie du mir gefehlt haben wirst, usw.“ (Magische Blätter VI, 2007) 

„wie lieb ich sie, wie lieb ich diese Erde diesen Mond wie WUNDERBAR / dies Leben diese Prozession der Jahre und Jahrzehnte, so fange ich / erst jetzt zu leben an zu lieben.“ (dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif)

Die äußere Welt der großen Dichterin Friederike Mayröcker war in den letzten vielen Jahren auf wenige Räume zusammengeschrumpft, auf ihre „Schreibkammer“, auf die Küche ihrer Wohnung, den „Krankensaal“ oder ein Café in Wien. In ihrem hochbetagten Leben geschah, wenn man darunter die üblichen Ereignisse versteht, vielleicht nicht mehr viel. Aber das war für ihr Schreiben letztlich belanglos. Wichtig für sie war allein „die Erzählung v.Worten nicht die Erzählung v.Handlung“.

Diese Welt aus Worten, die poetische Welt, die sie in ihren Büchern entstehen lässt, sprengt alle zeitlichen und räumlichen Grenzen und kann gar nicht in fortlaufenden Geschichten, die einen Anfang nehmen und ein Ende haben, dargestellt werden. Ihre Texte lassen sich nicht in einen zeitlich-räumlichen Rahmen oder ein Handlungsgerüst spannen. Ihre Sprache, die wie ein Gedankenstrom unaufhörlich fließt, lässt sich nicht in vorgeprägte poetische Muster packen. Ihr dichterischer Kosmos ist welthaltiger als viele Texte anderer Autoren.

Mayröckers Dichtung, vor allem die der letzten Jahrzehnte, ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Leben und zur Liebe. Sie preist und feiert in ihrer Dichtung dieses Leben in seiner Einmaligkeit und Schönheit. Ihr gelingen wunderbare Bilder von Vögeln: die Amseln und die Schwalben, die „Feen der Lüfte“, sind ihr wohl besonders ans Herz gewachsen. Und sie beeindruckt mit Bildern von Blumen, die die Sätze über Alter, Verlust, Abschied, verlorene Liebe und Einsamkeit überlagern und verdrängen.

Die Erinnerungen an die frühere Zeit, die Kindheit in Deinzendorf, an ihre Eltern, an Reisen nach Italien zum Beispiel, an Freunde, an Aufenthalte in Cafés und Restaurants und vor allem an ihr Leben mit Ernst Jandl helfen ihr, so scheint es, über den Verlust geliebter Menschen, die Einsamkeit und über die Beschwernisse des Alters hinweg.

Der Verlust, sagt Blum, der Verlust eines so nahen Freundes, eines HAND- und HERZGEFÄHRTEN, ist etwas ganz und gar erschütterndes, aber im Grunde muß man sich sagen, vielleicht im Grunde kann man sich sagen (und damit schon JETZT, also im vorhinein Trost zusprechen), daß man ja weiter, mit diesem LEBENS- und LIEBES- und HERZ GEFÄHRTEN weiterspricht, nämlich weiter Gespräche führen kann, und dann auch die Antworten erwarten darf von ihm, der uns vorausgegangen ist in diesen unbekannten unerkennbaren Bereich.
(brütt; auch Requiem für Ernst Jandl)

Mayröckers Dichtung ist eine Feier des Lebens und der Liebe. Ernst Jandl ist die wichtigste Figur, die in der Erinnerung liebevollst „zum Leben erweckt wird“. Das „Gespräch“ zwischen Friederike Mayröcker und Ernst Jandl hat nach 2000, seinem Todesjahr, niemals aufgehört, es ging wie selbstverständlich weiter. Es ist ein großes Liebesgespräch, voller Schmerzen und Melancholie manchmal, voller Freude aber auch über die gemeinsamen Jahre und Erlebnisse und voller Dank für die Erinnerungen daran. Sie halfen immer wieder, das Gesicht des Todes zurückzuweisen und zu verwischen, den „Todesvogel“ vor dem Fenster zu ignorieren.

In einer großen Zahl von Texten wird die liebevolle Nähe zwischen Friederike Mayröcker und Ernst Jandl in berührender Weise dargestellt. – Ein Gedicht, das am 22. Juli 1995 zu Jandls 70. Geburtstag entstand, trägt den Titel wie und warum ich dich liebe:

wenn du es bist bin ich nicht sicher ob ich es bin
was dich bedroht ist bedrohlich für mich
der Spiegel in den ich blicke an jedem Abend
hält mir gleichzeitig entgegen dein Bildnis und meines
das Geheimnis im Dunkel deines Herzens ist nicht
um von irgendjemandem gelüftet zu werden
es zieht mich an am gründlichsten und am tiefsten
und ist vermutlich das Motiv meiner unbeirrbaren Liebe

Mayröckers Stärke sind immer wieder auch schlichte Gedichte, manchmal, wie in diesem Fall, Gedichte, die einen volksliedhaften Ton anschlagen und alltägliche Dinge oder Vorgänge aufzählen, die aber hinter der Oberfläche dennoch nichts vereinfachen. In dem Gedicht zu Jandls 70. Geburtstag lassen die vier letzten Zeilen aufhorchen. Sie scheinen nicht ganz zum Anfang zu passen, der die Identität des Ich mit dem Du betont und an Beispielen vorführt. Man kann sich durchaus fragen, ob nicht gerade Geheimnisse etwas Trennendes zwischen Menschen, die sich nahestehen, darstellen. Mayröcker wirft einen anderen Blick darauf. Für sie liegt darin das Geheimnis ihrer Liebe. Das „Dunkel des Herzens“ zeichnet den anderen aus, macht ihn einmalig und in besonderer Weise liebenswert, gibt ihm erst die Größe für „unbeirrbare Liebe“. Liebe, so Mayröcker in diesem Text, entsteht dann, wenn der andere so bleiben kann, wie er ist, wenn ihm nichts zugemutet wird, was mit seinem Charakter unvereinbar ist, wenn sein Wesen nicht angetastet wird, wenn der andere die Geheimnisse um das „Dunkel des Herzens“ nicht preiszugeben braucht.

Vielleicht kann man Mayröckers gesamtes dichterisches Werk der letzten Jahrzehnte als eine einzige große Liebesdichtung lesen. Selbst wenn die Erinnerungen langsam, wie sie gelegentlich sagt, verblassen, gibt es bis in ihre letzten Veröffentlichungen hinein berührende Texte, die die große Liebe von einst beschwören und feiern.

Ihre großartige Liebesdichtung gipfelt in Sätzen wie: „Euer Grab liegt in herausragender Umgebung, schreibt Thomas Kling. Wenn ich also mit dem Kopf nach unten begraben werde, wie ich es wünsche, werden wir Mund an Mund liegen, schreibe ich an Thomas Kling, 1 ewigen Kuß küssen, […]“ (Requiem für Ernst Jandl). „1 ewigen Kuß küssen“ – das ist das Bild, in dem Mayröcker und Jandl sich auf magisch-poetische Weise verbinden und eins sind.

Die Lebensfreude, die in Mayröckers Sätzen immer wieder durchbricht und die dichterische Haltung letztlich mehr als alles andere bestimmt, wird spürbar auch in den Bildern von Blumen und Vögeln, über die sie zuweilen in einer wahren Ekstase und tief berührt von deren Schönheit und Anmut schreibt. In Blumen und Vögeln sieht sie die Schönheit des Lebens gespiegelt, die Lebendigkeit, das Einssein mit sich selbst, die reine Daseinsfreunde. Sie stehen für das, was die Menschen ersehnen, aber nur mit Mühen erreichen können. Blumen und Vögel benötigen nicht, wie die Menschen, den Umweg über die Kunst, um Schönheit sichtbar zu machen; sie verkörpern sie. Indem sie Schönheit sind, entfalten sie in Mayröckers Texten die geheimnisvolle Kraft, die Unzulänglichkeiten des Lebens und den Schmerz über den Verlust geliebter Menschen vergessen zu machen, eine Zeit lang wenigstens. Die Lebensfreude, die die Blumen durch ihre Farben und Blütenpracht oder die Vögel durch ihre grazilen Flugbahnen und ihren Gesang ausdrücken, setzt Friederike Mayröcker in Sprache um. Damit wird das, was Vögel und Blumen für die Dichterin bedeuten, auch für die Leser ihrer Texte nachvollziehbar und bedeutsam.

Blumen und Vögel sind ein Mittel, über schlimme Erfahrungen und seelische Belastungen hinwegzukommen, da sie diesen mit der Schönheit und dem Leben der Natur etwas Positives entgegensetzen kann. Darüber hinaus entdeckt Mayröcker in ihnen auch so etwas wie ein sprachliches und dichterisches Prinzip, das vielleicht mit Einfachheit, Leichtigkeit, Buntheit, Vielfalt, Bildhaftigkeit und Ausdrucksstärke beschrieben werden kann. Ein Buchtitel wie Pathos und Schwalbe (2018) ist nach diesem Verständnis beinahe ein Schreibprogramm. Er kann so interpretiert werden, dass Dichtkunst entsteht, wenn der kreative Schreibschub in eine vogelflugartige Leichtigkeit, ja Schwerelosigkeit und „Luftigkeit“ hinübergeführt, in eine „Schwalbensprache“ übersetzt wird, wenn Schreib-Leidenschaft und Poesie wie selbstverständlich zusammenkommen. Dann wird aus dem Wahrgenommenen Poesie, aus der Wirklichkeit Dichtung, aus dem Ding das Bild. Es ist die „Übersetzung“ eines einmaligen Vorgangs, der sich verändert und vergeht, in dichterische Sprache, immer gültig und für alle verständlich. Letztlich offenbart es den magischen Charakter dichterischen Schreibens.

Es gibt noch etwas in Mayröckers Leben, das ihr viel bedeutet und ihr Leben auch im hohen Alter glücklich macht: das Schreiben selbst. Der Zusammenhang zwischen Schreiben und Glück wird an vielen Stellen ihres Werks beschrieben. Lebensfreude schöpft sie aus ihrer dichterischen Kreativität und ihrer Willenskraft zu schreiben und zu veröffentlichen.

Auch im hohen Alter sind die Sätze voller Lebensfreude aus ihrem Werk nicht verschwunden. Im Gegenteil: Fast noch enthusiastischer schreibt sie in einem Gedicht vom 15. Oktober 2008:

[…] was für 1 Wunder dasz ich lebe leben darf vielleicht noch 1
Tag 1 Jahr noch 1 Atemzug, die Blüten süsz in ihrer Heimlichkeit —
wie lieb ich sie, wie lieb ich diese Erde diesen Mond wie WUNDERBAR
dies Leben diese Prozession der Jahre und Jahrzehnte, so fange ich
erst jetzt zu leben an zu lieben.

Keine Dichterin könnte mit faszinierenderen Worten über das Leben schreiben. Aber die Wucht des Textes erfährt der Leser erst, wenn er das ganze Gedicht liest. Denn es endet nicht mit dem Wort „lieben“. Mayröcker weiß, was Leben bedeutet. Sie schließt deshalb eine verstörende Zeile an, die der Leser nicht so schnell vergisst: „Dort hinten hinter mir da hockt die grosze Angst : Schmachtlocke Tod“.

Mayröcker schreibt schwelgerisch über das Leben und feiert es enthusiastisch und ersinnt gleichzeitig das Bild der Schlusszeile. Sie scheut sich nicht, das Wort „Schmachtlocke Tod“ mit „die Blüten süsz in ihrer Heimlichkeit“ in einem Text zu verbinden. In der Zusammenschau des einen mit dem anderen erst kommen die Einmaligkeit und die Komplexität des Lebens zum Ausdruck. Je näher der Tod ist, umso wunderbarer erscheint das Leben.

„verwehte Spuren, von Vogelfüßen, […] unser ganzes Leben verwehte Spuren von Vogeltritten“ (brütt)

Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. Sie war die Tochter eines Lehrers und einer Modistin. Zu beiden Eltern hatte sie zeitlebens ein enges Verhältnis. Viele Sommermonate ihrer Kindheit verbringt sie in Deinzendorf, einem kleinen Ort in der österreichischen Region Weinviertel, der bei ihr einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt und oft als „D.“ in ihren Erinnerungstexten auftaucht.

In der Rückschau wird „D.“ zu einem Ort des Glücks, der Geborgenheit und der Liebe:

(Fasanen und Schwalben in D., damals,
das rasende Bächlein wo Vater mir einen,
Weidenstock / Wanderstab schnitzte. Im
Waldesschatten, weiszt du, ich sah’s auf
einer alten Fotografie, mit Mutter und
Donnerblümchen. Lusthäuschen, Erdbeeren
im Gras, pustend Löwenzahn….. oh…..
lauter Schwalben sah ich in deinen Augen,),
(fleurs)

Schwalben, vielleicht Mayröckers Lieblingsvögel, sind Zeichen dieser Harmonie und Idylle. Bilder mit Schwalben, die die ländliche Idylle verkörpern, kommen in vielen anderen Texten vor. Ein 2018 veröffentlichter Prosaband trägt den Titel Pathos und Schwalbe. Schwalben sind für Mayröcker Vögel der Luftigkeit und Leichtigkeit, der Grazie und Unbeschwertheit, der „Unendlichkeit“. Sie findet überraschende poetische Bilder für sie und nennt sie (in ich sitze nur GRAUSAM da) „Freunde des Himmels und der Erde“ und „flüchtige flitzende Freunde, huschende Himmelswunder“. Es sind für sie auch Vögel der Liebe; sie evozieren immer wieder die Erinnerung an ihre große Liebe zu Ernst Jandl.

Das Haus der Mayröckers in Wien wird während des Krieges bombardiert. Die Familie muss eine andere Wohnung suchen und kommt im Haus eines Kollegen des Vaters unter. Mayröcker erinnert sich, dass sie oft gehungert hätten, die Mutter hamstern gegangen sei und die Wohnverhältnisse sehr beengt gewesen seien, dass sie aber auch in der Bibliothek des Kollegen ihres Vaters viele Bücher, vor allem Kunstbücher, entdeckt und mit Begeisterung gelesen habe.

Sie räumt in der Rückschau ein, dass sie damals unpolitisch gewesen sei, und gesteht freimütig, dass sich diese unpolitische Haltung bis in die Gegenwart hinein nicht wesentlich verändert habe. In ihren Texten gibt es nur wenige Stellen, die von gesellschaftlichen oder politischen Themen handeln. Politisches Tagesgeschehen scheint für sie etwas zu sein, das Poesie entgegensteht und von dieser nur schwerlich in ein Sprachkunstwerk umgewandelt werden kann.

Mayröcker arbeitet nach der Matura und ihrem Studium über zwanzig Jahre als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Schulen. Diese Tätigkeit, die sie 1969 schließlich aufgibt, muss für sie belastend gewesen sein. Selbst als Neunzigjährige kann sie dem ehemaligen Beruf keine schönen Seiten abgewinnen: „Ich hab eine Staatsprüfung in Englisch gemacht und dann an einer Hauptschule unterrichtet, 23 Jahre lang, ohne Lust, ohne Freude, es war halsschnürend, eine Qual“ (KulturSPIEGEL 1/2015).

Sehr früh beginnt sie zu schreiben. Die 2004 von dem Freund Marcel Beyer herausgegebenen Gesammelten Gedichte drucken als erste Texte August und Oktober ab, als deren Entstehungsjahr 1939 angegeben wird, Gedichte also, die von einer Vierzehnjährigen geschrieben wurden und siebzig Jahre später von der Autorin und dem Herausgeber als gut genug beurteilt werden, eine umfassende Anthologie ihrer Lyrik zu eröffnen. 1946 erscheinen einige ihrer Gedichte in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift Plan. Ihre erste Buchveröffentlichung, Larifari, als Band 18 in der Reihe Neue Dichtung aus Österreich, erfolgt 1956.

Ich habe schon früh das Bedürfnis gehabt zu schreiben, so mit 14, 15 hat das begonnen. Und später, neben meiner Arbeit als Lehrerin, habe ich auch geschrieben, nicht viel und vor allem nicht gut. Das waren die ersten Schritte. 1954 habe ich dann Ernst Jandl kennengelernt, ich war damals verheiratet, mit einem Kollegen, und habe mich scheiden lassen. Ernst und ich – wir haben nie eine gemeinsame Wohnung gehabt, aber ein gemeinsames Ziel: etwas Neues zu machen mit der Sprache.
(KulturSPIEGEL 1/2015)

In den 1950er Jahren arbeitet sie mit Andreas Okopenko zusammen, der sie zu experimentellen literarischen Texten ermutigt. Sie erinnert sich an diese Zeit als ihre „wilden Jahre“ und schlägt, als habe sie sich über die Jahrzehnte nicht verändert, eine Brücke von damals zur Gegenwart: „Wir haben zehn Jahre lang für die Schublade geschrieben. Aber was das Wilde betrifft, habe ich das Gefühl, dass ich jetzt noch wilder bin als damals. Jetzt weiß ich, ich muss mit dem Kopf durch die Wand.“ (Welt Digitalzeitung, 15. Juni 2013)

Sie und Ernst Jandl stehen in ihren gemeinsamen Anfangsjahren auch der Wiener Gruppe nahe, in der sich fortschrittliche Schriftsteller, Musiker und Künstler zusammenschlossen. Die Zusammenarbeit mit ihnen war anregend, aber nicht so intensiv, wie das vielleicht ursprünglich geplant war. Später distanziert sich Mayröcker von dieser experimentellen Periode in ihrem Schriftstellerleben.

Seit den 1960er Jahren erscheinen – zuerst für kurze Zeit bei Rowohlt, dann bei Luchterhand und in den letzten Jahrzehnten bei Suhrkamp – in kurzen Abständen Lyrikbücher, Prosabände, Kinderbücher, Texte für das Theater und Hörspiele, die Friederike Mayröcker als herausragende avantgardistische Schriftstellerin bekannt machen. Bald gilt sie im deutschen Sprachraum als eine der bedeutendsten Dichterinnen der Gegenwart und kann sich, vor allem in den letzten vier Jahrzehnten, einer wachsenden Zahl von Leserinnen und Lesern und zunehmender Anerkennung erfreuen. Die Zahl der Publikationen ist nach fast mehr als acht Jahrzehnten nahezu unüberschaubar geworden: Es sind deutlich über hundert Veröffentlichungen. Friederike Mayröcker erhielt eine Vielzahl bedeutender literarischer Preise. 2001 wird sie – spät zwar, aber schließlich doch – mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Als hochbetagte Schriftstellerin sagt sie in einem Interview – kritische Untertöne sind unüberhörbar – zu Preisen, Anerkennung und Verkaufszahlen ihrer Bücher:

Ich konnte ja selbst nie vom Schreiben leben, kann es heute noch nicht. […] Aber meine Bücher hatten immer kleine Auflagen. Ein paar Tausend pro Buch vielleicht. Genau weiß ich es nicht. Die großen Herren bei Suhrkamp nehmen mich nicht so wahr, der Enzensberger kennt mich, glaube ich, gar nicht. Und gelebt habe ich vor allem von den Preisgeldern. Ich habe viele Preise bekommen.“
(SZ Magazin 37/2012)

Friederike Mayröcker schrieb auch als weit über Neunzigjährige noch und veröffentlichte weiterhin ihre Bücher: ein einmaliges Dichterinnenleben. Am 4. Juni 2021 ist sie im Alter von 96 Jahren gestorben.

„die Welt hat auf mich vergessen“ (Pathos und Schwalbe)

In einem Interview mit der Rheinischen Post (2011) antwortete Friederike Mayröcker auf die Frage nach der Zukunft dessen, was sie geschrieben hat:

Es kommt immer auf die Qualität an. Aber auch dann gilt: Wenn man sehr lange schon und auch viel geschrieben hat, werden es am Ende vielleicht vier oder fünf Gedichte sein, die überleben; mehr nicht. Ich habe viele hundert Gedichte geschrieben, und ich muss damit leben können, dass es wahrscheinlich nur wenige sind, die sich dem Leser auch eingeprägt haben.

In brütt ist die Sicht auf das Überdauern ihrer Texte düsterer:

Und frage mich aber immer wieder, mitten drin, im hingerissenen Schreiben : wohin soll das alles führen, was ist der Zweck dieses Schreibens, nach 1 paar Jahren wird alles vergessen, verloren sein, alle Bücher, die ich geschrieben habe, längst vergriffen, alles, alles verweht, alles vergeblich, jegliche Welle, jeglicher Atemzug, jeglicher Blitzgedanke wie nie gewesen, meine Bücher verramscht, vom Markt verdrängt, ich glaube, es hat mich gar nie gegeben.

Vielleicht drückt sich in diesen Sätzen die größte Angst eines Künstlers aus: vergessen zu werden. Die Kunst ermöglicht es, dass das schöpferische Werk den, der es geschaffen hat, und die Zeit, in der es entstanden ist, überdauert. Dass das vielleicht nicht gelingt, löst tiefsitzende Befürchtungen aus und schürt existentielle Ängste. Diese Ängste sind umso größer, je enger die Verbindung zwischen Leben und Werk einer Künstlerin oder eines Künstlers ist. Bei Friederike Mayröcker ist sie besonders eng. Wenn ihre Werke in Vergessenheit gerieten, bedeutete das für sie den dann wirklich endgültigen „Tod“, über den sie in ihrem Werk so häufig als Schreckensvorstellung, als das dem Leben und der Poesie entgegenstehende Prinzip schlechthin geschrieben hat.

Friederike Mayröcker hat sich früh dafür entschieden, ihr Leben dem Schreiben unterzuordnen. Das erforderte Bescheidung in der Lebensführung und einen Arbeitsalltag, der sich nach nichts als dem Fortgang des Schreibprozesses richtete; sie musste der Versuchung widerstehen, sich zu stark auf die Wirklichkeit einzulassen, in der sie, wie sie einmal in Das Herzzerreißende der Dinge schreibt, in den Gesichtern der Menschen vor allem „die Teilnahmslosigkeit, die Enttäuschung, Mißbilligung, Verachtung, die Verlogenheit- eben das Brachland“ wahrnahm.

Das Leben unter den Menschen als „Brachland“ – von daher ist der Rückzug dorthin, wo sie „Schreiblust“ verspürt und ungestört arbeiten kann, verständlich und notwendig. Die Abkehr von der Wirklichkeit, wie Mayröcker sie verstand, war keine Flucht, sondern ein Schutz, vernünftiges Handeln. Denn aus ihrer Sicht galt es, das Leben so einzurichten, dass Schreiben – das allein zählte – möglich war und gelingen konnte. Ihre Angst, dass ihr Werk einmal weitgehend vergessen sein könnte, erhält vor diesem Hintergrund eine besondere Brisanz. Das Verschwinden des Werks aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bedeutete ja auch, dass ihr Leben, das sich allein in diesem Werk realisiert, vergeblich gewesen wäre.

Dieser beunruhigenden Sicht stehen andere Sätze in ihrem schriftstellerischen Oeuvre gegenüber voller Selbstbewusstsein und Zuversicht, trotz aller Widrigkeiten des Lebens. In brütt stellt sie einmal die Frage, wie man es anstellen könne, „am Leben zu bleiben ewig am Leben zu bleiben“. Mit Versen aus einem Gedicht von Horaz gibt sie eine Antwort, in der das zweimalige „Ich“ in der vorletzten Zeile jeden Zweifel an der Gültigkeit der Antwort beiseite schiebt:

Nicht von abgebrauchter und dünngewordener Schwinge
werde ich mich tragen lassen durch den schimmernden Äther,
ein Sänger in Doppelgestalt und ich werde nicht länger auf
Erden bleiben und entrückt dem Neid
werde ich die Städte unter mir lassen
(..)
Ich, ich werde nicht sterben
und der stygische Fluß wird mich nicht haben.

Mayröcker produzierte in ihren über hundert Veröffentlichungen keinen „BUCHSTABEN SAND“, wie sie die Figur „m“ in ihrem Hörspiel ‚dein Wort ist meines Fußes Leuchte‘ oder : ‚Lied der Trennung‘ (1999) einmal über die eigene Schreibschwäche klagen lässt. Eine solche „zerriebene zerrissene“ und „abgebrauchte“ Sprache würde beim kleinsten Windhauch „verwehen“, ohne Spuren zu hinterlassen. Mayröcker hinterlässt als Dichterin sichtbare Spuren, überdeutliche, unverwischbare, eindrucksvolle, einzigartige: für lange Zeiten.