Bildersturm

Das Wilhelminische Zeitalter als „Aufbruch in die Moderne“ statt als ihr ewiger Hemmschuh? Hedwig Richter macht sich an eine grundlegende Revision des langen 19. Jahrhunderts

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 19. Jahrhundert als Gründungszeit der Moderne, als Zeitalter des Aufbruchs? Hedwig Richter vertritt auf nicht einmal 150, rasch gelesenen Taschenbuchseiten einige starke Thesen: der Nationalismus als Bedingung für die Entwicklung der Demokratie? Der Wandel des Demokratieverständnisses von der männlichen Selbstherrlichkeit zu einem allgemeinen, Geschlechter übergreifenden Recht? Die Wilhelminische Monarchie als reformorientierte Gesellschaft? Die weibliche Emanzipation als Ausdruck der Industrialisierung? Die Abhängigkeit einer funktionierenden Demokratie von einer funktionierenden Bürokratie? Der Engschluss also von Nationalismus, Demokratie, Emanzipation, Rassismus und Antisemitismus? Abschied also vom Untertanenstaat? Um das Unrecht besser verstehen zu können, das in ihn eingeschrieben ist?

Die Brisanz dieser kleinen Schrift Richters wird besonders deutlich, wenn man sich ihres Themas von der anderen Seite nähert, eben nicht von der des modernen 19. Jahrhunderts, sondern von der der stagnierenden, anachronistischen, der oberflächlichen Ära, der ein zugleich hochfahrender wie unfähiger Monarch den Schlussstein gesetzt hat. Der Wilhelminismus überformt das Bild des 19. Jahrhunderts, und die Bilder der untergehenden Monarchie, die sich in den Köpfen festgesetzt haben, machen es fast unmöglich, sich dieses Jahrhundert als modern, fortschrittlich, reformorientiert und dynamisch vor Augen zu führen, wie Hedwig Richter dies überzeugend tut. Dabei hätte eine Formel des Kommunistischen Manifests, das zur Pflichtlektüre des 19. Jahrhunderts gehört, eines Besseren belehren können, hebt es doch auf die permanente und grundlegende destruktive Kraft des Kapitalismus ab, der nichts auslässt, wenn es um seine Durchsetzung geht.

Aber es stehen eben doch andere Bilder im Weg: Zum Beispiel das des Untergangs der kaiserlichen Kamarilla, der Militärdiktatur in der Novemberrevolution, die sich dann mit Dolchstoß und anderem wieder an die Macht zu bringen versuchte. Das auch eines Deutschlands, das sich – wenn man etwa Heinrich Manns Essay Geist und Tat aus dem Jahr 1911 folgt – in der Unterwerfung wohl fühlte. Oder auch etwa das von Heinrich Manns Untertan (1914/18), in dem der Kaiser die Blaupause des üblen Diederich Heßling stellt, der sich, um aufzusteigen, jedes Mittels bedient, das ihm zu Gebote steht. Das Kaiserreich des Untertan ist von devoter Unterwürfigkeit und egozentrischem Despotismus durchzogen. Die Demokratie ist hier nicht eine der Ausdrucksorte der (neuen) Männlichkeit, wie es die frühen Wahlakte wollten, sondern vom „weibischen“ Geschwätz der Parlamente, denen die harte Hand des eben vor allem männlichen Führers fehlt. Der Führer, der dann später folgen würde, musste deshalb auch nicht gewählt werden, sondern wurde in der Mitte des Volkes geboren – naja, in Braunau, so eng will's dann doch keiner gesehen haben.

Oder es tauchen Bilder aus dem entsetzlich langweiligen Roman über die Anarchisten des späten 19. Jahrhunderts von John Henry Mackay auf (1891 erschienen), der seinen anarchistischen Messias Carard Auban durch das übervölkerte London wandern lässt und dabei die Sicht auf die deutschen Verhältnisse klarer macht: die klassische Figur des teilnehmenden Beobachters, der sich seiner Überzeugung mehr als gewiss ist. Nicht aber der politisierte Stirner bleibt als Eindruck hängen, sondern der überwältigte Blick auf das von Armut und Elend gezeichnete Bild der Metropole, die eben ihre Bewohner nicht nährt, sondern im Elend versinken lässt. Das hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Zwar teilt dieser Auban mit den Armutstouristen nichts, die nach Whitechapel fuhren, um das Elend mit eigenen Augen zu sehen. Aber die Bilder, die um 1890 dann eben nicht nur ihre fotografische Reproduktion, sondern auch ihren fiktionalen Wirkungsraum fanden, machen daraus erst das Politikum, das sich mit dem, was gegeben war, nicht zufrieden gab, sondern alles zur Disposition stellte, um aus diesem Jammertal einen, wie es später heißen würde, „besseren Ort“ zu machen – und an diesem Punkt kommt Richters Porträt des langen 19. Jahrhunderts, das in einen katastrophalen Krieg münden würde, ins Spiel.

Denn obwohl sie eigentlich gegen das Bild des 19. Jahrhunderts als autokratische, nationalistische, imperiale und vom Elend der Massen geprägte Ära nichts vorbringen will, zeichnet sie zugleich ein anders, auf den ersten Blick ungewohntes Bild, das dennoch auf altbekannten Gegebenheiten beruht. Denn in ihren Augen ist diese Zeit vor allem von einer ungeheuren Entwicklungsdynamik gekennzeichnet, was jeder wissen kann, der auf Industrialisierung, Urbanisierung, Entwicklung von Medienkulturen und Massengesellschaft blickt. Trotzdem ist der Eindruck, den das wilhelminische Zeitalter bis heute hinterlässt, eher von Langweile, Stagnation und vom kaiserlichen Popanz geprägt als von der Dynamik einer entstehenden Massen- und Industriegesellschaft.

Wenn man Richter folgt, ist dieser Eindruck grundlegend falsch. Sicher, seit den späten 1880er Jahren erlebt das Kaiserreich eine konservative Wende, der Adel hat im Reich erheblichen Einfluss, die Massen leben im Elend, sobald sie sich dagegen zu wehren suchen, stoßen sie auf eine Front etablierter und neuer Mächte, die schnell wachsenden Städte starren vor Dreck und Armut, das Arbeitslosenheer fungiert als Manövriermasse der schnell aufsteigenden Industrien. Der Nationalismus ist zugleich ein Hort von Borniertheit, Selbstbezüglichkeit und Hass.

Und dennoch, so Richter, ist dieses 19. Jahrhundert der „Ursprung der Moderne“, geprägt von einem ungeheuren Reformwillen, der eben nicht nur in der Industriearbeiterschaft seinen Ursprung hatte, sondern auch im aufsteigenden Bürgertum. Die Entstehung der Massengesellschaft ist eng verbunden mit der Industrialisierung, die Entstehung der Demokratie, wie wir sie heute kennen, als parlamentarische, indirekte, durch Parteien gespielte Variante, setzt die Entstehung des Nationalstaates und die eines gesicherten Raumes voraus, dessen Rahmenbedingungen offen genug waren, um zahlreiche, divergierende Bevölkerungsgruppen einzubeziehen und mit anzusprechen. Und – um das noch zu forcieren – eine funktionsfähige Demokratie, die Sicherung von geheimen Wahlen, in denen jeder, unabhängig vom Geschlecht, aber eben abhängig von seiner Staatszugehörigkeit gleichermaßen Stimme hatte, die zählte, fußte nicht minder stark auf einer arbeitsfähigen und professionellen Bürokratie.

Naheliegend steht dieses Wilhelminische Deutschland – trotz seines Monarchen – im internationalen Vergleich nicht schlecht da. Soziale Absicherung, demokratische Rechte, der Beginn der Frauenbewegung, die Konstruktion des Verfassungsstaates, das dem Monarchen enge Grenzen auferlegte, soziale Dynamik und die Anfänge der Massen-, Konsum- und Mediengesellschaft moderner Prägung, eine leistungsfähige Industrie und ein Wissenschaftssystem, das eine enorme Reputation besaß (der man bis heute nachtrauert).

Ein solcher Blick suspendiert nicht die Schattenseiten des Reiches, die nicht zuletzt an die gesellschaftlichen Dynamiken gebunden waren – aber er ergänzt sie um Kontexte, ohne die das Bild vom 19. Jahrhundert bruchstückhaft bliebe. Dabei suspendiert Richter nebenbei sogar die hartnäckige These vom Sonderweg der Deutschen Nation, die durch ihre verspätete Konstitution Reputation nachzuholen hatte, um auf diese Weise auf die Schussbahn zum Ersten Weltkrieg, zum Nationalsozialismus und schließlich auch zum Zweiten Weltkrieg zu geraten. Der Parvenu, der um seine Geltung bangt, macht sich größer als er ist?

Folgt man Richters Thesen, bleibt davon wenig. Die Konstitution des NS-Regimes bleibt zwar immer noch eine Konsequenz der Entwicklung des modernen Deutschlands, ja der Nationalsozialismus war offensichtlich ein Phänomen der Moderne, aber damit ist weder das 19. noch das beginnende 20. Jahrhundert abgetan. Ganz im Gegenteil, gerade aus der hohen und sich stetig steigernden Dynamik der Modernisierung seit Beginn des 19. Jahrhunderts erklären sich viele der politisch und moralisch zweifelhaften Entwicklungen, aber auch offensichtliche Fortschritte und Besserungen. Einen Rollback zu den vorindustriellen Verhältnissen kann nur jemand fordern, der in ihnen entweder privilegiert wäre oder sie nicht genau genug kennt. Die Errungenschaften, die mit dem Aufbruch in die Moderne verbunden sind, werden dabei zwar nicht suspendiert, führen aber zu Widersprüchen, die es in sich haben. Sie auszuhalten war dann der Job der Zeitgenossen wie der unmittelbaren Erben dieser Zeit.

Titelbild

Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
175 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127629

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