Verschwinden des Abenteuers in der Moderne?

Der literaturwissenschaftliche Sammelband „Abenteuer in der Moderne“ untersucht den Verbleib abenteuerlicher Erzählmuster seit der Goethezeit

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Faszination für Abenteuer ist auch im 21. Jahrhundert ungebrochen: Versprochen wird das persönliche – und käuflich zu erwerbende – Abenteuer etwa von Erlebnisreiseveranstaltern, Freizeitparks, der Computerspielbranche und in Form von Geschmacksabenteuern. Denkt man jedoch an seriöse moderne Literatur, scheint das Abenteuer verschwunden zu sein: Goethe, Marcel Proust oder Virginia Woolf beispielsweise verdanken ihren Bekanntheitsgrad weniger dem Umstand, dass man mit ihren Namen unvergessliche Abenteuernarrative verbinden würde. Bewährungssituationen angesichts von Widersachern, Naturgewalten oder wilden Tieren assoziiert man vielmehr mit mittelalterlicher âventiure-Dichtung sowie der Populärliteratur. Auch kolonialistische Abenteuerdiskurse vom weißen Mann in fernen Ländern lassen eher einen Wegfall des Abenteuers in der postkolonialen Welt vermuten.

Der von Oliver Grill und Brigitte Obermayr herausgegebene Sammelband Abenteuer in der Moderne konstatiert zunächst eine Abwertung von Abenteuern im deutschen Sprachraum des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In der Spätaufklärung galt das Abenteuer demgemäß als „pathogene Lektüre und überstrapaziertes Erzählschema“, da es den zeitgenössischen Erwartungen an Wahrscheinlichkeit, Fortschritts- und Vernunftorientierung nicht mehr entsprach. Gleichzeitig stellt der Band fest, dass sich „neben dem Topos der Zurückweisung des (populären) Abenteuers immer wieder Verfahren seiner – ironisch oder analytisch distanzierten, häufig auch machtpolitisch instrumentalisierten – Reaktivierung und Aneignung“ etablierten. Ziel der 13 Beiträge des Bands ist es entsprechend, verschiedene Formen, in denen abenteuerliche Erzählmuster in der Moderne weiterbestehen, zu untersuchen. Zurückzuführen ist der Band auf eine Tagung, die im Rahmen der Münchner DFG-Forschungsgruppe Philologie des Abenteuers im Jahr 2019 im Literaturhaus München stattfand.

Geboten werden verschiedene Zugänge, da „es nicht eine Geschichte des Abenteuers in der Moderne gibt, sondern viele.“ Neben poetologischen Erwägungen etwa bei Blanckenburg, Šklovskij und Bachtin liegt ein Schwerpunkt des Bands auf Abenteuerdiskursen im Kontext des Kolonialismus. Überdies werden das Fortbestehen von Abenteuern in der Populärliteratur – konkret bei Karl May im Beitrag von Susanne Lüdemann – sowie ein nicht auf den ersten Blick erkennbares Vorhandensein von Abenteuerelementen bei Goethe, Proust und Woolf analysiert. Bemerkenswert sei, so Grill und Obermayr in ihrer Einleitung, dass abenteuerliche Erzählmuster in der Moderne in vielfältiger Weise Eingang in literarische, theoretische und kulturpolitische Texte gefunden haben, wobei sie für unterschiedliche Zwecke nutzbar gemacht wurden.

Hinsichtlich poetologischer Bezugnahmen auf das Abenteuer führt Grill im Rahmen seines Beitrags zu Wilhelm Meisters Lehrjahren Blanckenburgs Versuch über den Roman an. Da in letzterem die Darstellung der inneren Entwicklung des Helden eine zentrale Rolle einnimmt, schließe Blanckenburg das Abenteuer aus der Gattung des Romans aus. Mit dessen unzureichender Wahrscheinlichkeit und fehlender logischer Folgerichtigkeit sei es zur Erfassung psychologischer Prozesse ungeeignet. Mit Blick auf den Bildungsroman und speziell Wilhelm Meisters Lehrjahre wäre daher eigentlich zu erwarten, dass darin Abenteuer im Sinne einer Modernisierung des Romans verbannt würden.

Grill – wie auch Cornelia Zumbusch in ihrem Beitrag zu Wilhelm Meisters Wanderjahren – weist jedoch nach, dass im Wilhelm Meister durchaus noch abenteuerliche Elemente zu finden sind. Das Zusammentreffen Wilhelms mit Philine etwa führe zu verschiedenen abenteuerlichen Episoden und damit zu einer Neustrukturierung der narrativen Ordnung. Gerade durch die Vielfalt an Figuren und Ereignissen, die durch die abenteuerlichen Einschübe generiert werden, gewinne der weitere Handlungsverlauf des Romans an Möglichkeiten. Mit Bezug auf Hans Blumenberg liege das Potenzial des Abenteuerlichen für Goethes Roman laut Grill daher darin, dass es nicht mehr nur darum geht „die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt“ unter vielen verschiedenen möglichen Welten. 

Auffallend ist, dass auch Bachtin im Kontext seiner Überlegungen zum Werk Dostoevskijs dem Helden im Abenteuersujet mehr Möglichkeiten als im rein biographischen Roman einräume, wie Riccardo Nicolosi in seinem Beitrag zum Abenteuerhelden in der sowjetischen Literaturtheorie der 1920er Jahre ausführt. Während dem Helden im biographischen Roman eine bestimmte soziale Rolle zugewiesen werde – etwa die des Vaters oder Liebhabers – werde er im Abenteuersujet in Ausnahmesituationen versetzt, in denen er unabhängig von sozialer Determinierung als Mensch reagieren müsse und also auch mehr Freiheiten habe. Überdies geht Nicolosi in seinem Beitrag auf die Theorien der russischen Formalisten ein, welche anfangs in den 1920er Jahren die Abenteuerliteratur positiv aufgenommen haben. In den 1930er Jahren habe das Abenteuer dann aber im Zuge der Konstitution des Sozialistischen Realismus die Rolle einer negativen Kontrastfolie übernommen.

An der Stelle einer in der Sowjetunion in die Krise geratenen Abenteuerliteratur Ende der 1920er Jahre setzt Matthias Schwartz‘ Beitrag zu sowjetischen Konzeptualisierungen antikolonialer Abenteuerliteratur ein. Exotische Schauplätze und Szenarien wirkten angesichts der Proklamation des Sozialismus und damit verbundenen Erwartungen nicht mehr zeitgemäß. Um aber die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Abenteuerliteratur decken zu können – ansonsten blühte der entsprechende Schwarzmarkt – wurden Neuansätze für Abenteuerromane entwickelt.

Statt einen männlichen Helden aus dem Zentrum zu zeigen, der sich an fernen außersowjetischen Orten z.B. in Verfolgungsjagden zu bewähren hatte, sei man zu einer Dekolonialisierung des Helden übergegangen, der im Übrigen auch nicht mehr unbedingt männlich sein musste. Dargestellt worden seien stattdessen indigene Helden, die ihre bis dahin unverstandene sowjetische Subjektrolle an den Grenzen der Sowjetunion, z.B. im Hochgebirge an der sowjetisch-afghanischen Grenze in abgelegenen Gebirgsdörfern, erst finden mussten.

Abenteuer im Zusammenhang mit kolonialistischen Diskursen werden vom Sammelband wiederholt aufgegriffen. Zu erwähnen ist hier Alexander Honolds kritische Besprechung des ihm gemäß populärsten deutschen Kolonialromans Peter Moors Fahrt nach Südwest, in dem der Genozid an den Herero und Nama offen und rassistisch dargestellt wird. Mit einem ähnlichen Thema beschäftigt sich Wolfgang Strucks Analyse der Sitzungsprotokolle des Deutschen Reichstags zu Carl Peters, einem deutschen Kolonialisten, der im damaligen Deutsch-Ostafrika durch unmenschliches Verhalten aufgefallen war. Auch die Pfadfinder-Pädagogik lässt sich vor dem Hintergrund kolonialer Ursprünge lesen, wie Elisabeth Hutters Beitrag zeigt.

Die Antarktis wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts potenziell ebenfalls geeignet gewesen, um sie als Ort „imperialen Begehrens“ darzustellen. Barbara Korte arbeitet in ihrer Untersuchung des Memoirenbands The Worst Journey in the World von Apsley Cherry-Garrard, Teilnehmer des Wettlaufs zum Südpol unter Robert Scott, jedoch heraus, dass dessen Bericht wiederholt vom Abenteuerschema abweicht. Trotz des Bemühens um Kohärenz und der anfänglichen Erzählung kleinerer Abenteuer komme es in The Worst Journey zu Deheroisierungen. Nicht zuletzt werde z.B. der hohe Einsatz bei der Beschaffung von Pinguineiern mit deren desinteressierter Aufnahme im Londoner Museum für Naturgeschichte komisch kontrastiert. „Der Text gerät so zu einer Reflexion darüber, ob man Erfahrungen, die das Potenzial für eine große Abenteuererzählung hatten, noch als Abenteuer erzählen kann.“ 

Demgegenüber sind Abenteuerelemente in Marcel Prousts Recherche und Virginia Woolfs Mrs Dalloway nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar. Martin von Koppenfels kommt jedoch mit einer intertextuellen Lesart der Lektüreszene in Combray aus der Recherche zu dem Schluss, dass bei Proust das Abenteuer verinnerlicht werde, wobei die Wunscherfüllung des prototypischen Abenteuers von der Zukunft in die Vergangenheit bzw. in das Erinnern verlagert werde.

In Woolfs Mrs Dalloway beobachtet Tobias Döring hinsichtlich einer aus weiblicher Perspektive dargestellten Busfahrt in London im Jahr 1923 sprachliche Figuren mit sexueller Konnotation, sodass sich die tatsächliche damalige Abenteuerlichkeit der Londoner Verkehrssituation mit dem leidenschaftlichen Gedankenstrom einer Figur vermische. Dass es Anknüpfungspunkte zwischen Grundgedanken der Psychoanalyse und dem Abenteuerroman gibt, zeigt überdies John Zilcosky in seinem Beitrag. 

Insgesamt bietet der Band spannende Einblicke in Herangehensweisen der Forschungsgruppe Philologie des Abenteuers und speziell zur Verhältnisbestimmung zwischen Abenteuern und der Moderne. Herausfordernd, gleichzeitig aber bereichernd ist die Heterogenität der Beiträge, sodass man selbst beim Lesen Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Untersuchungen ziehen kann. Sehr vielversprechend auch für weitere Vertiefungen scheint insbesondere der Grundansatz, abenteuerliche Erzählschema und deren Transformationen in modernen Texten zu verfolgen und dabei sich teilweise widersprechende Narrationsmuster – auf der einen Seite geleitet durch die Forderung nach ‚Modernität‘, auf der anderen Seite beeinflusst durch das fortbestehende Bedürfnis nach Abenteuern – näher zu betrachten.

Titelbild

Oliver Grill / Brigitte Obermayr (Hg.): Abenteuer in der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2020.
308 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770565160

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