Vom Umgang mit spätantiker Literatur im Spätmittelalter

Daniela Mairhofer und Agata Mazurek erforschen und edieren die Oxforder Übersetzung der „Consolatio Philosophiae“ des Boethius.

Von Michael RuppRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Rupp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der heute eher wenig bekannte römische Gelehrte, Philosoph und Politiker Anicius Manlius Severinus Boethius gilt als eine der interessantesten Gestalten der europäischen Spätantike. Seine Schriften etwa zur Philosophie des Aristoteles, zur Logik und zur Musiktheorie tradierten die Grundlagen der antiken artes liberales ins Mittelalter; sie wurden in den Klosterschulen und später auch an den Artistenfakultäten gelesen; sowohl in den Fächern des Triviums (Grammatik, Rhetorik und Dialektik), als auch in jenen des Quadriviums, zu denen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie gehörten.

War er als Gelehrter an der Grundlegung der mittelalterlichen Wissenschaften beteiligt, so stand er als Politiker an der Spitze der Verwaltung des Römischen Reichs. Als solcher geriet er – nach eigener Auskunft vollkommen unschuldig – in den Strudel interner Machtkämpfe und wurde wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. In der Kerkerhaft entstand mit der Consolatio philosophiae sein berühmtestes Werk, das eine fiktive Begegnung zwischen dem Häftling und der Personifikation der Philosophie aufzeichnet, die in der Zelle erscheint, um ihm Trost zu spenden.

Das Werk gehörte im Mittelalter zum Schulcurriculum und ist dementsprechend häufig überliefert. So mag es zunächst unspektakulär klingen, dass es auch ins Deutsche übersetzt wurde. Interessant wird der hier vorliegende Fall allerdings, wenn man weiterführende Fragen stellt: Was genau sollte die Übersetzung leisten? Für wen war sie demnach gedacht? Wie und in welchen Zusammenhängen ist sie überliefert? Die Antworten, die von Daniela Mairhofer und Agata Mazurek mit akribischen und umfassenden Untersuchungen geliefert werden, führen durch eine außergewöhnlich interessante Sammelhandschrift aus dem Schulbetrieb des Spätmittelalters, und zwar Ms Hamilton 46 der Oxforder Bodleyan Library. Sie besteht aus vier zusammengebundenen Teilen und enthält unter anderem die Consolatio mit zahlreichen Glossen und Kommentierungen sowie die Übersetzung großer Teile davon. Neben einigen gängigen lateinischen Texten finden sich darin auch eine sonst unbekannte volkssprachige Legende der Heiligen Katharina sowie Briefe und Notizen des Übersetzers, die ebenfalls ediert werden.

Die Untersuchung verläuft über acht Stationen: Kapitel I beschreibt die Handschrift im Blick auf Zeit und Ort der Entstehung, Besitzer, Schreiber und Inhalt; Kapitel II erstellt die Chronologie des Gefüges von Text, Glossierung, Kommentierung und Übersetzung der Consolatio darin, und in Kapitel III wird die lateinische Vorlage in ihre Textgeschichte eingeordnet. Kapitel IV liefert eine Untersuchung der Glossierung. Das anschließende Kapitel V analysiert die Sprache der Übersetzung, bevor Kapitel VI sie in den Kontext anderer Übertragungen der Consolatio einordnet. Das Kapitel VII schließlich nimmt der Vergleich der Übersetzung mit ihrer Vorlage ein. Kapitel VIII erklärt die Richtlinien der darauffolgenden Edition. Zwei Glossare (deutsch-lateinisch und lateinisch-deutsch) sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis runden den Band ab. Agata Mazurek verantwortet dabei die Kapitel I, V, VI sowie die Edition der Übersetzung, die übrigen, also Kapitel II, III, IV, VII und die Edition des lateinischen Textes stammen von Daniela Mairhofer.

Die wichtigsten Ergebnisse zur Entstehung der Übersetzung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zuerst wurde der lateinische Text der Consolatio aufgeschrieben. Dann wurden von mehreren weiteren Händen umfangreiche Glossierungen eingetragen, die den lateinischen Text dem sprachlichen Verständnis erschließen wollen. Im nächsten Schritt kamen Kommentierungen von zwei verschiedenen weiteren Händen hinzu. Glossen wie Kommentare folgen jeweils einer festen Vorlage. Zum Schluss wurde von einer weiteren Hand zusätzlich die Übersetzung eingetragen. Dieser Teil der Handschrift, der zwischen 1460 und 1475/80 entsteht, enthält noch einige kürzere lateinische Texte und ein Exzerpt der Schrift De planctu naturae des Alanus ab Insulis. Kurz nach der Entstehung, noch im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, wurde er mit drei weiteren Faszikeln zur vorliegenden Handschrift zusammengebunden, die zahlreiche weitere Texte aus dem Bereich des Schulunterrichts enthalten.

Der Sinn dieses Textgefüges erschließt sich aus den eingehenden Untersuchungen, aus denen ich zwei Punkte kurz herausgreife: Kapitel IV untersucht die Glossen und Kommentare. Die Consolatio selbst war in relativ großer Schrift und mit viel Durchschuss zwischen den Zeilen niedergeschrieben worden, um dafür Platz zu haben. Die Paratexte gehörten also von vornherein zum Konzept. Sehr genau und eingehend werden verschiedene Arten der Glossierung voneinander geschieden und vorgeführt.

Drei Beispiele: Lexikalische Glossen erschließen durch lateinische Synonyme oder Antonyme semantisch ein Wort oder eine Phrase im Text, wie z.B. die Glossierung von „non potest“ durch „non valet“. Auf diese Weise wird zugleich Wortschatzarbeit betrieben. Grammatische Glossen fördern das Verständnis der wörtlichen Bedeutung des lateinischen Texts, etwa die Erklärung zur lateinischen Form „intemperans“: Hier ist das Genus unklar, ebenso die grammatische Funktion im Satz und womöglich auch die lexikalische Bedeutung. Der glossierende Zusatz „id est intemperatus homo“ setzt das Partizip ins Perfekt und macht somit eine im Hinblick auf Genus (Maskulinum) und Kasus (Nominativ) eindeutige Endung sichtbar, womit auch die Funktion im Satz als Subjekt geklärt ist. Das hinzugefügte Wort „homo“, verdeutlicht die lexikalische Bedeutung des Lemmas. Kurz gesagt, handelt es sich um eine Verständnis- und Übersetzungshilfe auf mehreren Ebenen. Manche Glossen haben bereits den Status von Kommentaren, etwa wenn in den in Versen gehaltenen dichterischen Abschnitten der Consolatio der Begriff „Itacus“ vorkommt, der als Herkunftsangabe für Odysseus steht (‚der von Itaca‘) und wie folgt erläutert wird: „id est Ulixes dictus sic a loco“.

Durch die Arbeit mit lateinischen Synonymen und Paraphrasen werden terminologische Angaben zu Formenlehre und Syntax umgangen. Daraus schließt Mairhofer, dass die Zielgruppe Schüler waren, die nicht mehr ganz am Anfang der Lateinstudien standen. Auf der anderen Seite dürften sie auch nicht allzu weit fortgeschritten sein, da noch großer Wert auf Wortschatzarbeit gelegt werde: „der repetitive Charakter der Glossen, Synonyme zu selbst einfachen Wörtern und das weitgehende Fehlen von Angaben zu Stilistik und Rhetorik“ deute darauf hin.

Die Stellung der Übersetzung in diesem ganzen Zusammenhang wird besonders in der Zusammenschau der Kapitel zum Vergleich mit der Vorlage (VII) und mit anderen ‚Consolatio‘-Übersetzungen (VI) deutlich. Zunächst ergeben die Untersuchungen, dass die Übersetzung wohl vom Schreiber stammt, der sie direkt zwischen die Glossierungen und die Kommentare oder auf Zusatzblättern eingetragen hat. Diese Platzierung werten die Autorinnen als einen Hinweis darauf, dass man der Übersetzung den gleichen Status als Paratext zuweisen muss.

Darüber hinaus ist die Übersetzung nicht vollständig; sie setzt dort ein, wo der Kommentar weniger dicht wird, und übernimmt, wo er ganz aufhört, gleichsam dessen Funktion. Sie ist ferner mit den Glossen über die Lemmata vernetzt und enthält in Exkursen, die nicht in der Consolatio selbst stehen, vieles, was ansonsten im Kommentar zu lesen wäre. Dies und die Tatsache, dass sie ganz offenbar keine Eigenständigkeit anstrebt, sondern den lateinischen Text sprachlich erschließen möchte, ordnet das ganze Textgefüge deutlich in den Schulbetrieb ein. Als Nutzer der Handschrift wird dabei ein Lehrer angenommen.

Die vergleichenden Beobachtungen mit anderen Boethius-Übersetzungen verstärken und schärfen das Bild, insofern sie der Oxforder Version ein gelehrt-religiöses Profil attestieren, das auch durch die kommentierenden Exkurse zustande kommt und das im Zuge der sprachlichen Erschließung die Consolatio auf ihre christliche Lesart hin durchsichtig machen möchte.

Erst mit Kenntnis der Ergebnisse dieser fast 300 Seiten ist man richtig ausgerüstet für die Lektüre der Edition, die den lateinischen Ausgangstext jeweils auf die linke und die volkssprachige Übersetzung auf die rechte Seite setzt. Die zusätzlichen Exkurse im Deutschen sind fett gedruckt. Unter dem lateinischen Text folgt ein kritischer Apparat, der Eingriffe der Editorin und Textvarianten gegenüber der aktuell maßgeblichen Ausgabe von Claudio Moreschini vermerkt; darunter wird die Glossierung eingetragen. Unter der volkssprachigen Version sind Anmerkungen und sichtbare Korrekturen des Schreibers zu lesen. So ist die Übersetzung als Teil eines komplexen Textgefüges sehr gut les- und verstehbar.

Daniela Mairhofer und Agata Mazurek haben mit diesem umfangreichen Band die mustergültige Edition eines Textes vorgelegt, dessen kulturhistorische Bedeutung durch die vorgeschalteten eingehenden wie erhellenden Untersuchungen erst ins rechte Licht gerückt wird. Die Arbeit zeigt einmal mehr, wie mittelalterliche Texte oft erst durch ihren engen Überlieferungskontext überhaupt erklärbar werden.

Titelbild

Daniela Mairhofer / Agata Mazurek: Der ‚Oxforder Boethius‘. Studie und lateinisch-deutsche Edition.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2020.
XIV, 782 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783503187249

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