Das Sprachgefühl der Gegenfüßler

Gregor Eisenhauers "Antipoden"

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf unvergeßliche Weise widmete er sich vor einigen Jahren dem literarischen Schicksal der Musca domestica, der Stubenfliege. Nun nahm der Literaturwissenschaftler Gregor Eisenhauer sich die 'Gegenfüßler' vor, die "Antipoden". Zwischen Antipoden, so will es die Regel, bestehen einerseits gewisse strukturelle Beziehungen, während sie andererseits, der Natur dieser Beziehungen entsprechend, ihren Wirkungsraum auf der jeweils entgegengesetzten Seite des Systems entfalten. Stefan George und Bertolt Brecht etwa wären in diesem Sinn als echte Antipoden zu begreifen. Wie aber steht es mit Ernst Jünger und Goethe, mit Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal? Jünger und Borchardt selbst hätten der Bezeichnung fraglos entschieden widersprochen, denn nichts weniger als Antipoden Goethes beziehungsweise Hofmannsthals wollten sie sein; vielmehr bewunderten sie deren vermeintlich reines Dichtertum und eiferten zumindest dem dichterischen Anspruch der beiden Großen nach. Und das scheint denn auch letztlich die Frage zu sein, der sich die beiden glanzvollen Essays von Eisenhauer verdanken - ob Jünger und Borchardt ihren Vorbildern ebenbürtig waren.

Nun ist es ganz offensichtlich so, daß diese Frage verneint werden muß; entscheidend ist jedoch, wie das geschieht. Das hastige Antworten und Urteilen, das stets schon weiß, was erst zu beweisen wäre: bei Eisenhauer tritt es hinter einem essayistischen Räsonnement zurück, das es sich zur Aufgabe macht, die literarische Wertung für die Wissenschaft zurückzugewinnen. So will er das Werturteil, vor dem die Forschung gemeinhin zurückschreckt, denjenigen aus der Hand nehmen, die mit ihm Hausieren gehen, der Tageskritik und der geschickt vermarktenden Anhängerschaft der Autoren. Eisenhauer nennt das schlicht "ernsthafte Gegnerschaft". Die aber setzt Anerkennung voraus.

Vor allem jenem Phänomen, das Jünger und Borchardt über ihren revolutionären Konservatismus hinaus eint, zollt Eisenhauer Anerkennung: ihrem nuancierten Sprachgefühl. Denn tatsächlich besitzen beide, Jünger wie Borchardt, nicht nur den außergewöhnlichen Willen, sondern auch die außergewöhnliche Fähigkeit, durch extreme Stilisierung die deutsche Sprache in Grenzbereiche zu treiben, sie zu überhöhen. Da nun aber, wie der Stilist Eisenhauer zurecht konstatiert, guter Stil und mehrheitstaugliche Gesinnung nicht notwendig eins sein müssen, kann er jenseits der philiströsen Gewohnheit, politisch unangenehme, unbequeme Schriftsteller lediglich moralisch zu richten, in aller Ruhe die grundsätzliche Frage nach der Gültigkeit von Jüngers und Borchardts ästhetischer Existenz stellen. Und so sei in erster Linie das bei Jünger von Interesse: Ob sein Werk Zukunft habe oder bereits Geschichte sei?

Eine gewichtige Frage, die allerdings zu schwer zu wiegen scheint für eine essayistische Synopsis, deren Textgrundlage sich lediglich auf den Tagebuchband "Siebzig verweht III" stützt. Das schmale Fundament jedoch erweist sich als erstaunlich tragfähig, wobei das Geheimnis der Statik offenbar im Vergleich liegt. Als Käfersammler und Krieger, als Waldgänger und Drogenkonsument, als Etymologe und Träumer, als Astrologe, als Gourmet und Humorist gewinnt Jünger vornehmlich dadurch höchste plastische Kontur, daß er in diesen Bereichen seines Lebens und Denkens der Gestalt Goethes gegenübergestellt wird - wie Eisenhauer sie uns ebenfalls anhand von dessen späten Tagebüchern in subtil-präziser Skizze vor Augen führt.

Auch Goethe erscheint in dieser Zeichnung nicht fehlerlos, doch bei aller Zwiespältigkeit seiner Existenz obsiegen in seinem Werk am Ende Liebe und Konzilianz, während bei Jünger, trotz der kaum zu überbietenden Masse an authentischer Lebenserfahrung, gerade die Täuschung und die Lüge vorherrschen. Subjektive Erwartungen erhöht Jünger zu Gewißheiten, simple Beobachtungen verfälscht er zu Gleichnissen, alles wird seiner Profanität beraubt, um derart einen großen transzendenten Zusammenhang stiften zu können. Dieser jedoch bürdet der Natur lediglich erneut das Arkanum einer Metaphysik auf, die sie seit Goethes Zeiten bereits hinter sich gelassen hat.

Verantwortlich für die falsche Wiederverzauberung der Welt in Jüngers spätem Werk sei, argumentiert Eisenhauer, der gekünstelt "sentimentalische" Charakter des Autors, mit dem dieser ständig selbstgefällig kokettiere; etwa wenn er darauf beharre, nicht nur "nicht im rechten Jahrhundert und in einer fremden Nation", sondern "auch auf dem falschen Planeten" geboren zu sein. So verläßt Jünger zuletzt selbst jene Qualität, die ihm in der Leere seiner Welt allein zum Renommieren geblieben war: das Stilgefühl. "In der Literatur ist religiöses Denken, das nur auf die Kraft des Gefühls vertraut und allen laut gewordenen Zweifel erinnerungslos übergeht, allenfalls noch artikulierbar als Kitsch", schreibt Eisenhauer, und Kitsch verlange nach Wiederholung, weil nur eine durchgängig verkitschte Welt die Irritationen einer widrigen Realität vergessen machen könne. "Literarisch geschieht das am unauffälligsten im Tagebuch" - ein vernichtenderer Satz ist über die ästhetische Existenz des späten Ernst Jünger, dessen Werk schon immer überholte Geschichte war, wohl kaum geschrieben worden.

Das Scheitern Jüngers ist dabei ein überpersönliches und repräsentatives, ja in seinem Werk komme so beredt wie in kaum einem anderen zur Sprache, "warum dieses Jahrhundert derart mißriet". Zuallererst ist das eine stilkritische und keine politisch-moralische Einsicht. Denn erst am Versagen ihres scheinbar untrüglichen Sprachgefühls zeigt sich, wie sehr die radikale Kulturkritik Jüngers und Borchardts sich vom Lauf der modernen Welt entfernt hat. "Auch wenn es den Fortschritt in der Kunst nicht gibt", kommentiert Eisenhauer, "so ist es ihr doch keineswegs gestattet, sich von seinen Folgen freizustellen." Den Beleg für diese These bieten als Gegenbeispiele nicht zuletzt Goethe und Hofmannsthal, die mit ironischer Konzilianz zumindest versuchten, in den Gang der forteilenden Wirklichkeit sprachlich einzugreifen. Und das macht sie schließlich doch zu Antipoden der sentimentalen Schwindler vom Schlage Jüngers und Borchardts.

Was Eisenhauer sich vornahm, ist ihm gelungen: eine systematische Wertung auf der Grundlage ernster, begründeter Gegnerschaft. Seine Kategorien erweisen sich dabei als gültig über den Anlaß hinaus, denn leicht wird man die Dichter und Schriftsteller der Moderne anhand der kritischen Vorgaben Eisenhauers einordnen und und mit Gewinn beurteilen können. Die eigentliche Kunst seiner Darstellung besteht allerdings in etwas anderem: nach der Lektüre der beiden Essays entsteht, angeregt durch deren feinsinnige Analysen, das starke Bedürfnis, nun erst recht Jünger und Borchardt zu lesen. Das muß etwas mit Konzilianz und Empathie zu tun haben, und die hatte Eisenhauer ja bereits gegenüber der Musca domestica unter Beweis gestellt.

Angesichts des hohen Preises für den schmalen Band bleibt am Ende nur die Frage, wer sich soviel Stil- und Taktgefühl leisten will. Den Taschenbuchverlagen wünscht man im Dienst der Leser einen geschickten Fliegenfänger.

Gregor Eisenhauer: Antipoden. Ernst Jünger und Johann Wolfgang von Goethe; Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal.

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Gregor Eisenhauer: Antipoden.
Deutscher Studienverlag, Tübingen 1998.
109 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3484320990

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