In beunruhigender Ruhe

Mit „Giorgio de Chirico – Magische Wirklichkeit“ erscheint ein beeindruckender Band über den italienischen Künstler, dessen metaphysische Bildwelt noch heute fasziniert

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Kriegsjahr 1917 – de Chirico befand sich in neuropsychiatrischer Behandlung im Militär-Krankenhaus bei Ferrara – entstand Der große Metaphysiker: Auf einem totenstillen Platz, dessen Gebäude lange Schatten werfen, erhebt sich ein aus Winkelmaßen und Linealen konstruiertes Monument, das oben von einer gesichtslosen Gipsbüste abgeschlossen wird. Hochrechteckige Volumina erinnern an aufrechtstehende Särge und verweisen auf den Krieg, der auch in der obsessiven Wiederholung von Rahmenleisten und Verschachtelungen angedeutet wird. Ein Jahr später wurde dieses eindrucksvolle Zeugnis der metaphysischen Malerei in der ersten Ausgabe der italienischen Kunstzeitschrift „Valori Plastici“ – sie forderte zu einer Rückkehr zu Gegenständlichkeit und Figuration auf – wiedergegeben und regte viele Künstler zu ähnlichen Bildformulierungen an.

Durch die Verschachtelung architektonischer Räume, durch divergierende Perspektiven und eine zusammenhanglose Komposition disfunktionaler Gegenstände erzeugen die Werke des italienischen Malers und Graphikers Giorgio de Chirico, der 1916/17 mit seinem Bruder Alberto Savinio und dem Futuristen Carlo Carrà die pittura metafisica begründete, ein Gefühl existentieller Unsicherheit. Objekte dringen in den Raum, deren Funktion rätselhaft bleibt. Es ist eine Welt am Rande des Visionären. Ausdruck der Angst, des Rätselhaften, der unbegriffenen und unheimlich gewordenen Welt. Dagegen haben die zwei statuenhaften Gliederpuppen auf Carlo Carràs Bild Das Oval der Erscheinungen (1918) einen stärkeren Einfluss auf die Neue Sachlichkeit und den Dadaismus ausgeübt als der de Chiricos.

Die Bilder de Chiricos haben dann aber wieder die Abkehr Max Ernsts von seinem expressionistischen Frühwerk bewirkt. In seinem Mappenwerk FIAT MODES pereat ars (1919) übernimmt Ernst zwar von de Chirico die Konfrontation von Mensch und Puppe, die stürzenden Raumbühnen, die Durchdringung von Formen und das „Bild-im-Bild“-Motiv, erweitert dieses Themenspektrum aber auch durch Beschriftungen, Formeln, Diagramme, Konstruktionsskizzen, technische Apparate und scheinbar funktionale Maschinen.

Kurt Schwitters begann 1923 in seinem Haus in Hannover mit dem ersten Merzbau, dem Projekt eines Gesamtkunstwerks, dessen Große Säule, auch Kathedrale des erotischen Elends genannt, Himmel und Erde verbinden sollte. Sie dehnt sich durch zwei Stockwerke und bis in den Keller aus. Alles verschmolz zu einem Panorama seltsamer Obsessionen, Visionen und Zustände. Als profane Reliquien gehen Schwitters‘ alltägliche Eindrücke und Erfahrungen, seine Ansichten und Auffassungen, seine Beziehungen zur künstlerischen Avantgarde in ein plastisches Gehäuse ein, das sich als „Lebenswerk“, als „Denkmal“ zu erkennen gibt.

Ives Tanguy wiederum malte Phantasieobjekte des Traumes, im scharfen Schräglicht stehen die Knorpelgebilde eines ausgedachten, absurden Inventars, illusionistisch, eindringlich formuliert – eine Traumlandschaft, die ihrerseits dann Salvador Dali inspirierte, der sie mit seinen grotesk-obszönen Figuren füllte.

Auf diese Reise in die Welten der Vorahnungen, Ängste, Mehrdeutigkeiten, Visionen und Selbstbehauptungen nimmt den Kunstinteressierten der faszinierende Band Giorgio de Chirico – Magische Wirklichkeit mit, der als Katalog zu der gleichnamigen Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle (sie war wegen der Corona-Pandemie temporär geschlossen) erschienen ist. Die metaphysische Phase de Chiricos war in solch einer Intensität wie in Hamburg noch nicht gezeigt worden, es wurden aber auch die Wurzeln dieser Strömung (Böcklin und Klinger), vor allem aber gerade jene Künstler vorgestellt, die sich von de Chirico anregen ließen. Wer die Originalwerke nicht sehen konnte, muss sich nun mit dem Katalog behelfen, der sich als ein zwar nicht ebenbürtiges, aber doch vergleichbares Pendant erweist.

Eine Einführung in die metaphysische Malerei de Chiricos und eine Erläuterung der Beiträge des Bandes geben die Leiterinnen des Projektes Cécile Debray, Hauptkonservatorin und Direktorin des Musée de l’Orangerie in Paris, und Annabelle Görgen-Lammers, Kuratorin der Hamburger de-Chirico-Ausstellung. Sein Werk ist in der Tat eine Herausforderung für die Kunstgeschichte. Die Einflüsse der drei Lebensorte des Künstlers werden beschrieben: München (die Protometaphysik, 1908–11), Paris (Entwicklung der metaphysischen Malerei, 1911–15) und Ferrara (Verbreitung der metaphysischen Malerei, 1915–18). Die Hommage an de Giorgio von André Breton, dem Begründer des Surrealismus, ist für die Verfasserinnen immer noch gültig wie vor 80 Jahren: Die Entdeckung von Werk und Wirkung de Chiricos ist noch längst nicht abgeschlossen.

Paolo Baldacci, Gründer und Präsident des Archivio dell’Arte Metafisica in Mailand, ein international anerkannter Spezialist über de Chirico, äußert sich über den Künstler als Europäer und bezeichnet Turin als Ort dessen Identität. De Chiricos metaphysische Architekturen beziehen sich auf Turin, das er mit den Augen Nietzsches als einen Ort des Geheimnisses und der poetischen Offenbarung betrachtete. In der darauffolgenden Phase überlagern die Bilder der urbanen Realität von Paris das in Turin gelegte geistige Fundament. In Ferrara entwarf er dann neue Figuren unter freiem Himmel in einer bühnenhaften Stadt.

Die Liebe, die er seinem nominellen Vaterland Italien in jenen Jahren entgegenbrachte, wurde nicht erwidert. Seine metaphysische Malerei wurde verspottet. So orientierte sich de Chirico ab 1922 wieder nach Frankreich, wo seine metaphysische Malerei immer erfolgreicher wurde, und zwar ausgerechnet durch die Surrealisten, mit denen er verfeindet war. Nach der Reise nach Amerika 1936/37 und seiner Rückkehr nach Italien 1938 trug er „eine Maske, die er für den Rest seines Lebens nicht mehr absetzen sollte“ (P. Baldacci). De Chirico bediente sich nunmehr einer barocken und pathetischen Malweise im klassizistischen, akademischen Stil. Er wiederholte auch seine erfolgreichsten metaphysischen Bilder aus früher Zeit, was ihm viel Kopfschütteln eingebracht hat.

In den drei großen Lebens- und Schaffensabschnitten de Chiricos (München 1888–1911; Paris 1911–1915; Ferrara 1915–1918) werden – auf der Grundlage einer Leben und Werk de Chiricos aufschlüsselnden Chronologie von Paolo Baldacci – spezielle Betrachtungen zu einzelnen Aspekten im malerischen Werk des Künstlers angestellt, den Einflüssen der deutschen Spätromantik, Böcklins und Klingers, der Philosophie Nietzsches, der Beschäftigung de Chiricos mit Rimbaud, seiner Bekanntschaft mit Apollinaire, seiner Zusammenarbeit mit dem Galeristen Paul Guillaume und vielem anderen mehr nachgegangen.

Auf der Grundlage der Klinger- und Böcklin-Rezeption geht es Annabelle Görgen-Lammers um die Darstellung von Raum zur Schaffung einer Stimmung. Zum Symbolismus Böcklins und Klingers gesellt sich noch die Landschaftsmalerei C. D. Friedrichs hinzu. Paolo Baldacci unternimmt den Nachweis, wie es de Chirico in seiner ersten Pariser Zeit gelungen war, durch die Rezeption von stilistischen und formalen Merkmalen der Avantgarde den Modernismus zu unterlaufen, ohne dass deshalb seine Stilsprache als nichtmodern bezeichnet werden konnte. Seit dem Frühjahr konzentrierte sich de Chiricos „heimlicher Dialog“ mit dem Modernismus auf Picasso. Den Beziehungen zwischen de Chirico und seinem Pariser Galeristen Paul Guillaume geht Cécile Girardeau, Konservatorin des Musée de l’Orangerie, nach. In Frankreich wie im Ausland setzte sich Guillaume für den Maler ein. Und es war Andrè Breton, der 1918 im Schaufenster der Galerie Guillaume de Chiricos Bild Das Gehirn des Kindes (Der Wiedergänger, 1914) bemerkte und sofort kaufte – es löste eine Initialzündung bei ihm aus. De Chiricos Gliederpuppen – als Gegenfiguren zu den Robotern des technologischen Fortschritts – widmet Giovanni Lista, emeritierter Universitätsdozent und Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique in Paris, seine Aufmerksamkeit. Wiederum beschäftigt sich Federica Rovati, Professorin für zeitgenössische Kunstgeschichte an der Università degli Studi di Torino, mit der Haltung der metaphysischen Maler de Chirico, Carrà und Morandi zum Ersten Weltkrieg.

Durch de Chiricos gemalten Interieurs von 1916 ziehen sich schwindelerregende Perspektiven, während sich draußen die Ankunft einer neuen, vom Erleben des Krieges geprägte Menschheit ankündigt. Hatten Gegenstände bei de Chirico als Stellvertreter für Gliedmaßen gedient – siehe Der große Metaphysiker –, so wurden sie bei Giorgio Morandi wieder zu Dingen. Der Gliederpuppen-Kopf in Morandis metaphysischen Stillleben kann als Ausdruck der Verdinglichung des Menschen wie der Vermenschlichung der Dinge verstanden werden.

Dieser reich illustrierte Band lädt zum Blättern wie zum genauen Lesen und Betrachten ein. Hier wird der neueste Forschungsstand zur Bildwelt de Chiricos und zur metaphysischen Malerei präsentiert.

Titelbild

Annabelle Görgen / Paolo Baldacci (Hg.): Giorgio De Chirico – Magische Wirklichkeit.
Hirmer Verlag, München 2020.
232 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783777434742

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