Die edlen Schweine, das Nirwana und die Harmonie der Welt

Paul Claudels China-Buch „Was der Osten ist“ von 1907 ist neu übersetzt worden

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk besteht aus 60 Texten von jeweils zwei bis drei Seiten, die 1895 bis 1905 niedergeschrieben und 1907 unter dem Titel Connaissance de l’Est veröffentlicht worden sind. Die erste deutsche Ausgabe trug den Titel Kenntnis des Ostens. Autor ist der französische Dichter, Dramatiker und Diplomat Paul Claudel (1868–1955), der in den genannten Jahren um 1900 Vizekonsul und Konsul in Shanghai und anderen Städten Chinas war.

Ein europäischer Gelehrter kommt nach China und wird von der Sinnlichkeit des dortigen Alltags ergriffen – dies ist der erste Eindruck, den man bei der Lektüre gewinnt. Natürlich bringt Claudel seine europäische Sichtweise mit, zu der er sich schon im Titel bekennt (das Wort ‚Osten‘ meint China, das für den Europäer eben östlich liegt). Aber Claudel bezeugt Hochachtung gegenüber den chinesischen Sitten, was bemerkenswert ist, denn in der damaligen Zeit war China für die europäischen Mächte eine halbe Kolonie, die sie sich für Finanzgeschäfte und Missionierungen aufgeteilt hatten und deren Kultur und Religion sie als absterbend erklärten. Die chinesische Kultur gehe zugrunde, weil sie großen Aufgaben nicht gewachsen sei, behauptete 1900 der deutsche Kaiser. Wie anders dagegen Claudel, der lakonisch erklärt, die Kokospalme sei „das Zeichen des Sieges“, und über den buddhistischen Begriff Nirwana schreibt: „Und die Leute haben sich über dieses Wort verwundert. Ich meinerseits sehe darin die Idee des Nichts um die der Freude vermehrt.“

Doch wieder zu Claudels Begeisterung am sinnlichen Alltag. Er entdeckt, dass für den Reisanbau das Wasser, nicht die Sonne Fruchtbarkeit bedeutet. Er sieht, wie man Schweine hält, die sich in Erde und Schlamm, ja im „fetten Schoß frischen Kots“ bewegen und „ausgereifte“ Nahrung wollen. Über den Wasseranstieg des Flusses Min lesen wir: „Wie die chinesische Mutter das Kleinkind dem Haushund hinhält, der ihm sorgfältig den Hintern säubert, so wischt er mit einem Zungenschlag den gewaltigen Dreck der Stadt weg.“ Der Chinese braucht kaum Möbel, er ersetzt sie durch ein „Fenster, das er öffnet“. Die chinesischen Schriftzeichen erscheinen Claudel, anders als unsere analytische Buchstabenschrift, geradezu lebendig; ein solches Zeichen sei wie „ein schematisches Wesen“, „eine skripturale Person“.

In all diesen Phänomenen und Lebenshaltungen sieht Claudel auch die Spuren der Abstraktion. Die chinesische Architektur vervielfache die Dächer, strebe nach oben und lasse sich doch nach unten ziehen, bleibe „gleichsam schwebend“. In China nehme „der Tod ebenso viel Platz ein wie das Leben“: Der Tote ist „Beschützer“ und „Griesgram“ zugleich, „mit dem man sich vertragen muss“. Ähnlich Claudels Empfinden auf dem Schiff mitten im Meer: Er erlebe dort den „guten Schoß“, die endgültige Sicherheit im „unumgrenzten Raum“.

Diese Neugier und dieses Hingerissensein Claudels angesichts der wahrnehmbaren, greifbaren Dinge übertragen sich auf den Leser, zumal eine Fülle von Einzelheiten genannt wird. Wir haben vom Alltag gesprochen, aber Claudel interessiert sich auch für Feste und Massenszenen, die Garten- und die Stadtanlagen, die Arbeit der Künstler und die der Musiker. Bei dieser Hingabe lässt sich Claudel auch von seinem Katholizismus steuern; die katholische Gefühlswelt birgt nun einmal viele heidnische Elemente. So vergleicht Claudel die parzellierten Reisfelder mit einem Kirchenfenster, und er spricht die Klage aus: Einen Gott habe man nicht suchen wollen, Buddha mit seinem Nirwana „war es gegeben, die heidnische Blasphemie zu vollenden“.

Claudel hat seine Betrachtungen als ‚Prosagedichte‘ deklariert. Tatsächlich prägt sie eine rhythmische Struktur. „Die Anziehung durch alle Dinge, ich verspüre sie in der Stille meiner Seele“, schreibt er. Oder: „Ich begreife die Harmonie der Welt: wann komme ich ihrer Melodie auf die Schliche?“ Die Sätze sind oft kurz; sind sie lang, lassen sie sich ganz leicht, Taktfolgen ähnlich, in kleine Abschnitte auflösen. Oft drücken die Sätze die körperlichen Schritte aus, mit denen sich das Ich dem Fremden nähert: „Ist Ruhe nur außerhalb von mir?“ „Wie eine Ebene und ihre Wege fülle ich den Zwischenraum der Berge.“

Die Dynamik des Annäherns und Wahrnehmens pflegt Claudel sehr bewusst; er sagt: „Die Sinnesempfindung ist nicht bloß ein passives Phänomen.“ Er sagt auch: „Die Festigkeit dieser Welt ist der Stoff meiner Seligkeit!“ Es geht Claudel nicht darum, überzeugt zu werden, nicht einmal darum, sich belehren zu lassen. Er will das fremde Land, wie es ist, ja die ganze Welt, wie sie ist, intensiv erleben.

Im Zusammenhang mit dem erwähnten Fluss Min schreibt Claudel: „Wir feiern mit ihm seinen Karneval im rollenden Toben der blonden Wasser.“ Der Übersetzer Rainer G. Schmidt vermerkt, mit den ‚blonden Wassern‘ spiele Claudel auf einen Vers der Illuminations von Arthur Rimbaud an. An anderer Stelle seiner ausführlichen und klugen Erläuterungen (die ein Fünftel des Buches ausmachen) sagt Schmidt, Claudel unternehme mit seinen ‚Prosagedichten‘ eine ästhetisch bedeutsame „Erosion der Formen“.

Seinen deutschen Titel Was der Osten ist erklärt der Übersetzer damit, dass er die besondere Betonung, die der Originaltitel am Ende hat (Connaissance de l’Est), auf diese Weise wiedergeben wolle. Doch könnte man auch anders vorgehen. Das französische Wort ‚connaissance‘ heißt Kenntnis, aber auch Kenntnisnahme; es hat dann eine inchohative, dynamische Bedeutung (so wie das französische Verb ‚avoir’ nicht nur ‚haben‘, sondern auch ‚bekommen‘ bedeutet). Wenn man bedenkt, wie oft Claudel gerade sein Heranrücken an die fremde Welt thematisiert und wie stimmig Schmidt diese Stellen übersetzt hat – etwa aus „studieux badaud du fantastique étalage“ wurde: „indem ich eifrig die fantastische Auslage begaffe“ –, so hätte sich auch dieser deutsche Titel angeboten: ‚Den Osten erkennen’. Dieser Kritikpunkt noch: Im Text ‚Hier und dort’ ist der Schluss des drittletzten Absatzes grammatisch fehlerhaft übersetzt und dadurch unverständlich.

Doch wir müssen festhalten: Der Übersetzer hat bis in letzte Einzelheiten hinein vorzügliche Arbeit geleistet. Er hat die hochpoetische Sprache Claudels in ein ebenfalls hochpoetisches und dabei modernes Deutsch verwandelt; er hat – um ein schönes Beispiel aus dem kapriziösen ‚Amaterasu’-Kapitel zu nennen – „l’active phrase interminable“ umgeformt in: „die unbeendbar rege Rede“. Claudel zu übersetzen ist schon daher sehr schwierig, weil die zahlreichen Großschreibungen, die er unternimmt (Terre, Néant, Océan), nicht adäquat ins Deutsche übertragen werden können. Sehr zu loben ist auch der Verlag, der das Ganze als apartes Leinenbändchen vorlegt, das mit seinem chinesischen Schriftzeichendekor eine Augenweide ist.

Titelbild

Paul Claudel: Was der Osten ist.
Aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
222 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576934

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