Nachösterliche Interpretation

Felicitas Hoppe lädt in „Fieber 17“ zur Retrospektive ein

Von Svenja FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Svenja Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem neuen Band Fieber 17, der die gleichnamige Erzählung und einen Essay umfasst, fragt Felicitas Hoppe nach dem Wesen von Kindheitserinnerungen und ihrer literarischen Darstellung. Die Erzählung ist der bislang persönlichste Text der Autorin. Mit der flimmernd-fantastischen Schilderung eines frühen Erlebnisses lenkt sie den Blick zurück und durch die Augen des Kindes. Der anschließende Essay lädt dazu ein, es ihr gleichzutun.

Hoppe, die erwachsene Schriftstellerin, ist beim Hausarzt, denn eine alte Familienkrankheit hat sie wieder einmal fest im Griff: „klopfendes Herz, rasender Puls, fröhliche Appetitlosigkeit und der Wunsch, niemals irgendwo anzukommen“. Um der Sache auf den Grund zu gehen, berichtet sie hastend von einem traumatischen Kuraufenthalt, denn damals hat das geheimnisvolle Seelenfieber sie zum ersten Mal heimgesucht. Als asthmatische Fünfjährige wird sie vom Vater an den Bahnhof gebracht und für vier Wochen an die Nordsee verschickt. Es ist kein Wunder, dass die Kinderseele gerade im Inselsanatorium mit dem geheimnisvollen Fieber 17 aufbegehrt. Die Erwachsenen, die die Kinder verwalten, führen ein seelentötendes Frischluftregiment, morgens gibt es Salzwasser auf leeren Magen und dann verschwindet mit dem Kuscheltier auch noch der einzige Verbündete: Beichtkater Kollo.

Ebenso berührend wie aberwitzig verwandelt Hoppe die authentische Kindheitserinnerung zur literarischen Urszene. In dieser verdichten sich die Themen und Motive, aus denen sich Hoppes Werk speist, wie die Erfahrung eines grundsätzlichen Ausgesetztseins in einer fremden Welt. Als Schlüsselerlebnis nimmt diese Erfahrung in Fieber 17 ganz neue Dimensionen ein, weil das Vorschulkind die Überlebensstrategien der Schriftstellerin noch nicht beherrscht: Lesen, Schreiben und Schwimmen.

Das Winterkind, wie sich Hoppe auch hier bezeichnet, hat Sommerangst – Angst vor dem Aufbruch ins Freie. Dabei ist die Sehnsucht nach diesem mindestens so groß wie die Angst davor, denn an ihn knüpft sich die Aussicht auf Rettung. In Hoppes früheren Texten machte gerade der Aufbruch auch Heimkehr und damit Ankunft möglich, in Fieber 17 hingegen ist der Ton melancholischer, stellenweise resigniert.

Ästhetisch löst Hoppe mit der Erzählung den dringlichsten Anspruch ein, den sie selbst an Literatur stellt. Ihr Schreibideal, wie es sich aus verschiedenen Poetikvorlesungen zusammenfügt, erfordert zweierlei: Literatur soll von der genauen Beobachtung unserer Welt ausgehen, von einer konkreten und greifbaren Situation, in diesem Fall der Kuraufenthalt. Diese wird poetisch transformiert, was in Fieber 17 durch Weglassen und Verschiebung von Perspektiven und Proportionen geschieht. Das ist abstrakte Literatur im eigentlichen Sinn.

Bemerkenswert ist das vor allem, weil sich hier, entsprechend der Rückschau in die eigene Kindheit und auf das Werk, eine Kehrtwende ankündigt. Die Erzählung unterscheidet sich deutlich von den beiden letzten Romanen Hoppe (2012) und Prawda (2018), die sich in manchen Manierismen verzweigt haben. Über diesen Purismus werden sich vor allem die Leser:innen freuen, die die früheren Romane und Erzählungen von der Geschichtensammlung Picknick der Friseure (1996) bis zum Kinderbuch Iwein Löwenritter (2008) besonders mochten. Auch die vorab publizierten Auszüge aus dem im Spätsommer erscheinenden Nibelungen-Roman deuten darauf hin, dass sich diese Linie erst einmal fortsetzen wird. Zumal sich der Anschluss an frühere Texte bis ins Detail verfolgen lässt: Wie die anfängliche Hoppe-Rezeption fühlt man sich mitunter wieder an Kafka erinnert, zum Beispiel wenn die bedrohlichen Zeiger der Bahnhofsuhr das Vorschulkind antreiben, noch bevor es sie lesen kann. 

Die wohl charakteristischste Fähigkeit der Autorin, Alltagsbegebenheiten, historische Stoffe und literarische Texte auf ihre existentielle Essenz hin zu befragen, lässt sich am besten an einer weiteren Kindheitserinnerung aus dem Essay veranschaulichen, der an die Erzählung anschließt. Dort schreibt Hoppe, dass sie und ihre Geschwister, wenn sie draußen beim Spiel hungrig geworden waren, die Angewohnheit hatten, „unter dem Küchenfenster meiner Mutter stehend vom Garten herauf so lange nach Brot zu rufen, bis meine Mutter schließlich das Fenster öffnete und uns ein paar Scheiben frisch geschnittenen Brotes herunterwarf“. Mittels bloßer Richtungsangaben lässt die Autorin Manna vom Himmel fallen und vertraut wie so oft auf die inhärente Bildlichkeit der realen Anordnung. Wen übrigens an dieser kreativen Aneignung speziell der Bezug zum Alten Testament reizt, der kann dem in der kürzlich erschienenen, sehr lesenswerten Essaysammlunghrmann, hol über! (2021) weiter nachgehen, in dem sich Hoppe eingehend mit biblischen Geschichten und Heiligenlegenden befasst.

Die beiden zentralen Themen des Essays in Fieber 17 sind die Kindheit und unsere Erzählungen davon. Anhand eines Panoramas eigener und fremder Texte lotet Hoppe das Verhältnis zwischen erlebtem und erzähltem Leben aus. Daraus ergeben sich manche Selbstdeutungen, die neue Blicke auf das Werk eröffnen. Wenn Hoppe den Wettbewerb als wesentliches Moment des Erzählens hervorhebt, dann lässt dies etwa an die Geschwister in Paradiese, Übersee (2003) denken, die mit ihren Erinnerungen um das Familiengedächtnis konkurrieren: Wer nicht erzählt, verschwindet. Für die Forschung ist das alles sehr viel relevanter, als der schmale Band vielleicht zunächst vermuten lässt.

Jenseits solcher Werkbezüge bietet sich eine nicht minder anregende Lektüre. Denn der Essay fordert dazu auf, den Blick selbst zurückzuwenden und die Erzählungen, die sich dabei entspinnen, zu reflektieren. Dies gelingt weniger durch bahnbrechende Thesen – die Unzuverlässigkeit solcher Erzählungen, ihre Klischeehaftigkeit und ihre Funktion als Identifikations- und Projektionsräume dürften hinlänglich bekannt sein – als durch überraschende Gegenüberstellungen und Beschreibungen. Als „nachösterliche Interpretation“ zum Beispiel bezeichne ihre Mutter, so verrät Hoppe, die Schilderung des Kuraufenthalts, mit der sie ihre Familie über Jahre zu Tränen gerührt habe. Theologische Bedeutungen beiseite, verknüpft diese Formulierung den Zweifel an der Wahrheit des Gesagten unwillkürlich mit der Vorstellung, schon mit fünf Jahren läge das Beste hinter uns. Auf diese und ähnliche Weise eröffnen sich immer neue Verbindungslinien zwischen den einzelnen Reflexionen.

Für das Vorschulkind in der Erzählung gibt es in der Tat kein Zurück in die Welt vor dem Abschied, aber natürlich entlarvt Hoppe auch diesen Topos von der Kindheit als verlorenem Paradies. Spannend ist zu verfolgen, wie sie die Idealisierung dann durch die Hintertür wieder aufbaut. So versteht sie Kindsein als Zustand, der dem der Erwachsenen diametral entgegengesetzt ist, weil es nicht auf Sentimentalität, sondern auf Vorwärts angelegt ist. Die Überlegungen, die sich daran anschließen, etwa, welche literarischen Vorstellungen von Kindheit dem kindlichen Denken und Fühlen überhaupt entsprechen, bieten zahlreiche Ausgangspunkte für das eigene Weiterfragen. Dabei fällt vor allem auf, wie ernst Hoppe Kinder nimmt, indem sie ihnen zum Beispiel ein eigenständiges literarästhetisches Urteilsvermögen zuschreibt. Wer Hoppes poetologische Schriften kennt, der weiß, dass dieses wiederum auch bei ihr immer mit Moral zu tun hat. Am Ende also doch Kindheit als Stadium der Unschuld.

Obwohl Erzählung und Essay im Band aus unterschiedlichen Anlässen hervorgegangen sind, wirkt die Gegenüberstellung überaus stimmig. Die beiden Texte erhellen sich wechselseitig und sorgen mit ihrer stilistischen Virtuosität für echten Lesegenuss. Ihren frühen Band Picknick der Friseure hat die Autorin einmal als Keimzelle bezeichnet, aus dessen Erzählungen sich die einzelnen Werke entwickeln. Der neue Band erscheint komplementär dazu als Zusammenführung und Verdichtung ihrer Texte und Themen. Dennoch ist der Band keine Werkschau, sondern ein fulminanter Fiebertraum – gefolgt von der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie die Kindheit der Kinder zur Erzählung der Erwachsenen wird.

Titelbild

Felicitas Hoppe: Fieber 17. Eine Erzählung und ein Essay.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
circa 96 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200857

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