Poet im Sprachlabor

Vor 100 Jahren wurde der Georg-Büchner-Preisträger Helmut Heißenbüttel geboren

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Literatur hat mit nichts anderem zu tun als mit Sprache“, lautete die programmatische These des Schriftstellers Helmut Heißenbüttel. „Meine Arbeiten sind nicht leicht zugänglich und erfordern Mühe beim Lesen. Meinen Namen aber kennt man, weil ich immer dasselbe gemacht habe und mir stets treu geblieben bin“, so die Selbstcharakterisierung des Georg-Büchner-Preisträgers von 1969.

Die von großem Sprachskeptizismus geprägten Arbeiten haben den Autor tatsächlich bekannt gemacht, obwohl sich die Zahl seiner Leser stets in bescheidenen Grenzen hielt. Heißenbüttels Versuch, in das Innere der Sprache einzudringen und sie aufzubrechen, ist am nachhaltigsten in seinen zwischen 1960 und 1987 erschienenen Textbüchern nachzuvollziehen. Sprache wird zerlegt, wird seziert wie in einem Labor, und der Zusammenhang zwischen Strukturen der Sprache und der künstlerischen Fantasie, diese Gratwanderung zwischen Poesie und Wissenschaft hat auf Heißenbüttel eine große Faszination ausgeübt. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Das Subjekt gehört nicht zur Welt,“ notierte Heißenbüttel in seinen Textbüchern.

Grammatik, Syntax und Interpunktion wurden von ihm gegen den Strich gekämmt, und auch die Genregrenzen zwischen Lyrik und Prosa sind beim ständig experimentierenden Helmut Heißenbüttel zerflossen. Doch der Autor sah seine Literatur keineswegs in der Nachfolge des „L‘art pour l‘art“. „Ich hatte natürlich auch einen gewissen Überdruss an den Dingen, die überliefert waren, und suchte nach Neuem. Ich habe sowohl Literatur von Schwitters entdeckt wie auch Gertrude Stein“, bekannte der stets neugierige Individualist Heißenbüttel über etwaige literarische Ahnen. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung erklärte er 1963, dass „die von den Zwängen der herkömmlichen Grammatik befreite Sprache ein Instrument sein kann, um Freiheit überhaupt einzuüben.“

Nach einer schweren, im Rußlandfeldzug 1941 erlittenen Kriegsverletzung (ihm musste der linke Arm amputiert werden) studierte der am 21. Juni 1921 im Oldenburgischen Rüstringen geborene und in Wilhelmshaven aufgewachsene Heißenbüttel Architektur und später Germanistik und Kunstgeschichte, war dann als Werbetexter und ab 1957 als Nachfolger von Hans-Magnus Enzensberger als Rundfunkredakteur in Stuttgart tätig. Als Assistent von Alfred Andersch arbeitete er in der 1955 neugeschaffenen Abteilung „Radio-Essay“. Zu dieser Zeit lag bereits sein erster Gedichtband Kombinationen (1954, Bechtle Verlag) vor. Als Andersch sich ins Tessin zurückzog, wurde Heißenbüttel 1959 Leiter der Redaktion, die nach Heißenbüttels Pensionierung 1981 aufgelöst wurde. Der strukturierte Rundfunkredakteur und der spielerische, experimentelle Poet, diese beiden auf den ersten Blick völlig disparaten „Personen“ führten in Helmut Heißenbüttel eine Art Parallel-Existenz.

Bisweilen hat Heißenbüttel auch seine Neigung zum Unkonventionellen übertrieben. In seinem 1971 preisgekrönten Hörspiel Zwei oder drei Portraits ließ er Patience-Karten über die Reihenfolge der montierten Textfragmente entscheiden. Weiterhin entstanden anspruchsvolle Photographien, Zeichnungen und Collagen. Heißenbüttel pflegte während seiner Stuttgarter Zeit enge Verbindungen zur Kunstszene der Neckar-Metropole. Außerdem gehörte er bis zur Auflösung auch der legendären Gruppe 47 an.

In seinen letzten Lebensjahren war es ruhig geworden um Heißenbüttel, der nach seinem zweiten Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt war. 1987 beklagte er in seinem Textbuch 11, dass „er aus der Mode gekommen“ sei. Dabei hat es eine wirkliche Heißenbüttel-Mode wohl nie gegeben, doch als experimentierendes Unikum ist ihm ein fester Platz in der deutschen Nachkriegsliteratur sicher. „Die Texte Helmut Heißenbüttels lesend, habe ich die Erfahrung gemacht, daß die sich bei ihm markierenden literarischen Sprachgrenzen widerrufbare, provisorische Grenzen in einem Gelände sind, das von ihm in folgerichtiger Kühnheit, in kühner Konsequenz wieder und wieder neu abgesteckt und verändert wird“, hatte sein Dichterfreund Karl Krolow 1969 in seiner Laudatio zum Georg-Büchner-Preis erklärt. Am 19. September 1996 ist Helmut Heißenbüttel, eine absolut singuläre Stimme in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit, in seinem Wohnort Glückstadt im Alter von 75 Jahren gestorben.

Eine vorzügliche Einführung in Leben und Werk von Helmut Heißenbüttel („Sammler und Erfinder“) aus der Feder von Thomas Combrink ist 2011 im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Pünktlich zum 100. Geburtstag sind seine „Textbücher 1-6“ neu aufgelegt worden.
Das Literaturhaus Stuttgart veranstaltet in Zusammenarbeit mit SWR2 am 26. Juni ab 16.30 Uhr eine Heißenbüttel-Hommage. Der Livestream ist kostenlos zu sehen unter: https://www.literaturhaus-stuttgart.de/event/sage-ich-du-zu-mir-oder-sie-4975  .
Der NDR sendet am 22. Juni um 20 Uhr ein einstündiges Feature von Elke Heinemann, in dem Heißenbüttels 2013 verstorbene Witwe Ida zu Wort kommt und in dessen Mittelpunkt das letzte Wohnhaus im kleinen Dorf Borsfleth steht.

Titelbild

Thomas Combrink: Sammler und Erfinder. Zu Leben und Werk Helmut Heißenbüttels.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
250 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835309753

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Titelbild

Helmut Heißenbüttel: Textbücher 1-6.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
300 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608984613

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